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4 Jean-Jacques Rousseau – Natürliche Erziehung

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Eigengesetzlichkeit der kindlichen Entwicklung

Kristallisationsfäden und erziehungstheoretische Denkfiguren prägen die Pädagogik in besonderer Weise. Einer dieser Kristallisationsfäden ist eng mit dem Namen Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) verbunden, der wirkungsgeschichtlich von großer Relevanz ist. Mit ihm klingt die Sehnsucht nach Natürlichkeit und der guten Menschennatur nach. Kennzeichnend ist die Betonung der Eigengesetzlichkeit der kindlichen Entwicklung. Rousseau verleiht ihr mit dem pädagogischen Prinzip der Selbsttätigkeit Gewicht. Zugleich verwahrt er diese Eigengesetzlichkeit gegen gesellschaftliche Überformung und setzt auf eine natürliche Erziehung, die die unterschiedlichen Entwicklungsphasen berücksichtigt und dem Erziehenden das Maß seines Tuns diktiert. Der Mensch reift heran, der Erzieher hat diese Reifungsprozesse zu unterstützen.

„Jedes Alter, jeder Lebensstand hat seine ihm eigene Vollkommenheit, seine ihm eigene Art von Reife.“ (ROUSSEAU 1762/1963, S. 340)

natürlicher Reifungsprozess

Es ist ein Verdienst Rousseaus, die Aufmerksamkeit auf Kindheit und Jugend als vom Erwachsenenalter unterschiedene Reifezeiten gelenkt zu haben. Rousseau „erfindet“ gewissermaßen das Kind und den Jugendlichen als Objekt der pädagogischen Reflexion und Bearbeitung. In der Konzeption von Rousseau ist das Kind kein unreifer und defizitärer Erwachsener, sondern ein Wesen, das seine vollkommene Gestalt und Reife bereits in sich trägt (vgl. BLANKERTZ 1982, S. 73). Er bedarf einer seiner Entwicklung angemessenen Erziehung und dieser natürliche Reifungsprozess kann nicht beschleunigt werden. Das erscheint uns heute selbstverständlich; im 18. Jahrhundert aber gilt Kindheit nicht als eine eigene Lebensphase mit besonderen Gesetzen und Rechten.

Für die Pädagogik hat vor allem Rousseaus Erziehungsroman „Émile ou De l’éducation“ aus dem Jahre 1762 eine große Wirkung. Dieser Roman ist als ein Gedankenexperiment konzipiert – Rousseau legt hier, gewissermaßen unter „Laborbedingungen“, einen theoretischen Entwurf zur Herstellung eines glücklichen, sittlichen und vernünftigen, aber fiktiv idealen Menschen vor, exemplarisch ausgerichtet an einem „imaginären Schüler“ mit bestimmten Kenntnissen und Begabungen (vgl. ROUSSEAU 1762/1963, S. 134). Dabei betont Rousseau den Projektstatus seiner Erziehungskonzeption:

„Sobald also die Erziehung zur Kunst wird, ist es nahezu unmöglich, daß sie gelingt, da das zu ihrem Gelingen notwendige Zusammenwirken nicht in der Hand des Menschen liegt. Das einzige, was man durch Bemühungen erreichen kann, ist, dem Ziel mehr oder weniger nahe zu kommen, aber man muß Glück haben, um es zu erreichen.“ (ROUSSEAU 1762/1963, S. 110)

Befreiung des Menschen

Der leitende Gedanke ist die Erziehung durch die Natur, und es gilt, angesichts eines Zustands der Entfremdung die natürlich-sittliche Eigentlichkeit des Menschen in einer natürlichen Erziehung zu wahren. Die Befreiung des Menschen aus dem entfremdeten Zustand durch die Erziehung erfolgt unter Rückgriff auf die menschliche Natur und ihren Gesetzen, die als Ausdruck seiner Freiheit auf die Möglichkeit verweist, einen nicht entfremdeten Anfang zu schaffen. Erziehung erhält die Aufgabe, diesen natürlichen Grund der Freiheit vor der Entfremdung zu schützen.

Säkularisierung

Rousseaus Denken wurzelt in den Säkularisationsdiskussionen seiner Zeit, die die Entwürfe der Theologie durch anthropologische und geschichtsphilosophische Ansätze zu kompensieren trachten. So nimmt er in seinen Schriften beispielsweise zu Fragen des Naturrechts, der Theodizee, nach dem Fortschritt der Menschheit, der Freiheit des Menschen und eben auch nach der Ermöglichung des Menschen durch Erziehung Stellung. Rousseau bezieht die Erziehung dabei nicht auf die gesellschaftlichen Traditionen und Strukturen, sondern einzig auf den Menschen.

Menschsein

„In der natürlichen Ordnung, wo die Menschen alle gleich sind, ist das Menschsein ihr gemeinsamer Beruf. Und wer immer zum Menschsein erzogen wurde, kann nicht fehlgehen in der Erfüllung aller Aufgaben, die es verlangt. Ob mein Zögling zum Waffenhandwerk, zum Dienst an der Kirche oder zur Juristerei bestimmt ist – das ist mir ganz gleichgültig. Vor der Bestimmung der Eltern fordert ihn die Natur für das menschliche Leben. Leben ist der Beruf, den ich ihn lehren will. Aus meinen Händen entlassen, wird er – und ich bin damit einverstanden – weder Beamter noch Soldat, noch Priester, er wird in erster Linie Mensch sein. Notfalls wird er, was ein Mensch sein muß, genau so gut können wie jeder andere, und mag das Schicksal ihm auch einen andern Platz zuweisen – immer wird er den ihm bestimmten behaupten.“ (Ebd., S. 116)

Discours über die Wissenschaften

Berühmt wird Rousseau mit seiner provokanten Antwort auf die von der Akademie Dijon ausgeschriebene Preisfrage, „ob die Neubelebung der Wissenschaften und Künste dazu beigetragen habe, die Sitten zu läutern“ (ROUSSEAU 1750/21976, S. 23). In seinem ersten „Discours über die Wissenschaften und Künste“ verneint er diese Frage entschieden und gewinnt mit dieser unerwarteten Einlassung den Preis der Akademie. Leidenschaftlich vertritt Rousseau die These, dass die Kultur erst die Probleme schafft, die sie mit Hilfe der Wissenschaften zu lösen trachtet.

„Allmächtiger Gott, der du Gewalt hast über die Geister, erlöse uns von den Erkenntnissen und den unseligen Künsten unserer Väter und gib uns die Unwissenheit, die Unschuld und die Armut zurück, die einzigen Güter, die uns zum Glück gereichen können und die Wert vor dir haben.“ (Vgl. ROUSSEAU 1750/21976, S. 44)

Die Preisschrift zeigt sich als eine ausdrucksstarke Auseinandersetzung mit der Frage nach Wissen und Gewissen, nach der Verbindung von Wissenschaft, Kunst und Tugend, wobei gerade die zivilisatorischen und kulturellen Fortschritte als Ausgangspunkt für den diagnostizierten moralischen Niedergang herangezogen werden.

„Hier aber ist die Wirkung gewiß, nämlich der tatsächliche Verfall der Sitten, und unsere Seelen haben in dem Maße Schaden genommen, in dem unsere Wissenschaften und unsere Künste sich der Vollkommenheit genähert haben.“ (Ebd., S. 30)

Rousseaus politische Schriften sind auf Grund ihrer oppositionellen Haltung gegenüber tradierten Staats- und Gesellschaftsformen späterhin bedeutend für die Französische Revolution.

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