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4.2 Grundlagen der negativen und natürlichen Erziehung

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Theodizee

Die Idee des Naturzustandes steht nicht nur im Kontext der Herausstellung des Naturrechts für den Menschen, sondern auch im Zusammenhang mit der Frage nach der Theodizee. Die Theodizee fragt unter den Bedingungen der göttlichen Geschaffenheit von Welt nach der Ursache des Bösen. Wie kommt das Böse in die Welt, wenn Gott nur gut ist und die Welt ausschließlich sein Werk? Rousseaus Antwort und zugleich der Anfang seines „Emile“ lautet:

„Alles, was aus den Händen des Schöpfers kommt, ist gut; alles entartet unter den Händen des Menschen. Er zwingt einen Boden, die Erzeugnisse eines anderen zu züchten, einen Baum, die Früchte eines anderen zu tragen. Er vermischt und verwirrt Klima, Elemente und Jahreszeiten. Er verstümmelt seinen Hund, sein Pferd, seinen Sklaven. Er erschüttert alles, entstellt alles – er liebt die Mißbildung, die Monstren. Nichts will er so, wie es die Natur gemacht hat, nicht einmal den Menschen. Er muß ihn dressieren wie ein Zirkuspferd. Er muß ihn seiner Methode anpassen und umbiegen wie einen Baum in seinem Garten.“ (ROUSSEAU 1762/1963, S. 107)

Abkehr von Erbsünden- und Heilslehre

Die Erbsünde ist nicht mehr maßgeblich für den Menschen. Da er von Natur aus gut ist – so die Ausgangsüberlegung Rousseaus Erziehungstheorie – muss er nicht erlöst werden. Vielmehr kann er sich selbst erlösen. Dies gerade ermöglicht Erziehung, da sie das Böse verhindern kann und soll. Böse wird der Mensch aufgrund von fehlerhaften Entwicklungsprozessen und negativen gesellschaftlich-zivilisatorischen Einflüssen. Der Gedankengang Rousseaus ist demnach, dass der entartete Mensch auch selbst die Folgen dieser Entfremdung aufheben kann. Vor dem Hintergrund dieser aufklärerischen Abkehr von der Erbsünden- und Heilslehre wird Rousseaus „Emile“ nach seinem Erscheinen von kirchlichen Vertretern verboten. Rousseau reagiert darauf mit einem öffentlichen Brief an den Erzbischof von Paris, in dem er nicht nur das Verhalten der Kirche thematisiert, sondern auch versucht, sein mit dem „Emile“ verfolgtes Anliegen zu erläutern:

„Der Hauptgrundsatz aller Moral, den ich in meinen Schriften befolgt und besonders in diesem letzten Werke ganz auseinandergesetzt habe, lautet, daß der Mensch von Natur gut ist und die Gerechtigkeit und Ordnung liebt, daß das menschliche Herz von Natur nicht verdorben ist […] Ich habe gezeigt, daß alle Laster, welche man dem menschlichen Herzen zuschreibt, ihm nicht natürlich sind, ich habe ihre Entstehungsart gezeigt und sozusagen ihre Genealogie geschrieben und endlich habe ich gezeigt, wie durch die allmähliche Veränderung seiner natürlichen Güte der Mensch das geworden ist, was er jetzt ist […] Mein Buch hatte ich der Untersuchung gewidmet, wie man es anfangen müßte, die Menschen zu hindern, böse zu werden.“ […]

„Ist der Mensch seiner Natur nach gut, so wie ich es bewiesen zu haben glaube, so folgt daraus, daß er so lange gut bleibt, als etwas Fremdes ihn nicht verändert, und sind die Menschen böse, so wie man sich bemüht hat, es mir zu beweisen, so folgt daraus, daß ihre Bosheit einen anderen Ursprung hat. Man versperre also dem Laster den Zugang, und der Mensch wird immer gut bleiben. Auf dieses Prinzip baue ich die negative Erziehung als die beste oder vielmehr die einzig gute. Ich zeige, daß man bei einer positiven Erziehung, welchen Weg man dabei auch einschlage, immer ein ganz anderes Ziel erreicht, als man sich vorgesetzt hat […] Positive Erziehung nenne ich diejenige, welche den Geist vor der Zeit bilden und dem Kinde die Kenntnis der Pflichten des Menschen einprägen will. Negative Erziehung nenne ich diejenige, welche erst die Organe als die Mittel unserer Kenntnisse verfeinern will, ehe man uns Kenntnisse beibringt, und welche zur Vernunft durch die Übung der Sinne erst vorbereitet. Die negative Erziehung ist also bei weitem nicht müßig. Sie gibt keine Tugenden, aber sie kommt dem Laster zuvor, sie zeigt die Wahrheit nicht, sie verhütet aber den Irrtum. Sie bereitet das Kind auf alles vor, womit es das Wahre erkennen kann, sobald es fähig ist, dasselbe zu verstehen, und das Gute, sobald es dasselbe lieben kann.“ (ROUSSEAU 1762/1978, S. 508–510; 518f.)

negative Erziehung

Die negative Erziehung ist also eine indirekt tätige Erziehung und hat die Aufgabe, die Autarkie des Zöglings zu stärken. Dabei erweist sich auch für die Erziehungstheorie Rousseaus der Naturbegriff als tragend. Die Gattung Mensch ist von Natur aus gut, während die tatsächlichen Menschen verdorben sind. Erziehung dient der Wiederherstellung dieser natürlichen Ordnung, ohne dass der Mensch in seinen Naturzustand zurück könnte. Es geht um die Unmittelbarkeit der Stimme der Natur im Menschen (vgl. ROUSSEAU 1755/1984, S. 87).

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