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Der soziale Bereich

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Mit dem sozialen Bereich sind zunächst Autonomie, soziale Integration und soziale Teilhabe des schwerkranken oder sterbenden Menschen angesprochen: Inwieweit ist in den verschiedenen Phasen der Krankheit – bis hin zum eintretenden Tod – sichergestellt, dass Patientinnen und Patienten in ihrer Autonomie (Willensfreiheit und Selbstverantwortung) respektiert und nicht beschnitten werden? Inwieweit ist gewährleistet, dass sich die Bezugspersonen (die persönlichen wie die fachlichen) intensiv und nach bestem Wissen und Gewissen darum bemühen, die Werthierarchie, die Motive, die Bedürfnisse und Präferenzen schwerkranker oder sterbender Menschen auch dann zu erfassen, wenn die Artikulation von Werten, Motiven, Bedürfnissen und Präferenzen erschwert oder gar nicht mehr möglich ist? In diesem Falle gewinnt die mimische und gestische Ausdrucksanalyse mehr und mehr an Bedeutung; dies ist zum Beispiel bei einer weit fortgeschrittenen Demenz der Fall. Inwieweit sind die persönlichen wie fachlichen Bezugspersonen bereit, durch ihr Verhalten, Entscheiden und Handeln den Patientinnen und Patienten Sicherheit zu geben, angenommen und geachtet zu sein, nicht alleine gelassen zu werden, Verständnis in Bezug auf die hohe Fluktuation von Kontaktwünschen (zum Beispiel im Sinne eines Wechsels von stärkerem Rückzug nach innen und vermehrter Öffnung nach außen) zu finden, Anregungen und Hilfen in Bezug auf eine persönlich sinnerfüllte und stimmige Tagesgestaltung zu erhalten, schließlich jene medizinische und pflegerische Versorgung, jene psychologische, soziale und seelsorgerische Begleitung zu erhalten, die im individuellen Falle geboten sind und von ihnen gewünscht werden?

Schon diese Fragen veranschaulichen, wie wichtig es ist, sich bei der gedanklichen und emotionalen Vorwegnahme der persönlichen Lebenssituation in schwerer Krankheit oder im Prozess des Sterbens mit dem Thema zu beschäftigen, in welchem sozialen Umfeld man versorgt, unterstützt und begleitet werden will, wie die Sorgestrukturen beschaffen sein sollten, wenn aufgrund schwerer Erkrankung oder des herannahenden Todes eine umfassende Angewiesenheit auf Betreuung besteht. In öffentlichen Diskussionen neigen wir dazu, mit der Begleitung in schwerer Krankheit oder im Prozess des Sterbens primär das Thema der Selbstbestimmung zu assoziieren, hingegen weniger oder gar nicht das Thema der sorgenden Gemeinschaft, in der wir leben, mit der wir uns austauschen, von der wir begleitet werden möchten (Heller & Wegleitner, 2017; Klie, 2015). Dies ist eine bedeutsame Aufgabe der gedanklichen und emotionalen Vorbereitung auf die persönliche Lebenssituation in schwerer Erkrankung oder im Prozess des Sterbens: Nämlich bewusst der Frage nachzugehen, mit wem man zusammenleben, von wem man begleitet und betreut, von wem man gepflegt (bzw. nicht gepflegt) werden möchte (Dörner, 2007; Gronemeyer & Heller, 2014; Keil & Scherf, 2016). Allein die Beschäftigung mit der Frage, wie man in diesen gesundheitlichen Grenzsituationen die eigene Autonomie bewahren und was man schon heute tun kann, um dieses Ziel zu erreichen, erscheint entsprechend zu eng.

Mit dem sozialen Bereich ist weiterhin die soziale Lebenslage des Menschen angesprochen, die dessen Handlungsspielraum, das heißt, die objektiv gegebenen Möglichkeiten und Grenzen der Situationsgestaltung, auch im Krankheits- und Sterbensprozess mitbestimmt. Die soziale Lebenslage umfasst Merkmale wie Bildungsstand, Einkommen, Wohnqualität, Versorgungs- und Dienstleistungsangebot im näheren Wohnumfeld, Größe und Zusammenhalt des sozialen Netzwerks. Auch die Zugänglichkeit einer anspruchsvollen medizinischen und pflegerischen Versorgung ist als bedeutendes Merkmal der sozialen Lebenslage zu werten, da diese in hohem Maße von den materiellen Ressourcen und Bildungsressourcen eines Menschen bestimmt ist. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die innere Verarbeitung des herannahenden Todes nicht allein als ein individuelles Geschehen begriffen werden darf, sondern auch als ein soziales Geschehen verstanden werden muss, oder anders ausgedrückt: Nicht allein die körperliche und die seelisch-geistige Verfassung bestimmen mit, wie die eigene Endlichkeit erlebt und innerlich zu verarbeiten versucht wird, sondern auch die sozialen Bedingungen, unter denen die Person lebt – wobei die sozialen Bedingungen auch die Dienst- und Versorgungsleistungen mitdefinieren, die der schwerkranke oder sterbende Mensch erwarten kann und schließlich in Anspruch nimmt. Angehörige mittlerer, vor allem oberer Sozialschichten können auf ein ganz anderes Spektrum palliativmedizinischer und -pflegerischer Maßnahmen zurückgreifen als Menschen aus unteren Sozialschichten. Und es kommt hinzu: Die soziale Lebenslage bestimmt langfristig das Anspruchsniveau eines Menschen, das heißt, dessen Erwartungen (und Hoffnungen) mit Blick auf den Umfang und die Qualität der medizinisch-pflegerischen Versorgung mit. Patientinnen und Patienten, die sich schon in vorangegangenen Lebensphasen mit einem kleinen Spektrum an medizinischen und pflegerischen Leistungen begnügt haben, werden dies mit hoher Wahrscheinlichkeit auch dann tun, wenn sie mit einer schweren oder zum Tode führenden Erkrankung konfrontiert sind.

Die große Bedeutung der sozialen Lebenslage für die Lebensqualität eines sterbenden Menschen hat der Heidelberger Internist Herbert Plügge – der auf einen großen palliativmedizinischen Erfahrungsschatz blicken konnte – schon zu Beginn der 1960er Jahre deutlich hervorgehoben. Er gab zu bedenken, dass sich auch im Prozess des Sterbens soziale Ungleichheiten widerspiegeln, die – je nach Richtung – die psychische Entwicklung unterstützen oder erschweren können. Eine in dieser Hinsicht wichtige Aussage von Herbert Plügge, die bis heute nichts an Aktualität eingebüßt hat, lautet:

»Vergleichsweise sanft (…) ist tatsächlich weitgehend identisch mit privilegiert. Sanft ist also von unzähligen Fällen von soziologischen Gegebenheiten abhängig. Abhängig vom Vermögen, das in die Lage versetzt, sich ein Einzelzimmer zu leisten, von der nur für die eine Kranke zur Verfügung stehenden Privatschwester, von der Häufigkeit der ärztlichen Visite, von individuell abgestimmter Besuchserlaubnis, vom häufigen Wechsel der Wäsche – das heißt von den Anderen, von dem Milieu, das die Anderen dem Kranken schaffen können. Abhängig von der Hilfserwartung, die die Anderen dem Schwerkranken vermitteln können. ›Sanft‹ ist also weniger gebunden an die Art des Verlaufs der Krankheit, als man gemeinhin glauben möchte und glaubt, sondern oft genug gewährleistet durch den Komfort, den materiellen und fürsorgerischen Komfort, den Angehörige mit ihren Mitteln zur Verfügung stellen.« (Plügge, 1960, S. 241)

Mit dem sozialen Bereich sind schließlich die kollektiven Bilder von Sterben und Tod, die kollektiven Praktiken des »Umgangs« mit schwerkranken und sterbenden Menschen, die Antworten, die unsere Gesellschaft und Kultur auf das Faktum der Verletzlichkeit, Vergänglichkeit und Endlichkeit des Menschen geben, angesprochen. In diesem Buch soll auch dieser Frage Raum gegeben werden. Als ein in dieser Hinsicht bedeutendes Werk ist die von dem deutsch-jüdischen Soziologen, Philosophen und Psychologen Norbert Elias (1897–1990) veröffentlichte Schrift »Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen« (Elias, 1983) zu werten, die auch heute noch hohe Aktualität beanspruchen darf. Wie Norbert Elias in diesem Buch hervorhebt, lassen sich moderne Gesellschaften dadurch kennzeichnen, dass einerseits überlieferte Konventionen des Umgangs mit Sterben und Tod nicht mehr angemessen erscheinen, dass andererseits neue Rituale, an denen Menschen ihr Verhalten gegenüber Sterbenden orientieren könnten, noch nicht entwickelt wurden. Damit stelle sich im Kontakt mit sterbenden Menschen mehr und mehr eine Sprachlosigkeit ein, da die persönlichen wie auch die fachlichen Bezugspersonen nicht mehr wüssten, wie sie mit dem Sterbenden kommunizieren sollten, wie ein Gespräch geführt werden sollte, das den Sterbenden tiefgehend berührt. Das Faktum der eigenen Endlichkeit erscheine, so Norbert Elias, im Selbstverständnis des modernen Menschen als Bedrohung. Entsprechend bestehe die Tendenz, Sterben und Tod aus dem gesellschaftlich-geselligen Leben zu verdrängen. Das Sterben des Anderen erscheine als mahnende Erinnerung an den eigenen Tod, löse entsprechend Unsicherheit aus und trage so dazu bei, dass die Menschen in modernen Gesellschaften nicht mehr in der Lage seien, Sterbenden das zu geben, was diese bräuchten. In seinem Hauptwerk »Über den Prozess der Zivilisation« (1976) hebt Norbert Elias hervor, dass im Zentrum der soziologischen Analyse die Beziehungen zwischen den Menschen stehen müssten; denn erst diese Beziehungen führten zu gesellschaftlichen Verflechtungen. Eine Aussage aus diesem Werk ist hier besonders wichtig, gibt sie doch die Analyseperspektive, die Norbert Elias einnimmt, sehr anschaulich wieder: »Die ›Umstände‹, die sich ändern, sind nichts, was gleichsam von ›außen‹ an den Menschen herankommt; die ›Umstände‹, die sich ändern, sind die Beziehungen zwischen den Menschen selbst.« (1976, S. 412) Eine dynamische Gesellschaftstheorie, wie Norbert Elias sie vertritt, setzt an den »Figurationen« an: Diese beschreiben die Beziehungen der Menschen untereinander, darüber hinaus die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft. Vor dem Hintergrund dieser »Figurationssoziologie« gewinnen die Aussagen von Norbert Elias zum Umgang unserer Gesellschaft mit sterbenden Menschen einmalmehr an Bedeutung: Weisen diese doch zum einen darauf hin, dass sich zwischen Sterbenden und ihren Bezugspersonen bestimmte Figurationen ergeben, nämlich dergestalt, dass Sterbende mehr und mehr aus Beziehungen ausgeschlossen, mehr und mehr an den Rand gedrängt werden, mithin nicht mehr im Zentrum von Beziehungen stehen – was zur Folge hat, dass sich die Kommunikation immer weiter »ausdünnt«. Zum anderen machen diese Aussagen deutlich, dass der Umgang mit Sterbenden einen bestimmten Entwicklungsstand unserer Gesellschaft (innerhalb eines dynamischen Entwicklungsprozesses) beschreibt. Die Art und Weise, wie unsere Gesellschaft mit Sterbenden umgeht (»Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft«), sagt viel über ihren aktuellen Entwicklungsstand aus: Dieser lässt sich auch in der Hinsicht charakterisieren, dass Zeichen der Vergänglichkeit und Endlichkeit aus dem öffentlichen Raum, zudem aus Beziehungen zwischen den Menschen untereinander immer weiter »ausgeklammert«, »unsichtbar« gemacht werden – zum Beispiel dadurch, dass hochvulnerable Menschen bevorzugt in die Obhut von Institutionen gegeben werden.

Trotz aller individuellen Bemühungen, der fachlich und ethisch anspruchsvollen Begleitung schwerkranker und sterbender Menschen den gebührenden Ort in unserer Gesellschaft zuzuweisen, schwerkranke und sterbende Menschen in die »Mitte der Gesellschaft« zu holen, beobachten wir auch heute noch eine ausgeprägte emotionale Reserviertheit gegenüber Menschen, die uns an unsere eigene Vergänglichkeit und Endlichkeit erinnern. Wir beobachten auch heute noch die Sprachlosigkeit, das Fehlen von überzeugenden, emotional berührenden Ritualen im Kontakt mit schwerkranken und sterbenden Menschen. In dieser Hinsicht ist unsere Gesellschaft in ihrer Entwicklung über die verschiedenen Epochen tatsächlich ärmer geworden.

Und doch darf nicht übersehen werden, dass Palliativmedizin, Palliativpflege und Hospizarbeit wachsendes Interesse auf sich ziehen, in unserer Gesellschaft mehr und mehr eine erinnernde und mahnende Funktion einnehmen: Erinnernd in der Hinsicht, als sie uns an unsere eigene Vergänglichkeit und Endlichkeit erinnern, mahnend in der Hinsicht, als sie uns ermahnen, rechtzeitig in einen innerpsychischen wie auch in einen sozialkommunikativen Prozess einzutreten, in dem unser Umgang mit der Ordnung des Todes seinen Platz und seinen Ausdruck findet. Neben allen großen, beeindruckenden fachlichen und menschlichen Hilfen, die Palliativmedizin, Palliativpflege und Hospizarbeit geben, sind auch die gesellschaftlichen und kulturellen Impulse, die von entsprechenden Initiativen ausgehen, zu würdigen. Diese können (und sollten!) mehr und mehr Einfluss auf den gesellschaftlichen Entwicklungsprozess nehmen.

Eine weitere soziologische Theorie, nämlich jene von der »Geschwätzigkeit des Todes« (Nassehi, 2004; Nassehi & Saake, 2005; Esser, 2019), sei hier angesprochen, weil sie eine andere, gleichfalls bedeutsame Sicht auf den gesellschaftlichen Umgang mit Endlichkeit entfaltet. Eine Todesverdrängung im Sinne eines psychologischen Prozesses wird in der von dem Soziologen Armin Nassehi entwickelten Theorie nicht postuliert. Vielmehr stimuliert gerade das Nicht-Fassbare des Todes, über den Tod zu reden. Somit entwickeln Gesellschaften vielfältige Vorstellungen, Bilder und Gedankengebäude, mit denen sie sich dem Nicht-Fassbaren nähern können. Diese vielfältigen Vorstellungen, Bilder, Gedankengebäude begründen die Geschwätzigkeit des Todes. Geschwätzigkeit meint nicht die tiefgreifende persönliche Auseinandersetzung mit der eigenen Vergänglichkeit und Endlichkeit, meint nicht die unmittelbar gefühlte, uns berührende Verarbeitung dieses zentralen Merkmals der Conditio humana, sondern ist eher ein unverbindliches Nachdenken und Reden über das Faktum des Todes, bedingt durch die Tatsache, dass sich der Tod unserer unmittelbaren Erfahrung entzieht. Menschen äußern, entsprechend ihrer familiären und kulturellen Herkunft, entsprechend ihrer beruflichen Herkunft, entsprechend ihrer biografischen Erfahrungen ganz unterschiedliche Gedanken zum Tod. Damit geht eine Vielfalt an Vorstellungen und Meinungen, die im öffentlichen Raum ausgetauscht werden, einher: Vielfach, dies sei noch einmal betont, sind diese unverbindlich. Damit erfährt der Begriff der »Todesverdrängung« eine besondere Konturierung, wie der Gerontologe Eric Schmitt – auf Armin Nassehi Bezug nehmend – in einem Beitrag zur »Soziologie des Todes« aufzeigt (Schmitt, 2012): Von einer Verdrängung des Todes, so Eric Schmitt, kann eigentlich nicht gesprochen werden, sondern nur von einer Überlagerung des Faktums eigener Endlichkeit durch Geschwätzigkeit.

Vor dem Hintergrund der Theorie von der »Geschwätzigkeit des Todes« stellt sich einmalmehr die Frage: Gibt es nicht doch einzelne Situationen oder Erlebnisse, in denen wir uns in einem Maße berührt sehen, dass wir in einer offenen, wahrhaftigen Art und Weise über unsere eigene Vergänglichkeit und Endlichkeit sprechen? Mit dieser Frage stehen wir im Zentrum des existenziellen Bereichs.

Vom Leben und Sterben im Alter

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