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4.1 Naturrecht und Naturzustand
ОглавлениеÜber den Begriff der Natur entfaltet Rousseau die Kritik an der Gesellschaft und der Kultur seiner Zeit. Gegen den Luxus, die Dekadenz, den Überfluss und die Fassaden von Gesellschaft und Kultur plädiert er für einen Zustand, in dem der Mensch bei sich selbst ist und instinktiv das rechte Leben führt. Jede Vergesellschaftung und Kultur sind für ihn Zeichen der Entfremdung und Entartung. Rousseau geht davon aus, dass der Mensch ein unverlierbares Naturrecht besitzt, das dem positiven, also dem juristischen Recht vorausgeht. Nach dem Verständnis Rousseaus sichert das Naturrecht die Freiheit und Gleichheit aller Menschen (ROUSSEAU 1750/21976, S. 44ff.).
In diesem Zustand lebt der Mensch in einer natürlichen Ordnung, in der sein Gefühl das Maß ist, das Rechte zu tun. Mit der Abkehr von der Ursprünglichkeit, die „aus den geselligen Verhältnissen, aus dem Fortgang der Begriffe und der Bildung des Geistes entspringt“ (ROUSSEAU 1772/1978, S. 421), setzt ein Verfallsprozess ein. Die menschliche Intellektualität zerbricht diese Ordnung und vertreibt ihn aus dem geordneten Naturzustand. Dabei geht es nicht darum, ob es diesen Zustand jemals gegeben hat. Er ist vielmehr eine Vernunftidee und Fiktion, aus der sich Folgerungen und Entscheidungen legitimieren lassen.
Natur als Spiegel göttlicher Vernunft
Für Rousseau ist die Natur Spiegel göttlicher Vernunft, ein Paradies, aus dem der Mensch durch den kulturell-zivilisatorischen Sündenfall vertrieben worden ist. Sie steht für das Wahre und Schöne. Natur wird zur Konstruktion eines zivilisationskritischen Gegenentwurfs zur Gesellschaft und zur Projektionsfläche menschlicher Sehnsüchte und Wünsche. Als pädagogischer Raum ist sie in ihrer Ursprünglichkeit vollkommen.
Im Naturzustand ist das unentfremdete Wesen des Menschen maßgeblich von der Selbstliebe (l’amour de soi-mÞme) geprägt. Der Mensch ist autark, er genügt sich selbst. Nach Rousseau ist diese Selbstliebe mit der Entwicklung von Kultur und Zivilisation in Eigenliebe und Selbstsucht (l’amour-propre) umgeschlagen. Während die Selbstliebe sich der natürlichen Ordnung anpasst und auf dem Gleichgewicht von menschlichen Bedürfnissen sowie den Möglichkeiten und Fähigkeiten ihrer Realisierung fußt, ist die Eigenliebe das Ergebnis eines unglücklichen und unzufriedenen Zustands durch das Ungleichgewicht von Bedürfnis und Erfüllung. Der Mensch verliert seine Unabhängigkeit und macht sich von der Einschätzung anderer abhängig.
Selbstliebe versus Eigenliebe
Der Umschlag von Selbstliebe zur Selbstsucht/Eigenliebe geschieht mit der Einrichtung von privatem und rechtlichem Eigentum, das die natürliche Gleichheit aller aufhebt und eine Ungleichheit der Menschen untereinander fördert sowie das Streben nach Macht und Herrschaft aber auch Neid und Missgunst begünstigt.
„Der erste, der ein Stück Erde eingezäunt hatte und sich anmaßte zu sagen: ‚Dies gehört mir‘, und der Leute fand, die einfältig genug waren, es zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wieviele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Elend und Schrecken hätte derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinesgleichen zugerufen hätte: ‚Hütet Euch, diesem Betrüger zuzuhören. Ihr seid verloren, wenn Ihr vergeßt, daß die Früchte allen die Erde keinem gehört!‘“ (ROUSSEAU 1750/21976, S. 87)
Im Kontext des Naturrechts steht auch Rousseaus Konzeption des Gesellschaftsvertrags („Contract social ou principes du droit politique“) aus dem Jahre 1762. „Der Mensch ist frei geboren“, so Rousseau, „und überall liegt er in Ketten. Einer hält sich für den Herrn der anderen und bleibt doch mehr Sklave als sie“ (ROUSSEAU 1762/2003, S. 5). Es bleibt die Frage, wie ein Staat eingerichtet sein muss, damit die natürlichen Rechte und die natürliche Freiheit des Einzelnen nicht aufgehoben werden, sondern in einen Rechtszustand überführt und dort gesichert werden können.
„Finde eine Form des Zusammenschlusses, die mit ihrer ganzen gemeinsame Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Mitglieds verteidigt und schützt und durch die doch jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie zuvor.“ (ROUSSEAU 1762/2003, S. 17)
Theorie des Gemeinwillens
Als Antwort auf diese Frage entwirft Rousseau die Theorie des Gemeinwillens: Zum Wohle der Gemeinschaft ordnet sich der Einzelne einem allgemeinen Willen (volonté générale) unter, da auch er selbst Teil des allgemeinen Willens ist. Freiheit erscheint als Gehorsam gegenüber dem sich selbst gegebenen Gesetz, das auf Allgemeingültigkeit zielt. Die Vernünftigkeit eines Gesetzes ist also abhängig von den Menschen, die es verfassen. Damit konzipiert Rousseau die für die französische Revolution zentrale Idee der Volkssouveränität.
Rousseaus Gesellschaftsvertrag zeichnet das Bild einer Gesellschaft, in der die naturrechtlich gegebene Freiheit des Menschen in die Freiheit der Bürger transformiert wird.
„Was der Mensch durch den Gesellschaftsvertag verliert, ist seine natürliche Freiheit und ein unbegrenztes Recht auf alles, wonach ihn gelüstet und was er erreichen kann; was er erhält, ist die bürgerliche Freiheit und das Eigentum an allem, was er besitzt. […] denn der Antrieb des reinen Begehrens ist Sklaverei, und der Gehorsam gegen das selbstgegebene Gesetz ist Freiheit.“ (Ebd., S. 22f.)
Bürger und Mensch
Die Bürger dieses Rechtsstaates (citoyens) sind natürliche, freie und gleiche Menschen (hommes). Hier setzt die Ausrichtung einer öffentlichen Erziehung an, die die Aufgabe hätte, den freien Menschen als Staatsbürger dahingehend zu befähigen, sich selbst vernünftige Gesetze zu geben. Für Rousseau – wie für viele andere Denker – ist der Mensch aber letztlich kein gesellschaftliches und politisches Wesen, sondern ein solitaire, ein Einzelner, der aus sich heraus die Autarkie erreichen muss, um in der Entfremdung durch die Gesellschaft ein glückliches Dasein führen zu können. Gleichwohl zeigt sich der Versuch, die individuelle Freiheit mit der Befähigung zu sittlichem Handeln in der Gemeinschaft zu vereinen. Gerade im Erziehungsroman „Emile“ wird nach der Anlage im Individuum gefragt, die für den Bürger im idealen Gemeinwesen als grundlegend gilt. Auf diese Intention Rousseaus verweist auch Kant:
„In seiner Schrift über den Einfluß der Wissenschaften und der über die Ungleichheit der Menschen zeigt er [Rousseau] ganz richtig den unvermeidlichen Widerstreit der Kultur mit der Natur des menschlichen Geschlechts, als einer physischen Gattung, in welches jedes Individuum seine Bestimmung ganz erreichen sollte; in seinem Emil aber, seinem gesellschaftlichen Kontrakte, und anderen Schriften sucht er wieder das schwerere Problem aufzulösen: wie die Kultur fortgehen müsse, um die Anlagen der Menschheit, als einer sittlichen Gattung, zu ihrer Bestimmung gehörig zu entwickeln, so daß diese jener als Naturgattung nicht mehr widerstreite.“ (KANT 1786/1983, S. 93)
Gesellschaft und Individuum
Die Verbindung von Gesellschaft und Individuum ist zentraler Bestandteil der Rousseauschen Sozialphilosophie und durch Grundfragen nach Freiheit, Gewissen und Vernünftigkeit (vgl. MAIER 1982, S. 100f.) aufs Engste mit der Erziehungskonzeption verwoben.