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2.2 Was ist eine Wissenschaft?

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Wissenschaft als Zugang zur Welt

Pädagogik ist als universitäre Disziplin mit eigenem Hauptfach eine noch sehr junge Wissenschaft. Aber was kennzeichnet Pädagogik als Wissenschaft überhaupt? Eine Wissenschaft ist eine an allgemeinen Aussagen orientierte Deutungsweise von Mensch und Welt, die unter Verwendung eigener, möglichst differenzierter Sprachformen einen „reflexiven Vorrang“ gegenüber anderen Zugängen zur Welt hat (vgl. CASSIRER 1944/22007, S. 315–335).

Mit „Wissenschaft“ ist die Intention verbunden, Phänomene und Zusammenhänge verstehbar und erklärbar zu machen. Sie formuliert Wissen über einen Gegenstandsbereich, wobei ihre Herangehensweise in der Regel methodisch gelenkt ist. Insgesamt orientieren sich Wissenschaften an Denkstilen, Theorierichtungen und Paradigmen; sie versuchen, Gewissheiten zu begründen und Ordnungen zu schaffen. Dabei dominiert der Eindruck, dass über Revisionsprozesse eine stetige Weiterentwicklung hin zu neuen Theorien möglich ist, die die „Wirklichkeit“ adäquater erfassen und erklären können. Wissenschaft erscheint somit als eine fortschreitende Annäherung an die so genannte Wahrheit. Dazu Karl Popper (1902–1994):

„Wenn man die Entwicklung der Wissenschaft näher betrachtet, so findet man wohl, daß wir zwar nicht wissen, wie nah oder wie weit entfernt von der Wahrheit wir sind, daß wir aber immer näher und näher an die Wahrheit herankommen können und das auch tun.“ (POPPER 1995, S. 177)

Zur Verdeutlichung greift Popper auf historische Beispiele zurück:

„Die These, daß das hier vorgeschlagene Kriterium den Fortschritt der Wissenschaft tatsächlich bestimmt, kann an Hand historischer Beispiele leicht illustriert werden. Die Theorien von Kepler und von Galilei wurden vereinigt und überholt durch Newtons logisch stärkere und besser prüfbare Theorie […].“ (Ebd., S. 160)

Wissenschaft als Prozess des Fortschritts

Wissenschaftsentwicklung ist für Popper ein Fortschrittsprozess, in dem vorhandene Theorien kontinuierlich durch solche ersetzt werden, die mehr oder andere Aspekte der Lebenswelt erklären können. Der US-amerikanische Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn (1922–1996) findet dagegen eine andere Erklärung für das Verständnis von Wissenschaften und die Nachweise wissenschaftlicher Erkenntnisse. Mit dem Erscheinen seines Buches „The structure of Scientific Revolutions“ aus dem Jahre 1962 werden wissenschaftliche Fortschrittserzählungen im Sinne einer fortlaufenden Ergänzung von Wissen fragwürdig. Kuhn zeigt auf, dass die wissenschaftliche Darstellung von Erkenntnissen und Faktoren beeinflusst wird, die auf den ersten Blick gar nichts mit Wissenschaft zu tun haben.

Nachweise wissenschaftlicher Erkenntnisse

Er weist nach, dass Mensch und Welt in der Deutung wissenschaftlicher Konzepte und Annahmen miteinander konkurrieren und es letztendlich eine Frage von Geltungskriterien, Machtpraktiken und Anerkennung ist, welche Deutung am Ende maßgeblich sein wird.

Wenn sich ein wissenschaftlicher Ansatz durchsetzt, wird er zum so genannten Paradigma, also zu einer disziplinären Matrix der Deutungen, der fortan alle Ergebnisse und Denkansätze einer wissenschaftlichen Disziplin einverleibt werden.

Paradigma

„Ein Paradigma“ so erläutert Kuhn, „ist das, was den Mitgliedern einer wissenschaftlichen Gemeinschaft gemeinsam ist, und umgekehrt besteht eine wissenschaftliche Gemeinschaft aus Menschen, die ein Paradigma teilen“ (KUHN 1962/41979, S. 187). Die Wissenschaftler verbindet also eine bestimmte Sicht auf die Dinge, sie teilen bestimmte Praktiken des Forschens, haben eine verwandte Ausbildung, die sich auf die gleiche Fachliteratur stützt, pflegen eine enge Kommunikation in der Gemeinschaft, gehen von gleichen Voraussetzungen aus und haben übereinstimmende Auffassungen über eine Reihe von Themen. So gesehen ist ein Paradigma eine Art wissenschaftliche Lebensform. Am Beispiel Galileis lässt sich dies aufzeigen: Galileo Galilei (1564–1642) weist zu Beginn des 17. Jahrhunderts nach, dass sich nicht die Sonne um die Erde dreht, sondern die Erde um die Sonne. Zur Zeit Galileis gilt das geozentrische Weltbild als unumstößliche Tatsache. Mit der Beobachtung der Jupitermonde stellt Galilei dieses Weltbild in Frage und lässt die Vertreter der römischen Kurie durch sein Fernglas blicken, um diese Beobachtungen nachzuvollziehen. Doch diese lassen sich nicht überzeugen, weil dieser Weg, Wissen zu begründen, nicht anerkannt ist. Das geozentrische Weltbild ist zur Zeit Galileis ein Paradigma und wirkt unumstößlich, da es aufs Engste mit der Wahrnehmung und Deutung der Welt verwoben ist.

Paradigmenwechsel

Nun gibt es radikale Veränderungen in der Wissenschaft, die die Deutung von Welt und Wissenschaft auf den Kopf stellen. Solche radikalen Veränderungen bezeichnet Thomas S. Kuhn als Paradigmenwechsel:

„Es gibt Perioden – die ausgeprägtesten und am leichtesten erkennbaren Beispiele sind das Auftreten der Kopernikanischen, der Darwinschen oder der Einsteinschen Theorie –, in denen eine wissenschaftliche Gemeinschaft ein altehrwürdiges Weltbild und eine altehrwürdige Wissenschaftsform aufgibt und zu einem anderen, gewöhnlich damit unvereinbaren Ansatz übergeht. […] Im Gegensatz zu einer vorherrschenden Auffassung sind die meisten Entdeckungen und Theorien in den Wissenschaften keine bloßen Ergänzungen des bestehenden Wissensbestandes. Um sie einzubauen, muß der Wissenschaftler gewöhnlich sein bisheriges theoretisches und praktisches Rüstzeug umordnen, Teile davon aufgeben und neue Bedeutungen und Beziehungen zwischen vielen anderen erkennen. Da das Alte bei der Aufnahme des Neuen umbewertet und umgeordnet werden muß, sind Entdeckungen und Erfindungen in den Wissenschaften im allgemeinen grundsätzlich revolutionär.“ (KUHN 1978, S. 309f.)

Die Radikalität und die Unvereinbarkeit neuer wissenschaftlicher Orientierungen führen zu anderen Sichtweisen; nicht nur, dass das Dargestellte in der Wahrnehmung unvereinbar ist, es wird auch grundsätzlich Verschiedenes wahrgenommen (vgl. KUHN 1962/41979, S. 125–127). Wissenschaften produzieren also nicht nur Wissen, sondern deuten das Verhältnis von Mensch und Welt; sie stiften Sinn, sie entscheiden, was wahr oder falsch ist, was in den Blick gerät und was nicht, was sichtbar wird und was unsichtbar bleibt.

Formen von Wahrheitserzeugungen

Akademische Gewissheiten und Ordnungen ruhen nicht von selbst in der Welt, sondern werden nach den jeweils geltenden wissenschaftlichen Regeln gebildet um sinnvolle Deutungen zu ermöglichen. Allerdings sind diese Deutungen an ihre Zeit und Kultur, an die Weise, wie Menschen zusammenleben und an die Formen ihrer Wahrheitserzeugungen gebunden. Wissenschaften arbeiten also auf Grundlage von Voraussetzungen, Lebensformen und Weltbildern, die nicht einholbar sind. Das alles muss bedacht sein, damit sich das Denken und Forschen nicht in einer selbstverständlichen Naivität der Gewissheiten verfängt. Auch für die Pädagogik lassen sich solche zentralen Deutungen sowie Paradigmenwechsel nachweisen. Es ist ein großer Unterschied, ob der Mensch als „Gottesknecht“ oder „Selbstliebhaber“ (vgl. RUHLOFF 1993) betrachtet wird, ob die Welt und ihre Ordnung als von Gott geschaffen gelten oder durch den Menschen geordnet oder gar konstruiert.

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