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4.5 Die Phasen der Erziehung und ihre Aufgaben
ОглавлениеDie drei „Lehrer“ Mensch, Natur und Dinge sind mit unterschiedlicher Gewichtung auf die Entwicklungsphasen des Zöglings verteilt. Die Erziehung beginnt negativ, sie schützt das Kind zunächst vor Entfremdungsprozessen. Das meiste lernt der Zögling durch den Gebrauch der Dinge, die Auseinandersetzung mit einer widerständigen Welt und das selbständige Tun.
Erziehungsphase Kindheit und Jugend
Rousseau unterscheidet die Kindheit als Alter der Natur (bis 15 Jahre) von der Jugend als Alter der Vernunft (15 bis 25 Jahre). Während die Kindheitsphase durch äußere Einflüsse bedroht wird, findet die Bedrohung in der Jugendzeit von innen – durch Leidenschaften und Triebe – statt. „Stärke“ und „Schwäche“ sind dabei für Rousseau Grundrelationen. Ziel ist, das Kind und den Menschen „stark“ zu machen, um das Gute in ihm zu bewahren (vgl. ROUSSEAU 1762/1963, S. 166). Mit der fortschreitenden Entwicklung wandelt sich die erzieherische Ausrichtung und führt zu größerer Eigenständigkeit mit dem Ziel, dass der Heranwachsende der Autorität seiner Vernunft folgen kann.
In der Kindheit steht vor allem die Sinnlichkeit im Vordergrund, die die Grundlage des späteren Vernunftgebrauchs im Jugend- und Erwachsenenalter ist. Die Natur ist das Maß und gibt den Weg vor, dem aufmerksam zu folgen ist.
„Die Sinne sind die ersten Fähigkeiten, die sich in uns bilden und vervollkommnen. Also sind sie auch die ersten, die gepflegt werden müssen;[…] Die Sinne üben heißt nicht nur, sie gebrauchen, sondern lernen, durch sie alles wohl abzuwägen, beurteilen, es heißt sozusagen fühlen zu lernen, denn wir können nicht anders fühlen, sehen oder hören, als wir es gelernt haben. […] Übt also nicht allein die Kräfte, übt alle Sinne, durch die sie gelenkt werden; nutzt sie alle so gut wie möglich aus, und dann überprüft den einen Sinneseindruck durch den anderen.“ (ROUSSEAU 1762/ 1963, S. 289)
Das Kind ist zunächst schwach und bedarf der Hilfe. Seine Wünsche sind weitaus größer als seine Kräfte und Fähigkeiten. In der Folge der Entwicklung befinden sich Stärken und Schwächen, Fähigkeiten und Wünsche dann in einem Gleichgewicht, bis schließlich zunehmend ein Überschuss an Stärke und Fähigkeit in Relation zu den Bedürfnissen entsteht.
Selbstliebe wird allgemeine Menschenliebe
Die Jugend wird im Emile als zweite Geburt bezeichnet. „Wir werden sozusagen zweimal geboren: einmal, um zu existieren, das andere Mal, um zu leben.“ (ROUSSEAU 1762/1963, S. 438) Auf der Grundlage der ersten Entwicklungsphase wird vernünftiges Denken, Handeln und Urteilen erlernt. Der Heranwachsende beschäftigt sich mit unterschiedlichen Themen, wie Religion und Politik. In dieser Phase der Entwicklung macht sich Rousseau das nun entstehende Empfinden der Liebe im Zögling zunutze. Mithilfe der Vernunft sollen die Leidenschaften regiert werden. In der Entwicklung fortschreitend lernt Emile soziale Bindungen und Vorstellungen des sozialen Lebens kennen, allerdings nicht als Gegenstand eigener Erfahrung. Die Selbstliebe wird über die Erziehung zum Mitgefühl zur allgemeinen Menschenliebe erweitert (vgl. RUHLOFF 1993, S. 178). Als junger Erwachsener schließlich begegnen Emile Menschen und Gesellschaft in ihrem tatsächlichen Wirken. Er verliebt sich in Sophie und tritt in den Bund der Ehe. Er erfährt die gesellschaftlichen Widersprüche und fragt nach der Möglichkeit einer gerechten Gesellschaftsordnung. Nach etwa 25 Jahren ist das Werk der Erziehung vollbracht. Emile gilt als erwachsen und wird selbst zum Unterstützer autarker Menschen und einer besseren Ordnung.
anthropologische Dualität des Menschen
Die Trennung der einzelnen Entwicklungs- und Reifephasen in Rousseaus Emile sind entwicklungstheoretisch nur bedingt plausibel (RANG 21991, S. 131). Sie verdeutlicht vor allem den Gedanken des Reifens von Kindheit und Jugend als pädagogische Entwicklung. Zudem enthält die Konzeption Rousseaus eine anthropologische Dualität des Menschen, die die Sinnlichkeit und die Vernünftigkeit zunächst trennt, um ihren Zusammenhang zu verdeutlichen: Die Sinnlichkeit wird zur Grundlage jeden vernünftigen Denkens.
Befreiung des Menschen zum Menschen
Als Ziel der Rousseauschen Erziehungstheorie kann die Befreiung des Menschen zum Menschen gesehen werden. In der Frage nach der Erziehung des Menschen setzt Rousseau bei der ursprünglichen Natur und der zivilisatorischen Verkehrung der menschlichen Eigentlichkeit an. Ihm geht es darum, der Natur des Menschen zur Wirksamkeit zu verhelfen und an der gesellschaftlichen Verbesserung zu arbeiten. Dabei steht Erziehung bei Rousseau in der Spannung von öffentlicher und privater Erziehung, von Selbstliebe und Eigenliebe, Macht und Freiheit, Individuum und Gesellschaft, positiver und negativer Erziehung, Anpassung und Autonomie. Diese Spannungen verweisen auf eine dialektische Struktur und sind erzieherisch nicht aufzulösen, jedoch reflektiert zu bedenken und zu behandeln.
„Die Pädagogen können diesen Widersprüchen nicht entgehen, weil genau sie zum Gegenstand neuzeitlich-moderner Erziehung gemacht und den Erziehern als Aufgabe zugeschrieben werden. Erziehung wird seit der Aufklärung als das gesellschaftliche Instrument verstanden, die Widersprüche zu bearbeiten, die sich in der Generationenfolge ergeben.“ (TENORTH 32000, S. 81)