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Transzendenzleistungen
ОглавлениеDrei Weiterungen der Ich-Integrität seien an dieser Stelle angesprochen, weil sie den seelisch-geistigen Entwicklungsprozess, der mit dem Begriff der Ich-Integrität angesprochen ist, besonders gut verdeutlichen und auch mit der Lebenswirklichkeit alter Menschen sehr gut übereinstimmen. Zudem verdeutlichen sie die Beziehung zwischen der Entwicklung im hohen Alter und der Einstellung und Haltung alter Menschen zu Verletzlichkeit, Endlichkeit und Tod.
Die erste Weiterung verdankt sich den Arbeiten des US-amerikanischen Psychologen Robert Peck (1977), der sich intensiv mit dem Entwicklungsmodell von Erik H. Erikson und Joan Erikson auseinandergesetzt hat und dieses gerade mit Blick auf die Ich-Integrität weiter ausbauen wollte. Für Robert Peck spielt der Aspekt der »Transzendierung« – im Sinne eines Überwindens von Grenzen – eine wichtige Rolle bei seiner Betrachtung des höheren und hohen Alters. Robert Peck zeigt auf, dass das Individuum im höheren und hohen Alter eine dreifache Transzendierung zu leisten hat. Die erste Transzendierung: Es muss lernen, die starke Konzentration auf den Körper aufzugeben und seelisch-geistigen Prozessen eine deutlich größere Stellung einzuräumen. Nicht wenige Menschen, so Robert Peck, identifizieren sich primär mit ihrem Körper, so auch mit ihrer körperlichen Attraktivität, und vernachlässigen darüber möglicherweise ihre seelisch-geistigen Qualitäten. Diese machen sich im höheren und hohen Alter immer mehr als Entwicklungsangebote (zum Beispiel in Träumen) bemerkbar; diese Entwicklungsangebote müssen aufgegriffen und lebendig gehalten werden. Das heißt, dass sich das Individuum auch, wenn nicht sogar primär über seine seelisch-geistigen Qualitäten definiert – eine für die weitere Differenzierung der Identität wichtige Aufgabe. Die zweite Transzendierung: Das Individuum muss lernen, die stark ausgeprägte, wenn nicht sogar einseitige Identifikation mit seinen beruflichen Leistungen (oder Misserfolgen) nach und nach aufzugeben. Dies fällt natürlich in einer Gesellschaft, die ein »Immer-Weiter« propagiert und Menschen vor allem an ihren beruflichen Leistungen misst, nicht leicht. Robert Peck zeigt auf, dass die Psyche (das Selbst) auch nach der Verwirklichung neuer Qualitäten strebt (im Denken, im Handeln, in den Interessen), dass sich gerade im höheren und hohen Alter ein Resonanzboden für seelisch-geistige Qualitäten ausbildet, die über das berufliche Interessenspektrum deutlich hinausweisen. Auf diese neuen Qualitäten als Entwicklungsangebote sollte sich, Robert Peck zufolge, das Individuum sehr viel stärker konzentrieren – damit vermitteln die »zugezählten Jahre« noch einmal ganz neue Stimmigkeits- und Aufbruchserlebnisse. Die dritte Transzendierung: Die starke Konzentration auf das Ich – die sich gar nicht so selten in einer hypochondrischen Haltung ausdrückt – muss im hohen Alter überwunden werden zugunsten einer Einfügung der eigenen Existenz in eine umfassendere, kosmische Ordnung (Verres, 2011): Hier sind vor allem Fragen der Spiritualität und Religiosität angesprochen. In dem Maße, in dem Menschen diese Transzendierung gelingt, wachsen auch die Fähigkeit und Bereitschaft, sich mit der eigenen Verletzlichkeit und Endlichkeit auseinanderzusetzen, diese allmählich an- oder hinzunehmen, ohne zu resignieren.
Es sei eine zweite Weiterung des Konzepts der Ich-Integrität genannt, die von Erik H. Erikson und Joan Erikson selbst stammt. Joan Erikson hat im Nachwort zu einem von Erik H. Erikson (1998) verfassten Buch hervorgehoben, dass sie vor dem Hintergrund der Verletzlichkeit, mit der ihr Mann in den letzten Lebensjahren konfrontiert gewesen war, wie auch vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erlebnisse und Erfahrungen im hohen Alter eigentlich eine neunte psychosoziale Krise annehmen müsse. Das Alter in den 80er- und 90er-Jahren berge neue Anforderungen, Alltagsprobleme und Belastungen; die damit verbundene Aufgabe der Neubewertung des Lebens könne nur angemessen eingeordnet werden, wenn eine neue, neunte Entwicklungsphase angenommen werde. Joan Erikson hebt hervor, dass in dieser neunten psychosozialen Krise noch einmal Themen bedeutsam werden, die eigentlich am Anfang des Lebens standen: Die Ausbildung von Vertrauen wie auch die Ausbildung eines Autonomiegefühls. Dies habe damit zu tun, dass die Erfahrung von Verletzlichkeit die Frage auslöse, inwieweit man anderen Menschen vertrauen könne – vor allem dann, wenn man auf deren Hilfe und Beistand angewiesen sei – und inwieweit man sich seine Autonomie auch dann bewahren könne, wenn man Einbußen in seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit wahrnehme. Hier ist zu fragen: Gesteht auch die Nahumwelt in solchen Fällen dem Individuum Autonomie zu, unterstützt diese das Individuum in seinem Bemühen um Erhaltung von Autonomie? Die Fähigkeit, im Angesichte eigener Verletzlichkeit einen neuen seelisch-geistigen Entwicklungsschritt zu tun, spricht für die hohe Anpassungsfähigkeit der Psyche auch im hohen Alter. Wobei ich hinzufügen möchte: Es besteht auch eine hohe Anpassungs- und Entwicklungsnotwendigkeit (Heuft, 2018; Kruse, 2020). Denn ohne die schöpferische Anpassung an die erlebte Verletzlichkeit, ohne die Fähigkeit, auch in dieser Grenzsituation seelisch-geistige Entwicklungsschritte zu tun, ist – um es pointiert auszudrücken – die Psyche, ist das Selbst vom Untergang bedroht.
Ich komme nun zu einer dritten Weiterung, die sich den Arbeiten des Schwedischen Soziologen und Altersforschers Lars Tornstam (2005, 2011) verdankt und von Joan Erikson ausdrücklich aufgegriffen wurde, als sie an der Konzeptualisierung der (oben beschriebenen) neunten psychosozialen Krise arbeitete. Lars Tornstam postuliert in seiner Theorie der Gerotranszendenz (gerotranscendence), dass Transzendenzleistungen im hohen Alter auf drei Ebenen stattfinden: Der kosmischen Ebene, der Ebene des Selbst, der Ebene sozialer Beziehungen. Mit Blick auf die kosmische Ebene geht die Theorie von einem veränderten Weltverständnis aus, das sich in einer stärkeren Integration von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in einer als intensiver empfundenen Verbundenheit mit nachfolgenden Generationen, in verminderter Todesfurcht, in größerer Empfänglichkeit für vermeintlich Bedeutungsloses und in einer allgemein erhöhten Akzeptanz der mystischen Dimension des Lebens widerspiegelt. Auf der Ebene des Selbst ist, so wird weiter postuliert, eine erhöhte Empfänglichkeit für jene Seiten der Persönlichkeit erkennbar, die bislang nicht wahrgenommen oder ausreichend beachtet wurden, zugleich die wachsende Fähigkeit, Errungenschaften und Versäumnisse im Leben zu integrieren. Es besteht zudem die Tendenz, sich vermehrt den eigenen Wurzeln in Kindheit und Jugend zuzuwenden. Auf der Ebene der sozialen Beziehungen nennt Lars Tornstam die stärkere Konzentration alter Menschen auf emotional bedeutsame Beziehungen und das Aufgeben oberflächlicher Beziehungen. Er postuliert weiterhin ein vertieftes Verständnis der Differenz zwischen Selbst und gesellschaftlicher Rolle. Die Einstellung und Haltung zu anderen Menschen ist von einem stärkeren Altruismus bestimmt. – Zur Gerotranszendenz gehören schließlich die Überwindung der Körperlichkeit, die abnehmende Bedeutung materieller Werte, reifere Urteile in Fragen des täglichen Lebens und die Ausbildung einer Zukunftsperspektive, die sich nicht allein auf die eigene Person konzentriert, sondern ausdrücklich auch die Zukunft nachfolgender Generationen, der Gesellschaft, der Kultur mit in den Blick nimmt. Derartige seelisch-geistige Wachstumsprozesse gehen einher mit geringerer Ichorientierung und in Zurückgezogenheit vorgenommener Reflexion. Und es sind gerade diese seelisch-geistigen Wachstumsprozesse, die der Endlichkeit der eigenen Existenz ihren bedrohlichen Charakter nehmen.
Mit Blick auf diese Transzendenzleistungen gilt: Ob sie erbracht werden oder nicht, ist zunächst von der Persönlichkeitsentwicklung im Lebenslauf und hier vor allem von der Offenheit des Individuums für neue Entwicklungsmöglichkeiten abhängig: Entwicklung im Alter vollzieht sich keinesfalls losgelöst von Entwicklungsprozessen in früheren Lebensabschnitten. Die Transzendenzleistungen sind weiterhin von der Einstellung und Haltung bedeutsamer Bezugspersonen zum alten Menschen (wie auch zum hohen Alter allgemein) beeinflusst. Orientieren sich die Bezugspersonen an negativen Stereotypen des Alters, bewerten sie das Bemühen des Menschen um Sinnfindung vorschnell als Ausdruck von Selbstbezogenheit oder übertriebener Vergangenheitsorientierung und gehen sie an dem Bedürfnis des alten Menschen vorbei, über die eigene Entwicklung und über die eigene Zukunft zu reflektieren (dies auch im Sinne der inneren Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit), so behindern sie Gerotranszendenz.
Lars Tornstam versteht seine Theorie auch als Neubewertung der Disengagement-Theorie, die zu Beginn der 1960er Jahre erarbeitet wurde (Cumming & Henry, 1961) und die postuliert, dass im hohen Alter ein gegenseitiger Rückzug von Individuum und Gesellschaft erkennbar sei, der deswegen für die weitere Entwicklung »funktional« sei, weil er die Vorbereitung des Individuums auf den eigenen Tod fördere. Die vielfach vorgebrachte Kritik an der Disengagement-Theorie konzentrierte sich vor allem darauf, dass diese das Bedürfnis vieler alter Menschen nach Fortsetzung einer sinnerfüllten, stimmigen Aktivität vernachlässige. Lars Tornstam rückt die Disengagement-Theorie in die Nähe von Transzendenzleistungen: Die Erschließung neuer Seiten der Persönlichkeit, die zunehmende Betonung der Geistigkeit, die Auseinandersetzung mit eigener Endlichkeit binden nicht nur seelisch-geistige Kräfte, sondern legen auch eine stärkere Beschäftigung mit sich selbst nahe – wobei diese, wie bereits betont, keinesfalls im Sinne von zunehmender Ichzentrierung verstanden werden darf. Die von Ernst Bloch in seiner Schrift »Prinzip Hoffnung« (1959/1985) getroffene Aussage, wonach alte Menschen »den Lärm meiden« und mehr und mehr »nach Ruhe suchen«, veranschaulicht diesen Rückzug nach Innen sehr gut.
Lars Tornstam hat auf die Implikationen seiner Theorie für die praktische Arbeit mit alten Menschen hingewiesen und kann sich dabei auf eigene empirische Befunde stützen. Er hat aufgezeigt, dass dann, wenn Pflegefachpersonen und Sozialarbeitern anschaulich dargelegt wird, dass der phasenweise zu erkennende innere Rückzug alter Menschen nicht Ausdruck von Niedergedrücktheit, Desinteresse oder sogar Aggression ist, sondern vielmehr Ausdruck vermehrter Konzentration auf sich selbst, eine deutlich sensiblere Pflege und Begleitung verwirklicht wird. Diese veränderte Pflege und Begleitung hat dabei nicht nur positive Folgen für die Lebensqualität und das Wohlbefinden alter Menschen, sondern auch für die Zufriedenheit und das Stimmigkeitserleben der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter selbst.
Pflege und Betreuung wie auch Therapie und Rehabilitation sollten sich – folgt man diesen Befunden – auch von der Frage leiten lassen, inwieweit sie dem alten Menschen die Möglichkeit bieten, sich – passager – vermehrt auf sich selbst zurückzuziehen und dabei nicht durch Aktivitäten abgelenkt zu werden, die von außen an ihn herangetragen oder sogar oktroyiert werden. Aber in allen Phasen des Rückzugs sollten die Bezugspersonen immer wieder signalisieren, dass sie für Unterhaltungen, dass sie für gemeinsame Unternehmungen zur Verfügung stehen.