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1 Begriffsbestimmungen, Problematisierung und Systematisierung

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Zwei wesentliche Quellen münden in den aktuellen Strom der Eltern-Kind-Interaktionsbeobachtung.

Entwicklungsdiagnostik als erste Quelle

Den ersten Quell bildet die auf eine lange Tradition zurückreichende Entwicklungsdiagnostik. Im deutschsprachigen Raum war hinsichtlich der Methode der Verhaltensbeobachtung der von Charlotte Bühler und Hildegard Hetzer 1932 publizierte Kleinkindertest (Bühler & Hetzer, 1932) ein erster Meilenstein. Durch eine 24-stündige Dauerbeobachtung des Verhaltens von Kindern unter sechs Jahren wurden diagnostisch wichtige Beobachtungsdaten generiert. Bis zum heutigen Tag verweisen die Autorinnen und Autoren von Entwicklungstests (im Überblick z. B. Esser & Petermann, 2010, Kastner-Koller & Deimann, 2009) auf die Bedeutung der Verhaltensbeobachtung während der diagnostischen Untersuchung insbesondere im Kleinkindalter, da sie oftmals die einzige Möglichkeit darstelle, »Einblick in die Kompetenzen des Kindes zu erlangen, solange das Sprachverständnis die Befolgung von Testinstruktionen noch nicht erlaubt und die expressive Sprache, aber auch die kognitiven Fähigkeiten ein diagnostisches Interview noch nicht ermöglichen« (Kastner-Koller & Deimann, 2009, S. 98).

Familiendiagnostik als zweite Quelle

Die Notwendigkeit von Verhaltensbeobachtung in der Entwicklungsdiagnostik begründet sich jedoch nicht allein aus der Einschränkung der symbolischen Kommunikation im frühkindlichen Alter. Sie gewinnt als entwicklungsdiagnostische Methode auch zunehmend an Bedeutung, weil sie den Zugang zu komplexen, qualitativen und dynamischen Aspekten (wie z. B. der Affektivität des Kindes und dessen sozialer Kommunikationsfähigkeit) verspricht. Bei den damit verbundenen Fragestellungen besteht eine Schnittmenge zwischen der Entwicklungsdiagnostik und der zweiten Quelle der Verhaltensbeobachtung. Diese wird durch die Familiendiagnostik gebildet, zu deren Repertoire die Interaktionsbeurteilung seit den 1980er Jahren gehört. Heute gängige Entwicklungstheorien gehen systematisch davon aus, dass sich die menschliche Persönlichkeit in sozialen Beziehungen entfaltet. Diese Ansicht fußt auf einer langen Tradition (Kreppner, 2005), welche durch die Entdeckung und den Ausbau der systemischen Perspektive einen großen wissenschaftlichen und methodologischen Auftrieb erhielt (Gloger-Tippelt & Reichle, 2007). Der Hinwendung zur Familie als Sozialisationsinstanz (z. B. Bronfenbrenner, 1974, 1981) folgten Versuche, familiäre Kommunikation zu diagnostizieren (ältere Literatur referiert beispielsweise Brunner, 1984, eine Zusammenschau jüngerer Literatur bieten z. B. Cierpka, 2008 und Schneewind, 2005). Rasch wurde deutlich, dass Familiendiagnostik verschiedene Ebenen miteinander verknüpfen muss (Belsky, 1981; Kreppner, 1984), indem das kindliche – entwicklungspsychologisch determinierte – kommunikative Verhalten in Bezug gesetzt wird zur elterlichen – auf das Kind bezogenen – Kommunikation und dies hinsichtlich Qualität, Quantität, Dynamik und Performanz. Letztendlich erkannte man, dass es sich bei der wissenschaftlichen Beschreibung und möglichst objektiven Abbildung von Eltern-Kind-Kommunikation um hoch komplexe und dynamische Vorgänge handelt. Dies dürfte auch einer der Hauptgründe dafür sein, weshalb es bis heute so zahlreiche diagnostische Versuche und Instrumentarien in diesem Bereich gibt.

Einen wissenschaftlich-methodischen Schub bekam die Familiendiagnostik zu Beginn der 1990er Jahre durch die Möglichkeit, kommunikatives Handeln praktikabel und kostengünstig zu videografieren. Damit schien das gesamte kommunikative Verhaltensrepertoire der Diagnostik zugänglich zu werden. Zugleich jedoch vermehrte sich auch die Menge der beobachtbaren Items und Daten exponentiell. Die Auswertung solcherart Interaktionsbeobachtungen verlangte demzufolge wiederum ein Mehr an Systematik und Verdichtung. Bis heute ist diese Entwicklung nicht abgeschlossen. Für die Praxis jedoch ergibt sich ein Dilemma: Wie kann es gelingen, im Dschungel der Vorgehensweisen und im Dickicht der Interaktionsbeobachtungsinstrumente das für die jeweilige Fragestellung Passende auswählen? Um dies ein wenig zu erleichtern, wurde dieses Buch – nicht zuletzt der selbst erfahrenden Not des Autors geschuldet – verfasst.

Nachfolgend wird nun zunächst der Versuch unternommen, einige zentrale Begriffe zu definieren und ggf. so zu problematisieren, dass die anschließenden Erläuterungen des diagnostischen Potentials von Interaktionsbeobachtung für die Lesenden plausibel nachvollziehbar werden.

Kommunikation

Der Begriff der »Kommunikation « wird im Allgemeinen als ein Prozess des Informationsaustausches verstanden. Menschliche Kommunikation ist demnach der Informationsaustausch zwischen Menschen. Interaktives Verhalten kann unter der Perspektive der Kommunikation als informationsaustauschendes, psychisch reguliertes Handeln zwischen Personen beschrieben werden. Es »beinhaltet die durch Zeichen vermittelte Abbildung von Bedeutungen zwischen Individuen. Damit ermöglicht sie die Weitergabe menschlicher Erfahrungen in und zwischen den Generationen« (Hiebsch & Vorwerg, 1980, S. 275).

Kommunikation ist der Informationsaustausch von Personen, die zueinander in einer sozialen Beziehung stehen, wenn sie durch mindestens ein stabiles Interaktionsmuster miteinander verbunden sind.

Interaktion

Interaktionen werden Sprach- oder andere Handlungen von zwei oder mehr Personen genannt, die sich unmittelbar aufeinander beziehen (Richtungs- und Zielbezug; vgl. z. B. Bales, 1972). Diese Handlungen sind operationalisierbar, mithin beobachtbar. Sie sind praktisch »bezogenes Handeln«. Sie lassen auf die Beziehungsschemata der Beteiligten schließen und, bei einer größeren Stabilität und Konsistenz, auf deren Beziehungseinstellungen.

Unter einem Interaktionsmuster werden wiederkehrende in zentralen Merkmalen ähnliche Handlungen oder Handlungsketten verstanden, die Beobachterinnen und Beobachter auf eine Beziehung zwischen den Akteuren schließen lassen. Die Definition von Ähnlichkeit bzw. die Überschreitung der Grenze zur Unähnlichkeit wäre eine Anforderung an die Konstrukteure und Konstrukteurinnen von interaktionsdiagnostischen Instrumenten.

Beziehung

Beziehung ist ein Konstruktbegriff, der sich in seinem Konstruktcharakter von der beobachtbaren, damit auch operationalisierbaren »Interaktion« unterscheidet. Welches theoretische Konzept (Konstrukt) von »Beziehung« in das jeweilige interaktionsdiagnostische Instrument einfloss, sollte in der Publikation expliziert werden.

Beziehung ist nicht statisch zu verstehen, auch wenn Begriffe wie »Muster« oder »Einstellung« eine relative Stabilität suggerieren. Ein Konzept, das der Dynamik im wechselseitigen interaktiven Geschehen gerecht zu werden verspricht, scheint das der »Wieder-Herstellung von Passung« zu sein. Darauf verweisen Thomas und Chess (1977), die ein kumulatives und wechselseitiges Verhältnis von Anlage- und Umweltfaktoren postulieren und auf »den ursprünglich von Henderson (1913) vorgeschlagenen Begriff der Übereinstimmung (›goodness of fit‹)« zurückgreifen (Resch, 2004, S. 37).

Will man diesem Konzept folgend Beziehung erkennen und beschreiben, muss es gelingen, nicht nur die Fits oder Misfits (Largo & Benz-Catellano, 2004) zu erfassen, sondern Beziehung als ein dynamisches autopoietisches System (im Sinne Luhmanns, 1984) als »Match-Mismatch-Repair-Circle« (Tronick, 2007) zu verstehen und abzubilden. Mechthild und Hanouš Papoušek entwickelten diesen Ansatz bereits im Jahr 1990. Mechthild Papoušek baut ihn – nach dem Tode ihres Mannes – bis zum heutigen Tag aus (z. B. Papoušek, 1999) und stellt immer wieder eine Kompatibilität zu neueren Forschungsergebnissen und Paradigmen her (Papoušek, 2004; Papoušek, 2015).

Beziehungseinstellung steht für die allgemeine stabile Haltung einer Person zu Beziehungen. Auf sie ist zu schließen mit Hilfe des explorierenden Gesprächs sowie über die Erfassung von Interaktionsmustern (vgl. auch Asendorpf, Banse & Neyer, 2017).

Interaktionsbeobachtung

Die Arbeitsdefinition der hier gemeinten Interaktionsbeobachtung umfasst die Beobachtung und Beurteilung von bezogenem (interpersonalem) Verhalten.

Kommunikationsbeobachtung bezieht sich demzufolge auf die Beobachtung und Bewertung einer Teilmenge interaktiven Verhaltens, nämlich dem Verhalten, das dem Informationsaustausch der Beteiligten dient.

Mithilfe der Interaktionsbeobachtung soll also nicht nur Verhalten beobachtet werden, sondern auch aus beobachteten interaktiven Handlungen Schlüsse auf Beziehungsmerkmale und von diesen wiederum auf die grundlegende dyadische Beziehung (z. B. auf den Bindungscharakter) oder auf Kompetenzen zur Interaktionsgestaltung der Akteure (z. B. Feinfühligkeit) gezogen werden. Wie bedeutsam die Wahl des theoretischen Rahmens für die Schlussprozesse ist, betonen beispielsweise Gloger-Tippelt und Reichle (2007, S. 402) mit Verweis auf die Heuristik des Bindungskonzeptes nach Bowlby.

In der Praxis ist sehr exakt darauf zu achten, ob es sich bei den Interaktionsbeschreibungen um beobachtbares Verhalten oder bereits um Zuschreibungen/ Deutungen handelt. So wird beim CARE-Index, der in Kapitel 4 vorgestellt wird, beispielsweise versucht einzuschätzen, welche Funktionalität das kindliche Verhalten hat. Streng genommen ist dies bereits ein Schlussprozess, der in vielen Urteilsbildungen jedoch nicht entsprechend expliziert wird, obwohl sich damit sprunghaft der Grad von Subjektivität in der Beurteilung erhöht.

Einige interaktionsbeobachtende Instrumente erfüllen den Anspruch, nicht nur interpersonale (speziell kommunikative) Handlungen zu erfassen, sondern auch Schlussprozesse auf Handlungsmuster sowie auf diesen zugrunde liegende Einstellungen und Repräsentationen vorzunehmen. Dies ist für die Praxis von größtem Interesse, denn was soll man mit streng ausgezählten rein beobachtbaren Daten, wie z. B. den »Blickkontakten des Kindes zum Elternteil je Minute« anfangen, wenn ihnen kein inhaltliches Referenzsystem zur Verfügung steht?

Analysiert man die bisher vorliegenden Instrumente, so scheint es am angemessensten, die Beobachtungskategorien zur Einschätzung der Eltern-Kind-Interaktionen nach zwei Gesichtspunkten zu ordnen:

1. nach der Funktionalität der Interaktion möglichst aus vier Perspektiven: Kind, Elternteil, Elternteil-Kind sowie Elternbeziehung.

Der hier gemeinten Einschätzung von Funktionalität des interaktiven Verhaltens liegt bereits ein erster Deutungsprozess des Diagnostikers zugrunde. Daher ist es methodisch und psychologisch sinnvoll und erforderlich, diesen ersten Schlussprozess mit Hilfe eines Bewertungsinstrumentes auch plausibel4 zu begründen und methodisch so zu gestalten, dass eine möglichst große Übereinstimmung der Beurteilenden bezüglich Validität und Reliabilität erzielt wird.

2. Differenzierung der Kategorien zur Interaktionsbeobachtung unter formalen Gesichtspunkten

Diese beiden Aspekte der »Funktionalität« und der »formalen Operationalisierung« werden im folgenden Abschnitt in einer ersten Annäherung – und zwar jeweils geordnet nach der Perspektive »Kind«, »Eltern«, »Eltern-Kind-Beziehung als Entität« und »Elternbeziehung« – überblicksartig dargestellt. Auf diese Weise sollen die Lesenden die Möglichkeit erhalten, die dann im zweiten Teil folgenden inhaltlichen Bewertungen bei der Skizzierung einzelner Verfahren besser nachvollziehen zu können. Am Ende des 4. Kapitels ( Kap. 4.3) wird schließlich eine synoptische Betrachtung der Facetten und Indikatoren der ausgewerteten Beobachtungsinstrumente vorgestellt, die als Grundlage für weitere Forschung aber auch bereits zur praktischen Nutzung als eine Art Checkliste verwendet werden könnte ( Anlage 1).

Interaktionsbeobachtung von Eltern und Kind

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