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2.2 Die zweite theoretische Perspektive: »Ich-Integrität«
ОглавлениеDie Aussagen zum Lebensrückblick führen vor Augen, wie wichtig die Entwicklung der Persönlichkeit – und zwar über den gesamten Lebenslauf – für die Art und Weise ist, wie Menschen ihre Verletzlichkeit und Endlichkeit, wie sie den Tod deuten. Sie führen weiterhin vor Augen, dass Entwicklung der Persönlichkeit auch meint: Innerpsychische und zwischenmenschliche Konflikte auszuhalten, diese bewusst und verantwortlich auszutragen, sich um deren Lösung zu bemühen. Dabei ist allerdings auch zu bedenken und wurde in den Aussagen zum Lebensrückblick hervorgehoben: Es gibt Konflikte, die das Individuum zum Zeitpunkt ihres Auftretens vielleicht gar nicht bewusst und verantwortlich austragen konnte, weil diese als so bedrohlich wahrgenommen wurden, dass ein Ausweichen, ein Fliehen, ein Verleugnen die einzige »Antwort« war, die dem Individuum offenstand. Man denke nur an familiäre Konflikte im Kindes- und Jugendalter oder an große seelische Belastungen, die durch Demütigungen, durch Unterdrückung, durch Vernachlässigung, schließlich durch körperliche oder seelische Gewalt bedingt waren. Das Ausweichen, das Fliehen machen diese Konflikte nicht ungeschehen. Sie führen nicht zu einer Lösung der Konflikte. Vielmehr bestehen diese fort, ohne dass sich das Individuum dessen bewusst sein muss. Es sind zwei Annahmen, die die Aussagen zum Lebensrückblick so bedeutsam machen: Zum einen die Annahme, dass gerade im hohen Alter, bedingt durch die als »bedrängend«, wenn nicht sogar als »bedrohlich« erlebte Verletzlichkeit und Endlichkeit, abgewehrte (und damit ungelöste) Konflikte wieder thematisch werden, das heißt in das Zentrum des Bewusstseins treten; ganz ähnliches gilt für die seelischen Verletzungen, denen das Individuum im Lebenslauf ausgesetzt war und die es zum Zeitpunkt ihres Auftretens nicht innerlich verarbeiten konnte (Radebold, 2015a,b). Zum anderen die Annahme, dass auch im hohen Alter das Potenzial besteht, derartige Konflikte und Verletzungen auch nachträglich zu verarbeiten, diese auch im Rückblick auf das Leben innerlich zu überwinden. In dieser Annahme, die sich auch durch die Psychotherapieforschung eindrucksvoll belegen lässt (Heuft, Kruse & Radebold, 2006; Maercker, 2014), drückt sich die Bedeutung aus, die psychische Prozesse im hohen Alter für die Gesamtgestalt des Lebens besitzen. Und wenn ich hier von Gesamtgestalt des Lebens spreche, so meine ich damit auch die Einstellung und Haltung zum Tod: Denn diese bestimmt die Gesamtgestalt des Lebens mit – ob dies dem Individuum bewusst ist oder nicht.