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4.4 Die Erzieher des Menschen
ОглавлениеRousseau entwirft eine Anthropologie von der Natur des Menschen. Der Mensch hat dabei in der Abgrenzung zum Tier die Möglichkeit, Handlungsalternativen zu entwickeln. Zu dieser Freiheit der Gestaltung tritt „die Fähigkeit, sich zu vervollkommnen; eine Fähigkeit, die, mit Hilfe der Umstände, sukzessive alle anderen entwickelt und die bei uns sowohl der Art als auch dem Individuum innewohnt“ (ROUSSEAU 1755/1984, S. 103). Diese Perfektibilität erscheint als potentia, als die Fähigkeit, Fähigkeiten zu entwickeln. Sie verweist auf die transzendentale Voraussetzung erzieherischen Denkens und ist damit fundamental. Aus ihr kann die grundsätzliche Bildsamkeit des Menschen abgeleitet werden. (Siehe hierzu auch: BENNER/BRÜGGEN 1996, S. 12–48)
an der Natur orientierte Erziehungsprinzipien
In der an der Natur orientierten Erziehung sind drei Prinzipien maßgeblich:
„Wir werden schwach geboren und bedürfen der Kräfte; wir werden hilflos geboren und bedürfen des Beistands; wir werden dumm geboren und bedürfen des Verstandes. All das, was uns bei der Geburt noch fehlt und dessen wir als Erwachsene bedürfen, wird uns durch die Erziehung zuteil.“ (ROUSSEAU 1762/1963, S. 109)
Das Kind hat also drei Lehrer (vgl. ebd., S. 109): Es lernt durch den Menschen, die Natur und durch die Dinge. An anderer Stelle greift Rousseau diesen Gedanken wieder auf:
„Diese Erziehung kommt uns von der Natur oder den Menschen oder den Dingen. Die innere Entwicklung unserer Fähigkeiten und unserer Organe ist die Erziehung durch die Natur. Der Gebrauch, den man uns von dieser Entwicklung zu machen lehrt, ist die Erziehung durch die Menschen, und der Gewinn unserer eigenen Erfahrung mit den Gegenständen, die uns affizieren, ist die Erziehung durch die Dinge. Jeder von uns wird also durch drei Arten von Lehrmeistern gebildet. Der Schüler, in dem sich ihre verschiedenen Lehren widerstreiten, ist schlecht erzogen und wird immer uneins sein mit sich selbst. Derjenige, bei dem es keine inneren Widersprüche gibt, wo alles auf ein Ziel ausgerichtet ist, ist der einzige, der sein Ziel erreicht und konsequent lebt. Er allein ist richtig erzogen. Nun hängt von diesen drei Erziehungsarten die erste, die der Natur, keineswegs von uns selbst ab, die durch die Dinge nur in gewisser Hinsicht, wogegen die durch die Menschen die einzige ist, deren wir wirklich Herr sind – wenigstens unter gewissen Voraussetzungen.“ (Ebd., S. 109)
menschliche Fähigkeit zur Vervollkommnung
Die Erziehung durch den Menschen und die Dinge wird notwendigerweise an der Natur ausgerichtet. Insbesondere das Prinzip einer Erziehung durch die Natur ist an die menschliche Fähigkeit zur Vervollkommnung (Perfektibilität) gebunden. Die Natur als Erzieher ist also Ausgangspunkt für die Kräfteformung und Fähigkeitsentwicklung des Menschen.
„Jeder Geist hat seine eigene Form, nach der er erzogen werden muß, und für den Erfolg dieser Bemühungen ist es wichtig, daß er auf diese und keine andere Weise erzogen wird.“ (Ebd., S. 214)
Mit der Erziehung durch die Dinge bezieht sich Rousseau auf die Begegnung mit Welt. Die Dinge verweisen auf ein dem Zögling Entgegenstehendes, das sich als „echte Andersheit“ (MAIER 1982, S. 99) erweist. Das Kind erfährt in der Auseinandersetzung und dem reflektierten Umgang mit den Dingen seine eigenen Fähigkeiten und Grenzen, auch die Grenzen seiner Freiheit.
scheinbare Passivität des Erziehers
Der Erzieher trägt dem Prinzip der Natur und der Erziehung durch die Dinge Rechnung und vermeidet innere Widersprüchlichkeiten (vgl. WÄCHTER 1991, S. 67). Das Natürliche und die Natur werden zur Maßgabe der Erziehungspraktik. So wirkt der Erzieher zunächst vor allem indirekt auf den Zögling ein. Im gemeinsamen Handeln erfolgt die Ausprägung der natürlichen Eigentlichkeit des je Individuellen. Dabei erweckt die Zurückhaltung des Erziehers in Rousseaus Erziehungspraktiken den Anschein eines reinen Wachsenlassens. Die scheinbare Passivität des Erziehers täuscht jedoch über die Tatsache einer umfassenden Erziehung hinweg.
„Ich predige euch eine schwere Kunst, ihr jungen Lehrer, nämlich beherrschen ohne Vorschriften zu geben und durch Nichtstun alles zu tun.“ (ROUSSEAU 1762/ 1963, S. 264)
Die Wahrnehmungen des Zöglings werden geordnet und der pädagogischen Kontrolle unterworfen. Die Handlungsoptionen sind inszeniert und konstruiert:
„Folgt mit eurem Zögling dem umgekehrten Weg. Laßt ihn immer im Glauben, er sei der Meister, seid es in Wirklichkeit aber selbst. Es gibt keine vollkommenere Unterwerfung als die, der man den Schein der Freiheit zugesteht. So bezwingt man sogar seinen Willen. Ist das arme Kind, das nichts weiß, nichts kann und erkennt, euch nicht vollkommen ausgeliefert? Verfügt ihr nicht über alles in seiner Umgebung, was auf es Bezug hat? Seid ihr nicht Herr seiner Eindrücke nach eurem Belieben? Seine Arbeiten, seine Spiele, sein Vergnügen, und sein Kummer – liegt nicht alles in euren Händen, ohne daß es davon weiß? Zweifellos darf es tun, was es will, aber es darf nur das wollen, von dem ihr wünscht, daß es es tut. Es darf keinen Schritt tun, den ihr nicht für es vorgesehen habt, es darf nicht den Mund auftun, ohne daß ihr wißt, was es sagen will.“ (Ebd., S. 265f.)
Kontrolle über den Zögling
So moderat die Erziehungstheorie Rousseaus auch erscheinen mag, es wird offensichtlich, dass der Erzieher in dieser Konzeption den Zögling kontrolliert, seine Gefühle steuert, sein Denken lenkt, sein Handeln ermöglicht. Erziehung offenbart sich damit als „hypertrophe Kontrollpraxis“ (vgl. TENORTH 32000, S. 82).