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2.3 Die dritte theoretische Perspektive: »Verletzlichkeit und Reife in Sorgebeziehungen«
ОглавлениеDie Analyse der persönlichen Einstellung und Haltung zum eigenen Tod kann an der Art und Weise, wie das Individuum versucht, Verletzlichkeitserfahrungen innerlich zu verarbeiten, nicht vorbeigehen. In den Verletzlichkeitserfahrungen – vor allem, wenn diese eine erhebliche Tiefe aufweisen und über lange Zeiträume bestehen oder gar nicht mehr abnehmen – klingen nicht selten Endlichkeitserfahrungen an: Denn das Individuum spürt und realisiert, dass es hier mit Grenzen konfrontiert ist, die es im günstigen Falle innerlich besser ertragen (»verarbeiten«) und äußerlich besser bewältigen (»lindern«), aber nicht mehr gänzlich aufheben kann. Gerade Patientinnen und Patienten, die an schweren Krankheiten leiden, die in Tiefe und Symptomschwere kontinuierlich zunehmen, assoziieren mit diesen Krankheiten Endgültigkeits- und Endlichkeitserfahrungen, sodass die Annahme einer thematischen Nähe zwischen Verletzlichkeit und Tod auch von daher naheliegend ist (siehe Kapitel 3). Dabei ist allerdings auch zu bedenken, dass diese thematische Nähe im Erleben des Individuums vielfach punktueller Natur ist, das heißt, dass nur zu einzelnen Zeitpunkten oder Zeiträumen Verletzlichkeit mit endgültigen Grenzen und über diese mit Tod assoziiert wird. Das heißt: In der inneren Auseinandersetzung (»Verarbeitung«) mit der erfahrenen Verletzlichkeit, in der daraus resultierenden Fähigkeit, diese allmählich besser ertragen zu können, findet sich eine seelisch-geistige und existenzielle Grundlage für die gefasste Einstellung und Haltung gegenüber dem eigenen Tod.
Eine derartige Annahme lässt sich zumindest implizit in der von Viktor Frankl erarbeiteten Existenzpsychologie finden, in der ausdrücklich von der Wertform des homo patiens gesprochen wird (Frankl, 2016, 2018). Es handelt sich nach Viktor Frankl bei dieser Wertform um einen Einstellungswert, dessen Ausbildung auf Prozessen intensiver innerer Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben gründet wie auch auf einer Anpassung der Vorstellungen, Erwartungen und Hoffnungen, die an das Leben gerichtet werden, an die gegebene Situation. In einem solchen Prozess der inneren Auseinandersetzung und schöpferischen Anpassung kann sich nach und nach die Einstellung herausschälen, dass ein »Trotzdem!« oder »Gerade jetzt!« notwendig und auch möglich ist. Dem Individuum wächst also die Fähigkeit zu, das eigene Leben trotz endgültiger Grenzen anzunehmen, zu bejahen und auszukosten.
In der Erfahrung eigener Verletzlichkeit kann das Individuum vielleicht sogar deutlich erkennen, welche Interessen, welche Erlebnisse und Erfahrungen, welche Menschen sein Leben bisher getragen haben und auch heute tragen. Früher waren ihm diese als Fundament seines Lebens nicht wirklich, nicht vollumfänglich bewusst. Durch die Erfahrung der Verletzlichkeit aber kann ein derartiger Bewusstwerdungsprozess angestoßen werden (Gadamer, 2000/2010). In einem derartigen Einstellungswandel spiegelt sich die Wertform des homo patiens wider. Für Viktor Frankl ist diese die »höchste« der von ihm unterschiedenen drei Wertformen (homo faber: der schaffende Mensch; homo amans: der liebende und erlebende Mensch; homo patiens: der leidende und sein Leiden annehmende Mensch), da sie in besonderer Weise auf psychologischer und existenzieller Arbeit und einer aus dieser Arbeit resultierenden Einstellungs- und Haltungsänderung gründet.
Was aber folgt aus diesen Aussagen? Ich stelle die Annahme auf, dass jene Menschen, die gelernt haben, ihre Verletzlichkeit anzunehmen und in oder trotz der Verletzlichkeitserfahrung ein sinnerfülltes, stimmiges Leben zu führen, auch eine gefasstere Einstellung und Haltung zum Tod zeigen; hier erkenne ich übrigens Gemeinsamkeiten mit der schon ausführlich beschriebenen Studie von Joep M. Munnichs.
Nur stellt sich die Frage: Wie kann es einem Menschen gelingen, seine Verletzlichkeit anzunehmen, in und trotz ausgeprägter Verletzlichkeit ein sinnerfülltes, stimmiges Leben zu führen? Mit dieser Frage habe ich mich intensiv in dem Buch »Lebensphase hohes Alter – Verletzlichkeit und Reife« beschäftigt (Kruse, 2017). Da die Beantwortung dieser Frage auch für ein tiefes Verständnis der Einstellung und Haltung zum eigenen Tod wichtig ist, sei ihr an dieser Stelle Platz eingeräumt.
Ich differenziere – vor dem theoretisch-konzeptionellen Hintergrund der Gerontologie wie auch auf der Grundlage eigener empirischer Studien zum hohen Alter (Kruse & Schmitt, 2015a, b) – zwischen vier seelisch-geistigen Entwicklungspotenzialen im hohen Alter, die in ihrer Gesamtheit ein Entwicklungsniveau ergeben, das mit dem Begriff »Reife« umschrieben werden kann. Der Begriff der Reife dient mir dabei allerdings eher als Metapher, die ausdrücken soll, dass das Individuum in einer geistig konzentrierten, emotional gefestigten, von einem Selbst- und Weltgestaltungswillen bestimmten Art und Weise mit neuen Eindrücken, Herausforderungen und Anforderungen umzugehen vermag. Welche Entwicklungspotenziale aber sind gemeint? Erstens: Die Introversion mit Introspektion, die ich im Sinne einer vertieften Auseinandersetzung des Menschen mit sich selbst verstehe. Dabei gehe ich davon aus, dass mit zunehmendem Alter die Tendenz zur seelisch-geistigen Vertiefung eine immer stärkere Ausprägung erfährt (Introversion) und die vertiefte Auseinandersetzung mit sich selbst zu Erkenntnissen und Einsichten führt, die für die eigene Lebensführung funktional und bedeutsam sind (Introspektion). Zweitens: Offenheit, und zwar im Sinne der Empfänglichkeit für neue Eindrücke, Erlebnisse und Erkenntnisse, die aus dem Blick auf sich selbst wie auch aus dem Blick auf die umgebende soziale, natürliche und räumliche Welt erwachsen. Drittens: Sorge, und zwar im Sinne der Bereitschaft, für andere Menschen zu sorgen, sich um die Welt zu sorgen. Viertens: Wissensweitergabe, und zwar im Sinne des Motivs, Teil einer Generationenfolge zu sein und durch die Weitergabe von Wissen an nachfolgende Generationen Kontinuität zu erzeugen und Verantwortung zu übernehmen.
Auch hier sei betont: Es handelt sich um Entwicklungspotenziale, somit also nicht um Entwicklungsprozesse, die wir bei allen alten Menschen finden können. Vielmehr müssen innere und äußere Rahmenbedingungen gegeben sein, damit (a) überhaupt solche Potenziale im hohen Alter erkennbar sind, damit sich (b) solche Potenziale, wenn sie denn gegeben sind, verwirklichen können.
Um mit (a) zu beginnen: In ihrer Biografie muss die Person entwicklungsförderliche Lebensbedingungen erfahren und genutzt haben, zu denen vor allem der lebendige, von Vertrauen und Nähe bestimmte Austausch mit anderen Menschen gehört, darüber hinaus eine anregende Umwelt sowie Lebensbedingungen, die Initiative, Engagement, Offenheit und Neugierde fördern. Gemeint ist hier nicht, dass die Person vor Belastungen und Konflikten verschont geblieben wäre. Gemeint ist vielmehr, dass sie immer wieder die Möglichkeit gefunden hat, solche Belastungen und Konflikte (innerlich) zu verarbeiten und (äußerlich) zu bewältigen. Und wenn sie mit Grenzsituationen konfrontiert war (zu denen Erfahrungen zu zählen sind, die im Sinne von persönlichen Traumata gewirkt haben), so schließt auch diese Konfrontation eine positive Entwicklung nicht aus, wie vor allem die Resilienzforschung zeigt (Rutter, 2008, 2012; Werner & Smith, 2001): Es geht nun darum, mit emotionaler und geistiger Unterstützung der engsten Bezugspersonen, möglicherweise auch mit therapeutischer Hilfe zur Erkenntnis und Fähigkeit zu gelangen, trotz solcher Traumata eine bejahende, engagierte und couragierte Lebenseinstellung, Lebenshaltung zu entwickeln und über die dafür notwendigen Ressourcen zu verfügen. (Einen Überblick über deren Theorien und Befunde habe ich in dem angesprochenen Buch »Lebensphase hohes Alter – Verletzlichkeit und Reife« [Kruse, 2017] wie auch in dem Buch »Resilienz – Was wir von Johann Sebastian Bach lernen können« [Kruse, 2015] gegeben.) Wenn ich von entwicklungsförderlicher Umwelt, von entwicklungsförderlichen Lebensbedingungen spreche, dann ist damit zugleich der Hinweis auf Merkmale wie Bildung, materielle Bedingungen, Eingebundensein in soziale Netzwerke, Arbeitsbedingungen, gesundheitliche Versorgung gegeben. Denn diese Merkmale können in ihrem Einfluss auf die Entwicklung im Lebenslauf nicht hoch genug gewertet werden.
Um mit (b) fortzusetzen: Im günstigen Falle sind die von mir beschriebenen vier Entwicklungspotenziale im hohen Alter zwar gegeben; aber sie sind damit noch nicht verwirklicht. Es müssen auch im hohen Alter positive Rahmenbedingungen gegeben sein, damit diese Potenziale tatsächlich verwirklicht werden. Eine bedeutsame Rahmenbedingung bildet dabei die seelisch-geistige Gesundheit: Sie ist die conditio sine qua non nicht nur des Aufbaus von Entwicklungspotenzialen im Lebenslauf, sondern auch ihrer Verwirklichung im hohen Alter. Aus diesem Grunde ist bei der Thematisierung von Gesundheit und gesundheitlicher Versorgung auf die seelisch-geistige Gesundheit ganz ähnliches Gewicht zu legen wie auf die körperliche Gesundheit. Als weitere positive Rahmenbedingung ist eine anregende, teilhabeförderliche Umwelt zu nennen, die die Motivation sowohl für die Selbstgestaltung als auch für die Weltgestaltung stärkt. Hier nun ist auf einen Aspekt hinzuweisen, den wir in eigenen Studien zur Lebenssituation von alten Menschen finden konnten: Nämlich der Austausch von gegebener und empfangener Hilfe in Sorgebeziehungen (Kruse, 2017; Kruse & Schmitt, 2016).
Was ist damit gemeint? Ich erfahre Sorge von anderen Menschen, aber ich schenke auch anderen Menschen Sorge. Ich habe die Möglichkeit, genauso Sorge zu empfangen wie Sorge zu geben. Damit ist der Austausch von Sorgeleistungen angesprochen. Sorgebeziehungen, in denen ich nur Sorge oder Hilfe empfange, sind für mein Wohlbefinden, sind für meine Lebensqualität nicht (unbedingt) funktional oder sogar optimal. Denn in solchen Beziehungen kann ich mich rasch als »abhängig« erleben, was sich negativ auf mein Bild von mir selbst auswirkt. Entscheidend ist, dass ich immer wieder Gelegenheiten finde, die empfangene Sorge und Hilfe zu erwidern, sei es Menschen gegenüber, von denen ich diese Sorge und Hilfe erhalte, sei es anderen Menschen gegenüber. In unseren Studien konnten wir nun den Nachweis erbringen, dass alte Menschen vor allem dann Entwicklungspotenziale verwirklichen, dass es ihnen vor allem dann gelingt, in und trotz der Erfahrung eigener Verletzlichkeit Entwicklungs- oder Reifungsschritte in dem oben genannten Sinne zu tun, wenn sie in Sorgebeziehungen stehen, in denen sie Sorge empfangen, aber gleichzeitig auch Sorge geben. Die gegebene Sorge haben wir dann noch einmal differenziert in sorgen für und sich sorgen um. Vor dem Hintergrund der in diesen Studien gewonnenen Erkenntnisse lässt sich konstatieren, dass seelisch-geistige Reifung bei Verletzlichkeit ohne die Wechselseitigkeit von empfangener und gegebener Sorge überhaupt nicht denkbar ist (ausführlich in Kruse, 2017). Das heißt: Die Verbindung von Verletzlichkeit und Reife ist grundsätzlich vor dem Hintergrund der Qualität der Beziehungen im sozialen Netzwerk zu betrachten. Inwieweit bietet sich in diesen Beziehungen die Gelegenheit zum Austausch von Sorge und Hilfe?
Mit diesem Aspekt spreche ich eine enge Beziehung zu Erkenntnissen und Erfahrungen an, die in der Palliativversorgung (Palliative Care) und in der Hospizarbeit immer wieder gewonnen werden. Es ist zu beobachten, dass schwerkranke, ja, dass selbst sterbende Menschen das Bedürfnis zeigen, etwas für jene Menschen zu tun, die sie in der Krankheit und im Sterben begleiten. Besonders deutlich wird dies, wenn die therapeutischen, pflegerischen, sozialen, seelsorgerischen und ehrenamtlichen Begleiterinnen und Begleiter von einem schwerkranken oder sterbenden Menschen gefragt werden: »Und wie ist Ihnen zumute? Wie geht es eigentlich Ihnen? Wollen Sie nicht auch von sich erzählen?« und dabei spüren, wie stark sich dieser mit ihrer Situation identifiziert. Oder die Bereitschaft, andere Menschen am eigenen Sterben teilhaben zu lassen, um ihnen die Sorge oder Angst vor der eigenen Endlichkeit zu nehmen: Auch diese ist Ausdruck der Sorge, die man anderen Menschen zuteilwerden lässt und die von diesen in aller Regel als eine Bereicherung empfunden werden.
»Sorge« ist in der deutschen Sprache eher negativ konnotiert (»besetzt«). Mit Sorge wird etwas Schweres, Belastendes, wenn nicht sogar eine eher niedergedrückte Stimmung assoziiert. Dabei zeigt uns der Blick in die Literatur – von so unterschiedlichen Autoren wie Martin Heidegger (»Sein und Zeit« [1927]), Albert Camus (»Der Mythos des Sisyphos« [1942]), Hannah Arendt (»Vita activa oder vom tätigen Leben« [1960]) –, dass Selbstgestaltung und Weltgestaltung, dass die Entscheidung für das Leben, dass das gesellschaftliche und politische Engagement des Menschen ohne das Motiv der Sorge eigentlich gar nicht denkbar sind. Natürlich gibt es Situationen, in denen wir den Eindruck gewinnen: Die Sorge um andere Menschen ist Ausdruck von Niedergeschlagenheit, Niedergedrücktheit. Diese Sorge ist hier aber nicht gemeint. Gemeint ist die Sorge, die von einem wirklichen Interesse an einem anderen Menschen (oder an anderen Menschen bzw. an der Menschheit überhaupt) getrieben ist, die immer auch bei den Anderen und nicht nur bei einem selbst ist.
Um zusammenzufassen: Die Einstellung und Haltung zum eigenen Tod sehe ich auch in ihrer Abhängigkeit von der Tiefe, in der Menschen die Verbindung von Verletzlichkeit, Sorge und Reife verwirklichen. Ich gehe von der Annahme aus, dass im Falle einer geglückten Verbindung dieser drei Merkmale – nämlich in dem Sinne: Menschen leben in produktiven, reziproken Sorgebeziehungen und in diesen Beziehungen gelingt es ihnen, trotz und in der Verletzlichkeit Entwicklungs- oder Reifungsschritte zu tun – die eigene Endlichkeit eher angenommen oder hingenommen werden kann. Wobei nicht vergessen werden darf: Der eigene Tod ist im Kern gar nicht denkbar, nicht wirklich zu antizipieren. Aber wir nähern uns der Erfahrung eigener Endlichkeit immer weiter an und dies vor allem in den Verletzlichkeitserfahrungen. Wenn wir in Sorgebeziehungen der oben genannten Art stehen und uns seelisch-geistig weiterentwickeln: Dann können und werden wir diese Annäherung eher wagen und die mit ihr verbundenen Erlebnisse und Erfahrungen eher »aushalten«.