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Der existenzielle Bereich

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Wenn von einem existenziellen Bereich gesprochen wird, dann ist es zunächst notwendig, eine Aussage darüber zu treffen, warum dieser von dem psychologischen Bereich abgegrenzt und als ein eigenständiger Analysebereich verstanden wird. Dabei ist zu konzedieren, dass die psychologische und die existenzielle Analyse bedeutsame Schnittmengen aufweisen (Coleman, Schröder-Butterfill & Spreadbury, 2016; Kruse & Schmitt, 2018; Schweda, Coors & Bozzaro, 2020). Diese liegen vor allem darin, dass sich Menschen in subjektiv bedeutsamen Situationen immer auch von Werten leiten lassen, die sowohl psychologische als auch existenzielle Bezüge aufweisen. Die psychologischen Bezüge liegen darin, dass Werte immer eine kognitive (erkennende), motivationale (Verhaltensziele setzende), emotionale (Gefühle auslösende) und verhaltens- oder handlungsbezogene (sich in den Reaktionen und Aktionen des Menschen widerspiegelnde) Komponente aufweisen – und diese vier genannten Komponenten bilden zentrale Gegenstandsbereiche der Psychologie. Zugleich sind mit Werten Ideen angesprochen, die den Kern unserer Existenz berühren. Wenn wir in einer Situation stehen, die tiefgreifende sittlich-moralische Bezüge aufweist, in der wir uns sittlich-moralisch herausgefordert fühlen, in der unser Gewissen angesprochen ist, dann geht dies, um begriffliche Anleihe an der »Philosophie« (1932/1973) des Heidelberger Philosophen und Psychiaters Karl Jaspers (1883–1969) zu nehmen, »auf das Ganze unserer Existenz«. Damit ist gemeint, dass wir uns in einer solchen Situation überhaupt erst vollumfänglich unserer Existenz bewusst werden und Erfahrungen mit uns selbst wie auch mit dem uns Umgreifenden machen, die sich nicht ausreichend mit einer wert-, persönlichkeits- und handlungspsychologischen Analyse abbilden lassen. Diese Erfahrungen lassen sich auch nicht immer sprachlich differenziert ausdrücken. Zudem sind sie eher punktueller Natur, sie treten in spezifischen Situationen – in denen unsere Werte zutiefst berührt und damit auch unsere Existenz angesprochen bzw. herausgefordert ist – auf.

Die Differenzierung zwischen einem psychologischen und einem existenziellen Bereich – bei Anerkennung der Schnittmengen zwischen diesen Bereichen – findet sich zum Beispiel in den Arbeiten des Wiener Psychiaters und Neurologen Viktor Frankl (1905–1997). Dieser belegte die von ihm begründete »Dritte Schule der Wiener Psychotherapie« mit den Begriffen »Logotherapie« und »Existenzanalyse« und entfaltete in seinen Schriften – so zum Beispiel in dem Buch »Der Wille zum Sinn« (1972/2016) – sowohl eine existenzphilosophische als auch eine existenzpsychologische Sicht auf den Menschen als ein wertverwirklichendes Wesen (auf zentrale Aussagen dieser Theorie werde ich an späterer Stelle des Buches zurückkommen). Die existenzphilosophische Sicht konzentriert sich dabei auf das Wesen des Menschen; es wird dargelegt, dass die menschliche Existenz ohne die Offenheit für Werte, ohne das Wertfühlen, ohne die Wertverwirklichung gar nicht gedacht werden kann. Weiterhin wendet sie sich den grundlegenden Aufgaben zu, die der menschlichen Existenz gestellt sind, wie auch der Freiheit und den mit der Freiheit gegebenen Gestaltungsmöglichkeiten, die sich dem Menschen bieten. Die existenzpsychologische Sicht zeigt auf, welche Bedeutung die Wertverwirklichung für die persönliche Sinnerfahrung, für das Gefühl der Stimmigkeit in der aktuell gegebenen Situation, schließlich für das gelingende Leben besitzt.

Wenn in diesem Buch vom existenziellen Bereich – oder existenziellen Erfahrungen – gesprochen wird, dann ist damit gemeint: a) das Individuum, das sich im Kern seiner Existenz angesprochen und herausgefordert sieht (hier ist auch der Begriff der »Erschütterung« wichtig), b) das Individuum, das sich mehr und mehr der Grenzen der eigenen Existenz bewusst wird und sich damit als in besonderem Maße auf sich selbst zurückgeworfen erlebt, c) das Individuum, das sich in diesem grundlegenden Angesprochen- und Herausgefordert-Sein wie auch in der Erfahrung der Grenzen zur Selbsttranszendenz aufgefordert sieht, das heißt zu einem Überschreiten früherer Arten und Weisen des Deutens einer Situation, des Umgangs mit dieser Situation.

Der existenzielle Bereich ist, folgen wir der bereits genannten Schrift »Philosophie« (1932/1973) des Philosophen und Psychiaters Karl Jaspers, vor allem in Grenzsituationen des menschlichen Lebens angesprochen, zu denen die Konfrontation mit eigener Vergänglichkeit und Endlichkeit gehört. Grenzsituationen versteht Karl Jaspers als Grundsituationen der Existenz, das heißt, als Situationen, die »mit dem Dasein selbst sind«. Sie zeichnen sich durch Endgültigkeit aus, oder in den Worten von Karl Jaspers: »Sie sind durch uns nicht zu verändern, sondern nur zur Klarheit zu bringen, ohne sie aus einem anderen erklären und ableiten zu können.« (Jaspers, 1973, Bd. II, S. 203) Das heißt, dass Grenzsituationen eine tiefgreifende Veränderung des Menschen erfordern, und zwar nicht nur in seiner Lebensgestaltung, sondern auch und vor allem in seiner Lebenshaltung oder Lebenseinstellung: »Auf Grenzsituationen reagieren wir nicht sinnvoll durch Plan und Berechnung, um sie zu überwinden, sondern durch eine ganz andere Aktivität, das Werden der in uns möglichen Existenz; wir werden wir selbst, indem wir in die Grenzsituationen offenen Auges eintreten.« (ebd., S. 204) Die von dem Philosophen Thomas Rentsch verwendete Charakterisierung des Alterns als »Werden zu sich selbst« (Rentsch, 2012; 2020) weist Ähnlichkeiten mit der hier angeführten Aussage von Karl Jaspers auf. Thomas Rentsch sieht in dem Altern des Menschen zunächst eine »Erfüllungsgestalt des Lebens«, in deren Verlauf sich dieser mehr und mehr der Einmaligkeit (Unverwechselbarkeit) seiner Existenz bewusst wird. Dabei werden aber die Grenzen der Selbst- und Weltgestaltung, mit denen der Alternsprozess in zunehmendem Maße konfrontiert, nicht geleugnet. Im Gegenteil, in diesen Grenzen wird der Mensch mehr und mehr auf sich zurückgeworfen, was auch bedeutet: Er bzw. sie spürt mehr und mehr, dass er, dass sie es ist, der bzw. die hier herausgefordert ist (Coors, 2020). Ähnlich wie Karl Jaspers sieht auch Thomas Rentsch in der wahrhaftigen Kommunikation eine zentrale Größe für einen reifungsorientierten Umgang mit Grenzen bzw. Grenzsituationen. Hier nähern wir uns wieder den kritischen Aussagen von Norbert Elias, dieses Mal aber in umgekehrter Weise: Wenn es nämlich gelingt, an die Stelle des Ausschlusses von schwerkranken oder sterbenden Menschen aus wahrhaftig geführter Kommunikation einen Einschluss in diese Art der Kommunikation treten zu lassen, dann können Menschen möglicherweise sogar im Prozess der Krankheit, ja sogar im Prozess des Sterbens Reifungsschritte tun.

In einer im Jahre 2017 erschienenen Schrift des Soziologen und Philosophen Hans Joas mit dem Titel »Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung« werden existenzielle Erfahrungen als »Erschütterungen der symbolischen Grenzziehungen, die das Selbst ausmachen«, gedeutet, wobei Hans Joas für Erschütterungen – sowohl im positiven als auch im negativen Fall – den Begriff der »Selbsttranszendenz« verwendet. Die damit verbundenen Herausforderungen des Selbst sind »nicht aktivisch«, wie dies Hans Joas nennt, zu bewältigen (siehe hier die Übereinstimmung mit der von Karl Jaspers vorgenommenen Charakterisierung des Umgangs mit Grenzsituationen). Es geht, so Hans Joas, »vielmehr um Erfahrungen, die eine fundamental passive Dimension aufweisen – um Erfahrungen nicht des Ergreifens von Handlungsmöglichkeiten, sondern des Ergriffenwerdens etwa durch Personen oder Ideale.« (2017, S. 431) Entsprechende Erfahrungen der Selbsttranszendenz können wir in der Liebe, im gelingenden Dialog ebenso wie im erschütternden Mitleid gewinnen. Auch religiöse Erfahrungen, von Hans Joas mit dem Begriff »sakrale Erfahrungen« umschrieben, sind hier anzuführen. Schließlich sind jene Erfahrungen zu nennen, die in diesem Buch im Zentrum stehen, nämlich »Erfahrungen der Angst, in denen ein Mensch sich seiner tiefen Verletzlichkeit und Endlichkeit bewusst wird durch eigene Krankheit und Todesangst oder durch das Leiden geliebter Menschen und deren Verlust; Erfahrungen, in denen die Welt für uns ihren Handlungsreiz verliert und wir in die Depression der Sinnlosigkeit unserer Existenz hineinfallen.« (ebd., S. 433).

Vom Leben und Sterben im Alter

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