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4.3 Ziele und Praktiken der Erziehung

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Rousseaus Ausgangspunkt ist die Entfremdung und die Zerrissenheit des Menschen. Der Zivilisationsprozess hat den homme de la nature gänzlich verwandelt. Nach Rousseau hat die menschliche Seele im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung eine Umformung fast bis zur Unkenntlichkeit vollzogen. Der Mensch ist entzweit zwischen Natur und Gesellschaft, zwischen innerer Stimme und äußerem Anspruch:

„In fortwährendem Widerspruch zu sich selbst, immer schwankend zwischen Neigung und Pflicht, wird er niemals weder Mensch noch Staatsbürger sein; weder für sich selbst noch für die Umwelt wird er je etwas taugen.“ (ROUSSEAU 1762/1963, S. 113)

natürliche Erziehung

Diese Entzweiung ist auch Resultat einer falschen Erziehung, die den Heranwachsenden in einem Akt der Dressur der entfremdeten äußeren Realität anpasst. Da aber mit jedem neuen Menschen die unverfälschte Natur erneut hervortritt, kann über die natürliche Erziehung eine positive Entwicklung erreicht werden. Aufgabe der Erziehung ist es daher, den von der Natur vorgezeichneten Weg zu beschreiten, um dem Menschen eine natürliche Übereinstimmung mit sich selbst zu ermöglichen. Dadurch kann „Zerrissenheit“ als Ausdruck der Selbstentfremdung verhindert werden. Nicht zufällig verlegt Rousseau seine Stätte erzieherischen Handelns in die pädagogische Provinz, auf das Land. Fernab von gesellschaftlichen und zivilisatorischen Einflüssen kann der Mensch in natürlicher Umgebung heranwachsen. Das Erziehungsziel ist ein Zustand der Autarkie, des Glücks und der Freiheit. Autarkie meint die Stärke des Menschen aus sich selbst heraus, unabhängig von äußeren Bedingungen, zu sein. Sozialisations- und Zivilisationsprozesse entfremden den Menschen von seiner Natur und schwächen ihn, weil er sich von anderen Menschen abhängig macht:

„Der gesellschaftliche Mensch kommt als Sklave zur Welt, lebt und stirbt als Sklave. Bei seiner Geburt zwängt man ihn in eine Wickel, bei seinem Tod nagelt man ihn in einen Sarg. Solange er menschliche Gestalt hat, ist er durch unsere Institutionen gefesselt.“ (Ebd., S. 118)

Autarkie und Glückserfüllung im Gegenwärtigen

Das Glück des Menschen besteht in einer Kongruenz von Bedürfnis und Realisierung, in einer Form des in sich selbst Ruhens. Unglück entsteht, wenn ein Mensch mehr Bedürfnisse und Wünsche hat, als er durch seine Fähigkeiten und seine Lebenssituationen realisieren kann. Kindliche Wünsche müssen stets zu ihren Fähigkeiten passen bzw. auf das Maß kindlicher Kräfte zugeschnitten werden. So dürfen beispielsweise zu Beginn nur die existentiellen Bedürfnisse gestillt werden, anderenfalls würden sie nur weiter gesteigert, ohne dass die Kräfte zur Realisierung gestärkt werden. Von diesem Gedanken aus organisiert Rousseau die Erziehungspraktiken von Autarkie und Glückserfüllung im Gegenwärtigen. „Der wahrhaft freie Mensch will nur das, was er kann, und tut nur, was ihm paßt. Dies ist mein oberster Grundsatz.“ (Ebd., S. 195) Nach Rousseau soll das Kind „seine Schwäche spüren, aber nicht darunter leiden; es soll abhängen, aber nicht gehorchen; es soll bitten, aber nicht befehlen. Nur durch seine Bedürfnisse ist es den andern untergeordnet“ (ebd., S. 196). Damit besteht für Rousseau das kindliche Glück, ebenso wie das Glück der Erwachsenen, „im Gebrauch ihrer Freiheit. Aber die Freiheit der Kinder ist durch ihre Schwäche beschränkt“ (ebd., S. 196).

Rousseau will in erster Linie zum Menschen erziehen, in zweiter Linie – und mit Blick auf seine politischen Schriften – zum Bürger. Unter der Prämisse, dass die Natur des Menschen gut ist, bedarf es keiner „positiven“ herstellenden erzieherischen Praktiken. Das Wachsenlassen des Zöglings steht im Vordergrund, und die „negativen“ Erziehungspraktiken schützen ihn vor den verderblichen Einflüssen der Zivilisation und Kultur.

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