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1.1 Die verschiedenen Bereiche der Person im Prozess des Sterbens Der körperliche Bereich

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Im körperlichen Bereich dominiert ein stetiger Rückgang der Widerstandsfähigkeit (gegen interne und äußere Stressoren) und der Restitutionsfähigkeit: Infektionen können immer schlechter abgewehrt werden, nach einer akuten Verschlechterung der Gesundheit wird deren Wiederherstellung immer unwahrscheinlicher, das nach optimaler Therapie und Rehabilitation erreichte Leistungsniveau unterschreitet jenes, das vor der akuten Verschlechterung der Gesundheit bestanden hat. Da akute Krankheitsepisoden mehr und mehr zunehmen, bedeutet dies langfristig einen deutlichen Rückgang der Leistungsfähigkeit des Organismus; möglicherweise bis hin zu einer vita minima. Eingetretene Einbußen in einzelnen Organfunktionen lassen sich immer weniger kompensieren. Diese Veränderungen münden schließlich in einem deutlich erhöhten Auftreten von körperlichen (und in deren Folge: von kognitiven) Symptomen und in einer verringerten Selbstständigkeit, die bis hin zu einer ausgeprägten Hilfsbedürftigkeit oder sogar Pflegebedürftigkeit führt (Burkhardt, 2019). Die Patientinnen und Patienten zeigen nicht selten stark ausgeprägte Erschöpfungssymptome, die auch die Teilnahme an aktivierenden oder rehabilitativen Maßnahmen erschweren.

Die längsschnittliche Abbildung dieses kontinuierlich zurückgehenden körperlichen Leistungsniveaus lässt sich mit dem in der Geriatrie entwickelten Frailty-Konzept vornehmen, das auch als eine phänotypische Annäherung an die zunehmende körperliche Verletzlichkeit des Menschen verstanden werden kann. Nach Linda Fried, auf die dieses Konzept zurückgeht, ist den folgenden fünf klinischen Merkmalen – die in ihrer Gesamtheit das Frailty-Konzept konstituieren – besondere Beachtung zu schenken (Fried et al. 2001):

1. dem ungewollten Gewichtsverlust (über fünf Kilogramm im vergangenen Jahr),

2. der subjektiv erlebten körperlichen Erschöpfung,

3. der körperlichen Schwäche (bestimmt mit der Messung der Handkraft),

4. dem verlangsamten Gang,

5. der geringen physischen Aktivität.

Wenn mindestens drei dieser klinischen Merkmale vorliegen, wird von Frailty gesprochen. Nun ist Frailty aber nicht per se mit der stark ausgeprägten Verletzlichkeit – man könnte in diesem Krankheitsstadium auch sagen: Gebrechlichkeit – des Menschen am Ende seines Lebens gleichzusetzen; vielmehr ist die Gebrechlichkeit eine stark ausgeprägte Form von Frailty. Und doch eignet sich das Frailty-Konzept auch zur Charakterisierung des organismischen Zustandes des Menschen am Ende seines Lebens, denn in allen (und eben nicht nur einzelnen) Merkmalen, die unter Frailty subsumiert werden, zeigen sich so stark ausgeprägte Leistungseinbußen und Restitutionsdefizite, dass deutlich wird: die verbliebenen physischen Ressourcen werden ausschließlich für die Aufrechterhaltung grundlegender Lebensfunktionen benötigt (Clegg et al., 2013). Dies aber gelingt dem Individuum immer weniger, sodass wiederholt abrupte Verschlechterungen des allgemeinen Gesundheitszustandes auftreten, die sich immer weniger kompensieren lassen. Daraus resultiert – betrachtet man den gesamten Krankheitsverlauf in der letzten Lebensphase – eine zunehmend geringere physiologische Leistungs- und Restitutionskapazität, die schließlich in einen Finalzustand mündet. Der Altersmediziner Cornel Sieber (2005) versteht Frailty als Folge von Einbußen in mehreren physiologischen Merkmalen, die gerade aufgrund ihrer Häufung ein »ausbalanciertes System gefährden« können; im Falle von Einbußen in zahlreichen physiologischen Merkmalen, so kann gefolgert werden, ist dieses ausbalancierte System nicht nur gefährdet, sondern bricht zusammen (»Desorganisation«) und kann zunächst nur noch in Ansätzen, bald aber gar nicht mehr wiederhergestellt werden.

Zur stark ausgeprägten Frailty tritt häufig die Sarkopenie (Abnahme von Muskelmasse und Muskelkraft) hinzu, die von alten Menschen als besondere körperliche und emotionale Belastung erfahren wird (Cruz-Jentoft, Bahat, Bauer et al., 2019). Die Sarkopenie lässt sich bei über 30 Prozent der ab 80-jährigen Frauen und Männer beobachten (Buess & Kressig, 2013). Der Gewichtsverlust ist dabei mit einem erhöhten Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko verbunden (Sieber, 2014). Gerade bei schwerkranken oder sterbenden alten Menschen bildet die Sarkopenie – neben einer stark ausgeprägten Frailty – ein häufig anzutreffendes Syndrom, das in dieser Gruppe durchaus auch als ein Leitsyndrom eingestuft werden kann.

Was folgt aus diesen Aussagen?

Diese zeigen uns, dass sich im hohen Alter der gesundheitliche Zustand nicht plötzlich, abrupt, sondern vielmehr kontinuierlich fortschreitend verschlechtert, was sich auch mit dem subjektiven Empfinden von Patientinnen und Patienten deckt, die häufig davon sprechen, dass es immer weniger werde, dass sie sich einer letzten Grenze näherten, dass die Phasen der Erschöpfung in immer kürzeren Abständen aufträten und dabei immer länger anhielten. Patientinnen und Patienten erfahren unmittelbar das Leben zum Tode hin, ein Leben, das Möglichkeiten der Selbstgestaltung und Weltgestaltung immer weiter verringert. Damit machen auch die für die Denomination der Palliativmedizin und Palliativpflege konstitutiven Begriffe »Pallium« (Mantel) bzw. »palliare« (den Mantel umlegen) einmalmehr Sinn. Denn es geht ja in der Tat darum, körperlich hochgradig geschwächte Patientinnen und Patienten zu schützen – vor bestimmten Symptombildungen ebenso wie vor weiteren Erkrankungen.

In einer für die medizinisch-pflegerische Versorgung am Lebensende wichtigen Studie wurde zwischen drei Krankheitsverläufen (»trajectories«) in der letzten Lebensphase differenziert (Murray, Kendall, Boyd et al., 2005):

1. Tumorerkrankungen: diese sind zunächst durch eine relativ lange Zeit mit vergleichsweise geringen Einschränkungen im Alltag charakterisiert; innerhalb weniger Monate treten körperlicher Abbau, Funktionsverlust und Tod ein;

2. Herz-, Lungen- oder Nierenerkrankungen: diese erstrecken sich über mehrere Jahre mit mehr oder minder stark ausgeprägten Einschränkungen im Alltag; gelegentlich treten akute Verschlechterungen ein, die einen Krankenhausaufenthalt notwendig machen; die sich anschließende Erholung erreicht das frühere Funktions- und Leistungsniveau nicht mehr;

3. Frailty: vielfach assoziiert mit kognitiven Störungen und einem über mehrere Jahre bestehenden, kontinuierlich steigenden Niveau der Hilfsbedürftigkeit oder Pflegebedürftigkeit.

Wie die Autoren dieser Studie hervorheben, sind für den Tod alter Menschen nur in geringem Maße die Tumorerkrankungen verantwortlich und in sehr viel stärkerem Maße Herz-, Lungen- und Nierenerkrankungen oder eine stark ausgeprägte Frailty, verbunden mit Sarkopenie.

Dies zeigt noch einmal, wie wichtig das vertiefte Verständnis eines kontinuierlichen Übergangs von einer chronisch progredienten Erkrankung zu einem präfinalen und schließlich einem finalen Zustand für die fachlich und ethisch überzeugende therapeutische und pflegerische, aber auch für die psychologische, soziale und seelsorgerische Begleitung ist. Denn es geht um die Frage, wann therapeutisch-rehabilitative Ziele und Schritte zugunsten palliativer Ziele und Schritte verringert und schließlich ganz aufgegeben werden sollten. Darüber hinaus ist es bei vielen Patientinnen und Patienten geboten, trotz Einleitung palliativmedizinischer und -pflegerischer Schritte therapeutische Ziele aufrechtzuerhalten, wenn nämlich zu der – zum Tode führenden – Grunderkrankung weitere akute Erkrankungen hinzutreten. Und schließlich kann es geboten sein, trotz einer primär palliativen Orientierung Elemente einer Rehabilitation oder einer rehabilitativen Pflege in den medizinisch-pflegerischen Versorgungsansatz zu integrieren, um die Selbstständigkeit und Mobilität, zudem kognitive Funktionen der Patientinnen und Patienten zu fördern, womit man dazu beiträgt, dass ein weitgehend oder zumindest in Teilen selbstgestaltetes Sterben möglich wird. Dabei sei konzediert: Ein weitgehend oder zumindest in Teilen selbstgestaltetes Sterben beschreibt einen Idealzustand, der nur bei einem Teil der Patientinnen und Patienten – und zudem nur über einen begrenzten Zeitraum – verwirklicht werden kann. Und doch wäre es ein Fehler, würde man von vornherein eine rehabilitative bzw. eine rehabilitativ-pflegerische Komponente aus dem palliativen Versorgungskonzept ausschließen. Denn dies bedeutete, dem Streben der Patientinnen und Patienten nach Erhaltung eines ihren Ressourcen entsprechenden Grades an Selbstständigkeit, Selbstverantwortung und sozialer Teilhabe nur noch eine untergeordnete Bedeutung beizumessen und damit deren Werthierarchie zu übergehen.

Im Kontext einer solchen Diskussion erweist sich das Frailty-Konzept als wertvoll, weil mit diesem ausdrücklich Rehabilitationspotenziale angesprochen sind: Inwieweit können durch eine vorsichtige, an den Ressourcen der Patientinnen und Patienten orientierte Aktivierung Verbesserungen in einzelnen körperlichen Merkmalen erzielt werden, die sich positiv auf die allgemeine Leistungsfähigkeit des Organismus wie auch auf die Selbstständigkeit, Selbstverantwortung und soziale Teilhabe auswirken?

Vom Leben und Sterben im Alter

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