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1.2 Sterbensängste, Todesängste: Ein erstes Fazit
ОглавлениеZunächst wurde – mit Blick auf die Ängste des Menschen – eine Unterscheidung zwischen Sterben und Tod vorgenommen. Diese Unterscheidung wurde aber nicht in der Hinsicht getroffen, dass die von vielen Menschen getätigte Aussage, nämlich mit Sorgen auf ein qualvolles Sterben zu blicken, hingegen dem eigenen Tod eher gelassen gegenüberzustehen, bestätigt worden wäre. Zumindest für jenen Menschen, der mit Freude gelebt hat, ist auch der Tod selbst eine große Herausforderung, bedeutet er doch, endgültig Abschied zu nehmen von einer Welt, in der man sich zu Hause gefühlt hat. Sorgen vor einem qualvollen Sterben können – aufgrund der erkennbaren Erfolge von Palliativmedizin, Palliativpflege und Hospizarbeit – in vielen Fällen genommen werden. Nur ist es wichtig, dass diese Versorgungsbereiche institutionell deutlich ausgebaut werden. Ohne hier Intensivmedizin und Palliativmedizin gegeneinander ausspielen zu wollen: Es sollte auch von politischen Entscheidungsträgern zur Kenntnis genommen werden, dass für den Ausbau der Intensivmedizin ein Vielfaches der Mittel bereitgestellt wird, die in den Ausbau der Palliativmedizin und Palliativpflege fließen. Dabei werden diese – einschließlich der Hospizarbeit – in Zukunft noch wichtiger werden, als sie heute schon sind, gehen doch die familiären Pflegeressourcen mehr und mehr zurück.
Wenn über Sterben gesprochen wird, so bedeutet dies zumindest im hohen Lebensalter vielfach einen Übergang von einer chronisch-progredienten Erkrankung in einen präfinalen und schließlich in einen finalen Zustand; zum Teil verlaufen diese Übergänge diskret, von Patientinnen und Patienten wie auch von ihren persönlichen und fachlichen Bezugspersonen kaum bemerkt. Damit wird zum einen deutlich, dass die Palliativmedizin und Palliativpflege – ebenso wie die Hospizarbeit – sich nicht allein auf sterbende Menschen konzentrieren (sollten), sondern ausdrücklich auch Angebote für schwerkranke Menschen bereithalten (sollten). Die Differenzierung zwischen einer Palliative Care und einer End of Life Care (Remmers & Kruse, 2014) trägt der Tatsache Rechnung, dass im Kontext palliativmedizinischer und palliativpflegerischer Versorgung auch auf die Bedürfnisse schwerkranker Menschen zu achten ist, die noch nicht unmittelbar mit der eigenen Endlichkeit konfrontiert sind. Mit den diskreten Übergängen wird aber auch noch etwas Anderes deutlich, nämlich die zum Teil viele Monate, wenn nicht sogar mehrere Jahre andauernde Konfrontation des schwerkranken und sterbenden alten Menschen mit der eigenen Vergänglichkeit. Der kontinuierlich zunehmende Verlust der körperlichen und kognitiven Leistungsfähigkeit, die kontinuierlich wachsende Symptomvielfalt, Symptomtiefe und Symptomschwere, die kontinuierlich zunehmende Angewiesenheit auf umfassende Hilfe oder Pflege: Dies sind Prozesse, die dem Menschen mehr und mehr vor Augen führen, dass er verletzlich, dass er vergänglich ist (Bozzaro, Boldt & Schweda, 2018; Rüegger, 2020). Für die Psyche, für die innere Verarbeitungskapazität des Individuums sind damit hohe, zum Teil außerordentlich hohe Anforderungen verbunden. Hier gibt es nichts zu verklären oder schön zu reden. Hier ist vielmehr festzustellen und zu konstatieren.
Aber es ist schon ein großer Gewinn, wenn wir begreifen, dass am Ende des Lebens die Psyche besonderen Anforderungen ausgesetzt ist, dass diese in der Tat »Großes« leisten und eine hohe Anpassungsfähigkeit unter Beweis stellen muss, wenn die innere Verarbeitung der Verletzlichkeit und Vergänglichkeit gelingen soll. Dass diese gelingen kann, wurde unter dem Rubrum »psychischer Bereich« ausdrücklich festgestellt. Diese kann aber nicht gelingen, dies sei ebenfalls betont, wenn das Individuum mit seinen Krankheiten, Symptomen, Ängsten alleine gelassen wird und keine fachlich überzeugende medizinisch-pflegerische, psychologische, soziale und seelsorgerische Hilfe erhält. Wenn diese Hilfe sichergestellt ist und gegeben wird, kann es dem Individuum durchaus gelingen, sich bewusst auf den herannahenden Tod einzustellen und möglicherweise in diesem Verarbeitungsprozess seelisch-geistige Reifungsschritte zu tun. Zahlreiche Beiträge aus Palliativmedizin, Palliativpflege und Hospizarbeit zeigen uns, dass solche Reifungsschritte nicht nur Wunsch, sondern auch Wirklichkeit sind.
Palliativmedizin, Palliativpflege und Hospizarbeit sind deswegen so wichtig, weil sie Menschen eine bedeutsame Hilfe dabei sind, das Sterben innerlich zu »überstehen«, im Prozess des Sterbens nicht die personale Integrität zu verlieren, das eigene Leben wie auch das soziale Nahumfeld auch im Sterben wenigstens in Ansätzen gestalten zu können. Diese Angebote sind eben auch für die Psyche des schwerkranken und sterbenden Menschen wie auch für die Psyche seiner Bezugspersonen von größter Bedeutung.
Und in diesem Kontext ist es wichtig, dass wir auch über gesellschaftliche und kulturelle Aspekte des Sterbens nachdenken, wie dies unter dem Rubrum »sozialer Bereich« versucht wurde. Dieses Nachdenken, aus dem gesellschaftliches und politisches Handeln erwachsen muss, ist deswegen so wichtig, weil es dazu beitragen kann, dass wir die Verletzlichkeit und Vergänglichkeit in die Mitte des öffentlichen Raumes holen, dass wir Schwerkranken und Sterbenden eine lebendige, wahrhaftige Kommunikation nicht vorenthalten. Und umgekehrt kann davon ausgegangen werden, dass die Entwicklung der Palliativmedizin und Palliativpflege, dass die Entwicklung der Hospizarbeit mit dazu beiträgt, dass sich ein überzeugender kultureller Umgang mit schwerer Krankheit und Sterben durchzusetzen beginnt.
Dieses erste und einführende Kapitel abschließend, möchte ich aus der ersten Auflage des von Stein Husebø und Eberhard Klaschik (1997a) herausgegebenen Buches »Palliativmedizin« die beiden Vorworte zitieren, eines von den Herausgebern selbst, eines von Cicely Saunders, der Nestorin der Palliativmedizin. In diesen beiden Vorworten werden die fachlichen, anthropologischen und ethischen Grundlagen angedeutet, die den Ausgangspunkt der Forschung und Praxis auf den Gebieten der Palliativmedizin, der Palliativpflege und der Hospizarbeit bildeten und die bis heute nichts von ihrer Aktualität verloren haben. Diese Grundlagen leiten auch die Überlegungen, die in den nachfolgenden Kapiteln vorgetragen und entfaltet werden.
»Die Patientengruppe, um die es hier geht, weist drei besondere Merkmale auf: Erstens ist sie die größte aller Patientengruppen (jeder Mensch muss sterben). Zweitens konnte in einer Reihe von Untersuchungen gezeigt werden, dass es kaum ein wichtigeres Thema für den einzelnen Menschen gibt als ein menschenwürdiges Sterben. Drittens gibt es keine Gruppe von Patienten, die schwächer und verletzbarer ist als die der Schwerkranken und Sterbenden; sie haben keine Kraft mehr, sich zur Wehr zu setzen. Gute Palliativmedizin und Hospizarbeit sind nicht möglich ohne menschliche und fachliche Kompetenz und ohne eine multidisziplinäre Zusammenarbeit der einzelnen Berufsgruppen. Diese Patienten brauchen fast täglich ärztliche Präsenz und Behandlung, sie brauchen Pflege, Verständnis, physische und psychische Stimulanz, Seelsorge, Nähe wie Distanz.« (Husebø & Klaschik, 1997b, S. XI f)
»Jeder Patient benötigt über den gesamten Verlauf der Erkrankung eine angemessene und individualisierte Behandlung. Nicht alle können geheilt werden und alle werden irgendwann sterben. Wie dies geschieht, ist nicht nur für ihre Würde als Individuum wichtig, sondern auch für sie als Mitglied eines Familiennetzwerks. Einem Leben, das mit viel unvollendetem Geschäft oder unkontrolliertem Leiden endete, wurde nicht mit gebührendem Respekt begegnet; dieses hinterlässt keine guten Erinnerungen. Zu akzeptieren, dass das Leben endet, kann Wert, Freiheit und Hoffnung vermitteln. Offenheit und eine von Respekt bestimmte Vermittlung ›schlechter Nachrichten‹ können zu Kreativität und zur Heilung von Beziehungen führen. Diejenigen von uns, die viele Menschen am Ende ihres Lebens begleitet haben, konnten nicht nur Ausdauer und Mut erleben, sondern auch viel Wachstum durch Verlust. All dies erfordert große Kompetenz in der Analyse und Entlastung der unterschiedlichen Formen des Leidens, die zusammen den gesamten Schmerz (›total pain‹) einer unheilbaren Krankheit ausmachen.« (Saunders, 1997, S. XV)
1 Aus der umfangreichen Literatur seien stellvertretend nur einige multidisziplinär konzipierte Monografien angeführt, die in ihrer Gesamtheit einen ausgezeichneten Überblick über den theoretisch-konzeptionellen, empirischen und praktischen Erkenntnisstand geben und auf die ich mich – neben anderen – in den weiteren Kapiteln wiederholt beziehen werde: Aulbert, Nauck & Radbruch, 2011; Anderheiden & Eckart, 2012; Maio, Bozzaro & Eichinger, 2015; Neuenschwander & Cina, 2015a; Husebø & Mathis, 2017; Schärer-Santschi, Steffen-Bürgi, Staudacher & Monteverde, 2017; Bausewein, Roller & Voltz, 2018; Kreutzer, Oetting-Roß & Schwermann, 2019; Mitscherlich-Schönherr, 2019b; Schnell & Schulz-Quach, 2019.
2 Siehe dazu auch die Schrift von Erich Fromm (1900-1980): »Haben oder Sein« (1976), in der diese Aussage ein zentrales Motiv bildet.