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2.1 Die erste theoretische Perspektive: »Lebensrückblick«

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Robert Butler (1927–2010), US-amerikanischer Psychiater und Altersforscher, Gründer des National Institute on Aging, ist im Jahre 1963 mit einer Arbeit über den Lebensrückblick (life review) an die Öffentlichkeit getreten, die auch heute noch als richtungsweisend für ein tiefes psychologisches Verständnis des Lebensrückblicks gewertet wird (Butler, 1963; siehe auch Haight, Pierce, Elliott et al., 2018). Wie definiert Robert Butler den Lebensrückblick? Als einen natürlichen, universellen seelisch-geistigen Prozess, der sich im Sinne eines zunehmend stärkeren Bewusstseins vergangener Erfahrungen deuten lässt, wobei vor allem ungelöste Konflikte mehr und mehr an Bedeutung gewinnen. Bei den meisten Menschen ist das Potenzial erkennbar, diese Erfahrungen und Konflikte rückblickend besser zu verstehen und in die subjektiv erlebte Biografie zu integrieren. Der Lebensrückblick wird dabei durch zwei grundlegende Erfahrungen angestoßen: Zum einen durch die Bewusstwerdung des herannahenden Todes und der mit diesem verbundenen Auflösung der irdischen Existenz, zum anderen durch die mit dieser Bewusstwerdung verbundene Unmöglichkeit, die Vorstellung persönlicher Unverletzlichkeit (oder Unverwundbarkeit) aufrechtzuerhalten. Die Aussage, dass es sich bei dem Lebensrückblick um einen natürlichen, universellen seelisch-geistigen Prozess handelt, ist auch in der Hinsicht zu verstehen, dass diese eine charakteristische Entwicklungsaufgabe des hohen Alters beschreibt. Dies bedeutet, dass der Lebensrückblick im Leben aller alten Menschen zunehmend an Bedeutung gewinnt, wobei Robert Butler hinzufügt: Eher bewusst oder eher unbewusst. Alte Menschen können somit den Lebensrückblick ganz bewusst und innerlich engagiert vornehmen; es kann aber auch genauso gut vorkommen, dass sich der Lebensrückblick eher unbewusst einstellt und gegebenenfalls zu Veränderungen im Erleben und Verhalten führt, deren Ursprünge dem Individuum (zumindest zunächst) verborgen bleiben. Die von Robert Butler getroffene Aussage, wonach der herannahende Tod wie auch die Antizipation oder die Erfahrung eigener Verletzlichkeit Prozesse des Lebensrückblicks anstoßen, führt uns einmalmehr vor Augen, dass die »Ordnung des Lebens« und die »Ordnung des Todes« miteinander verschränkt sind. Das Bewusstwerden des herannahenden Todes bleibt nicht ohne Folgen für die Einstellung und Haltung zum Leben; vielmehr wird im Angesicht eigener Verletzlichkeit und Endlichkeit eine umfassende Betrachtung und Bewertung der eigenen Biografie vorgenommen (Butler, 1980). Erst diese umfassende Betrachtung und Bewertung – in ihrem bewussten und unbewussten (zum Teil nur in Träumen erfahrbaren) Anteil – verdient die Charakterisierung als »Lebensrückblick«. Wenn der Lebensrückblick in seiner Gesamtheit eher positiv ausfällt, dann ist das Individuum auch eher in der Lage, die eigene Verletzlichkeit und Endlichkeit, den herannahenden Tod anzunehmen oder zumindest als etwas Unvermeidliches hinzunehmen. Erneut wird die Verschränkung der beiden Ordnungen – jener des Lebens, jener des Todes – erkennbar; dieses Mal aber in einer umgekehrten Richtung: Die Einstellung und Haltung zum Leben bestimmen die Einstellung und Haltung zum Tod mit.

Folgen wir Robert Butler, dann hat der Lebensrückblick eine bedeutsame Funktion für die Persönlichkeitsentwicklung des Individuums in den späten Phasen des Lebens: Denn durch diesen wird die Integration der Persönlichkeit gefördert, wobei »Integration« zum einen zu verstehen ist im Sinne der Lösung von bislang ungelösten Konflikten, zum anderen im Sinne von Differenzierung und Harmonie; letztere kann dabei durch erstere gefördert werden. Der Lebensrückblick stellt also mit Blick auf die Persönlichkeitsentwicklung eine Entwicklungschance dar. Hier übrigens weist der Ansatz eine bemerkenswerte Nähe zu dem Konzept der Individuation auf, von der der Analytische Psychologe Carl Gustav Jung (1972) spricht. Nach C. G. Jung ist von einem lebenslang bestehenden Entwicklungspotenzial auszugehen, dessen Verwirklichung auch im Sinne einer kontinuierlich fortschreitenden Individuation zu begreifen ist: Das Individuum wird in wachsendem Maße »einzigartig« (im Sinne von »unverwechselbar«), indem es mehr und mehr Seiten seiner Persönlichkeit integriert und damit lebendig werden lässt, die bis dahin unbewusst gewesen sind.

Robert Butler nimmt übrigens an, dass sich Menschen gerade im hohen Alter mehr und mehr von gesellschaftlichen Verpflichtungen zurückziehen und damit mehr Zeit für die Selbstreflexion besitzen, die ihrerseits zu persönlich wie auch kollektiv bedeutsamen Einsichten und Erkenntnissen über das Leben führen kann. Die These des gesellschaftlichen Rückzugs würde man heute in dieser Verallgemeinerung nicht mehr aufstellen, denn zahlreiche Befunde sprechen dafür, dass das Motiv der Teilhabe auch bei dem deutlich größeren Anteil alter Menschen erkennbar, wenn nicht sogar stark ausgeprägt ist (Ramia & Voicu, 2020). Allerdings tritt im hohen Alter die Vielzahl an Beziehungen zugunsten der Konzentration auf wenige Beziehungen zurück, in denen ein intensiver emotionaler und geistiger Austausch erfahren wird; zur Umschreibung dieser Konzentration wird treffend von »sozioemotionaler Selektivität« gesprochen (Carstensen & Lang, 2007). Und gerade im vertieften Engagement oder in emotional und geistig vertieften Beziehungen liegt ein bedeutsames Potenzial für die Kommunikation subjektiv bedeutsamer Einsichten und Erkenntnisse, wobei diese Kommunikation durchaus auch im Sinne der Selbstvergewisserung zu verstehen ist. Nicht selten werden einzelne Erinnerungen (im Sinne der Reminiszenz) mit anderen Menschen ausgetauscht, und in diesem Austausch kann durchaus eine Anregung zu einem umfassenderen, bewusst geführten Lebensrückblick gesehen werden.

Es lässt sich also feststellen: Der Lebensrückblick ist eine bedeutsame Entwicklungsaufgabe des hohen Alters, er ist das Ergebnis der zunehmenden Bewusstwerdung eigener Endlichkeit und Verletzlichkeit, er ist die Antwort des Lebens auf den immer näher rückenden Tod. Das Ausweichen vor einem Lebensrückblick wäre mit Blick auf die weitere Persönlichkeitsentwicklung, aber auch mit Blick auf die Annahme oder Hinnahme des Todes geradezu dysfunktional. Der intensiver betriebene Lebensrückblick und damit auch die Offenheit für neue Erlebnisse, Erfahrungen und Erkenntnisse sind mit Blick auf die Persönlichkeitsentwicklung sowie mit Blick auf die Annahme oder Hinnahme des Todes dagegen hochfunktional. Robert Butler begreift somit den Lebensrückblick auch als eine Form der Vorbereitung auf den Tod.

Auch wenn sich die Entwicklungsaufgabe des Lebensrückblicks jedem alten Menschen stellt, so zeigt sich doch eine beachtliche Variation in den konkreten Formen dieses Rückblicks. Er kann, so Robert Butler, eine diskrete Form zeigen, das heißt, allein in der Auseinandersetzung des Individuums mit sich selbst erfolgen. Er kann aber auch Thema des Gesprächs mit anderen Menschen sein. Er kann eher bewusst oder eher unbewusst von statten gehen. Oftmals bildet er auch Thema von Träumen. Und schließlich, dies wurde ja eben schon angedeutet, kann das Gespräch mit anderen Menschen über spezifische, umgrenzte Themen mehr und mehr in einen umfassenderen Lebensrückblick münden (Butler, 1980).

Der Lebensrückblick bietet neben dem potenziellen Gewinn für die Persönlichkeitsentwicklung zwei weitere Gewinne. Zunächst ist die potenzielle therapeutische Wirkung zu nennen: Der Lebensrückblick konfrontiert das Individuum mit der Aufgabe, bislang nicht ausreichend reflektierte Lebensthemen, bislang nicht gelöste Konflikte zu bearbeiten; damit ist durchaus eine heilsame, therapeutische Wirkung angesprochen (Westerhof & Slatman, 2019). Zudem ist mit dem Lebensrückblick das Potenzial einer Botschaft an die nachfolgenden Generationen verbunden (Zimmermann & Forstmeier, 2020): Die aus dem Lebensrückblick hervorgehenden Erfahrungen und Erkenntnisse werden nämlich nicht selten im Sinne eines Vermächtnisses verstanden. Hier sei ein Beispiel aus der Palliativ- und Hospizarbeit genannt: Persönliche Erlebnisse, Erfahrungen, Erkenntnisse und Einsichten werden auch mit dem Ziel thematisiert, Angehörige nachfolgender Generationen am eigenen Lebenswissen teilhaben zu lassen und ihnen etwas für ihr Leben mit auf den Weg zu geben. In dem Maße, in dem die Adressaten offen für diese Botschaft sind und dies auch entsprechend kommunizieren, helfen sie dem Schwerkranken oder Sterbenden, die Grenzsituation der Krankheit oder des Sterbens anzunehmen.

Der Lebensrückblick kann mit Grenzen konfrontieren. Das Individuum erkennt in diesem Rückblick, dass es in seinem Leben Situationen gab, in denen es moralisch nicht korrekt gehandelt, in denen es anderen Menschen vielleicht sogar Schaden zugefügt hat (Stevens, 2019). Es realisiert, dass diese Schuld in der verbleibenden Zeit nicht mehr abgetragen werden kann. Möglicherweise erkennt es, dass bestimmte Entwicklungsmöglichkeiten, aber auch bestimmte Werte nicht (ausreichend) verwirklicht wurden; und vor diesem Hintergrund wird das Leben vielleicht als ein Misserfolg, wenn nicht sogar als ein Versagen empfunden. In solchen Fällen können mit dem Lebensrückblick durchaus psychische Störungen und psychopathologische Symptome einhergehen, wie zum Beispiel Depressionen oder stark ausgeprägte und anhaltende Angstzustände. Die Beschäftigung mit der Vergangenheit kann gerade unter solchen interpretativen Bedingungen obsessiven Charakter annehmen: Die Vergangenheit verdrängt die Gegenwart und Zukunft aus dem Bewusstsein; damit stagniert jede Entwicklung, jede reife Auseinandersetzung mit neuen Aufgaben. Und schließlich kann die Erfahrung des herannahenden Todes – wie auch das Erleben einer schweren, mit Funktionseinbußen einhergehenden Erkrankung – eine narzisstische Kränkung gerade für jenen Menschen bedeuten, bei dem eine stärker ausgeprägte narzisstische Haltung (im Sinne einer übermäßigen Beschäftigung mit sich selbst und der Ausblendung von Bedürfnissen anderer Menschen) vorliegt. In allen diesen Fällen wird deutlich: Der Tod gewinnt einmalmehr etwas Bedrohliches. Er konfrontiert den Menschen mit jenen Seiten seines Lebens, die – sei es schicksalsbedingt, sei es durch persönlich ungenutzte Entwicklungsperspektiven – nicht zur Verwirklichung gelangten (Fuchs, 2019). Dies kann zu hoher Unzufriedenheit, zu Schuldgefühlen, zu Neid und Missgunst führen.

Eine wichtige Ergänzung zum Konzept des »Lebensrückblicks« bildet die von dem niederländischen Psychologen und Altersforscher Joep Mathieu Munnichs (1927–2000) vorgelegte Arbeit mit dem Titel »Alter und Endlichkeit« (Munnichs, 1966). In dieser Arbeit berichtet der Autor über eine von ihm durchgeführte Untersuchung, in der 100 Frauen und Männer (Altersbereich: 70 Jahre und älter) intensiv zu ihrer Einstellung und Haltung zum Tod, aber auch zu ihrer biografischen Entwicklung interviewt wurden. Joep M. Munnichs ging dabei der Frage nach, inwieweit die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Studie in ihrer Biografie Endlichkeitserfahrungen gemacht hatten, inwieweit sie mit gesundheitlichen Grenzsituationen konfrontiert waren und welche Einstellung und Haltung sie zu ihrer Biografie zeigten. Gerade im Hinblick auf den von Joep M. Munnichs angenommenen Zusammenhang zwischen der Deutung der Biografie und der Deutung der eigenen Endlichkeit weist diese Untersuchung enge Zusammenhänge mit dem von Robert Butler eingeführten Konzept des Lebensrückblicks auf.

Vom Leben und Sterben im Alter

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