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Die sich wandelnde Ich-Identität im Lebenslauf

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Auch wenn die Ausbildung von Ich-Identität als eine spezifische Leistung des Jugendalters gedeutet wird, so darf nicht unbeachtet bleiben, dass in der von Erik H. Erikson & Joan Erikson erarbeiteten Theorie die Persönlichkeitsentwicklung über den gesamten Lebenslauf unter dem Aspekt der Ich-Identität betrachtet wird: Die einzelnen Entwicklungsphasen sowie die ihnen zugeordneten Entwicklungsziele bilden Varianten der Ich-Identität. Das heißt: Die Identität muss im Laufe des Lebens immer wieder neu erworben werden – und dies vor dem Hintergrund des jeweils neuen Entwicklungsziels, das sich mit Erreichen einer neuen Lebensphase stellt. Diese Aussage ist nun alles andere als trivial. Sie macht in besonderer Weise deutlich, dass in allen Phasen unseres Lebens Entwicklungsnotwendigkeiten und Entwicklungsmöglichkeiten bestehen. Vor deren Hintergrund differenziert sich unsere Ich-Identität, werden neue Aspekte der Identität thematisch. Besonders wichtig erscheint mir nun die Tatsache, dass auch im hohen Alter – ebenso wie in früheren Lebensabschnitten – Entwicklungsnotwendigkeiten und Entwicklungspotenziale gegeben sind, dass sich auch im hohen Alter die Aufgabe einer weiteren Differenzierung der Identität stellt: So zum Beispiel in dem Sinne, dass das Individuum über Erfahrungen, Erkenntnisse und Wissen verfügt, die an nachfolgende Generationen weitergegeben werden können und somit über die eigene irdische Existenz hinausweisen – ein zentrales Beispiel für symbolische Unsterblichkeit. So aber auch in dem Sinne, dass die wachsende Bedeutung des Lebensendes einen Lebensrückblick anstößt, in dessen Verlauf bestimmte biografische Ereignisse und Prozesse noch einmal eine neue Bewertung erfahren. So schließlich in dem Sinne, dass neben der Endlichkeit auch die Verletzlichkeit immer deutlicher in das Zentrum des Erlebens tritt und damit auch Wandlungen (im Sinne von Differenzierungen) der Ich-Identität erfordert. Auf diese psychischen Prozesse muss das soziale Nahumfeld, müssen aber auch unsere Gesellschaft (hier vor allem die gesellschaftlichen Institutionen) sowie unsere Kultur sensibel reagieren. Eine sensible Reaktion ist dann nicht gegeben, wenn die Annahme vorherrscht, im hohen Alter verändere sich die Persönlichkeit nicht mehr, und wenn: dann nur im Sinne von Verlusten und Defiziten (zum Beispiel in der Anpassungsfähigkeit oder Kreativität). Nein, eine ganz andere Reaktion ist notwendig: Nämlich mit alten Menschen in einer tiefgehenden Art und Weise darüber zu kommunizieren, welche seelisch-geistigen Prozesse sie an sich selbst wahrnehmen, inwieweit sie bei der Betrachtung des Lebens, aber auch in der Kommunikation mit anderen Menschen zu neuen Einsichten und Erkenntnissen gelangen (Introspektion), inwieweit sie sich – trotz aller Verluste und Einbußen – auch weiterhin an das Leben gebunden fühlen (Lawton, Moss, Hoffman et al., 1999). Diese Art der Kommunikation ist von größter Bedeutung für die notwendige Differenzierung der Identität. Und sie kann letzten Endes auch helfen, Verletzlichkeit, Endlichkeit und Tod als bedeutende Aspekte ebendieser Identität zu begreifen und zu leben. Um es pointiert auszudrücken: Unsere Einstellung und Haltung zum Tod, die Art und Weise, mit welchen Gedanken und Gefühlen wir unsere Verletzlichkeit und Endlichkeit verbinden, ist auch (natürlich nicht nur) das Ergebnis der Kommunikation mit anderen Menschen, vor allem mit Menschen, die uns sehr nahestehen, die wir als »Stabilisatoren« (Herbert Plessner) wahrnehmen: In dem Maße, in dem sich diese Kommunikation »wahrhaftig« gestaltet (Karl Jaspers), in dem wir uns in dieser Kommunikation »aus der Hand geben« und uns »in unserer Einzigartigkeit zeigen« können (Hannah Arendt), wird es uns eher gelingen, bewusst auf unser Ende zu blicken und dieses – soweit uns dies vergönnt ist – mitzugestalten.

Bleiben wir noch kurz bei der Ich-Identität stehen. Blicken wir auf das Werk von Erik H. Erikson und Joan Erikson, so werden wir in drei Aspekte von Ich-Identität eingeführt, die wir im Hinblick auf den Umgang des Menschen mit Verletzlichkeit, Endlichkeit und Tod gar nicht hoch genug einschätzen können. Diese drei Aspekte mögen auf den ersten Blick trivial anmuten. Wenn man sie allerdings etwas genauer betrachtet, dann verraten sie uns viel über ein tiefgehendes Verständnis von Entwicklung wie auch über die Bedeutung unseres sozialen und kulturellen Umfeldes für Entwicklung. Um welche Aspekte handelt es sich?

1. Identität ist eine in allen Lebensphasen immer wieder neu zu erbringende und deshalb prinzipiell eine immer nur vorläufige Integrationsleistung;

2. Identität ist wesentlich von den angenommenen oder tatsächlichen Sichtweisen und Bewertungen anderer Menschen mitgeprägt;

3. Identität hat nicht allein privaten, sondern immer auch gemeinschaftsbezogenen Charakter.

Was ist damit ausgesagt? Bis in das hohe Alter, ja, bis zu unserem Lebensende ist uns die Aufgabe gestellt, an unserer Identität zu arbeiten: Sei dies durch den nach innen gerichteten Blick (Introversion), der in neue Einsichten und Erkenntnisse mündet, sei dies durch den Lebensrückblick, zum Beispiel in Form von Lebensgeschichten, die wir aufschreiben oder anderen Menschen in Gesprächen mitteilen, sei dies durch alte Interessengebiete, die wir neu aufleben lassen, sei dies durch ganz neue Interessengebiete, sei dies durch den intensiven Austausch mit nahestehenden Menschen der eigenen Generation oder nachfolgender Generationen, oder sei dies durch vertraute bzw. neue Formen spiritueller bzw. religiöser Aktivität. Entscheidend ist: Wir sollten das hohe Alter nicht mit einem seelisch-geistigen Stillstand gleichsetzen, dabei auch nicht dem Fehler verfallen, die größere Gelassenheit im Alter mit fehlendem Interesse an anderen Menschen bzw. an der Welt oder mit geringem Engagement für andere Menschen bzw. für die Welt gleichzusetzen. Nichts davon ist richtig. Vielmehr ist die Annahme korrekt, dass sich unsere Psyche (unser Selbst) im hohen Alter in besonderem Maße gefordert und herausgefordert sieht, was auch bedeutet, dass diese (bzw. dieses) ein hohes Maß an seelisch-geistiger Entwicklungsarbeit leisten muss. Und leisten kann, wenn die entsprechenden kognitiven und emotionalen Ressourcen gegeben sind, wenn das soziale Nahumfeld anregt, unterstützt, erwidert. Und damit ist der zweite Aspekt angesprochen: Nämlich jener der Einstellungen und Haltungen, die wir alten Menschen gegenüber (versteckt oder offen) zeigen: Wenn wir das hohe Alter diskreditieren, wenn wir alte Menschen diskriminieren: Dann fühlen sich diese in der Welt fremd, dann haben sie das Gefühl, »aus der Welt gefallen zu sein« (Else Lasker-Schüler). Sie fühlen sich mit und in ihrer Verletzlichkeit und Endlichkeit alleingelassen. Unter einer solchen Bedingung kann sich die Identität nicht mehr differenzieren, kann sich das Interesse an der Welt nicht mehr erhalten. Und dies bedeutet eben auch einen Verlust für die Welt. Hier füge ich meine (in vielen empirischen Untersuchungen gewachsene) Überzeugung an, dass der lebendige, fruchtbare Austausch mit alten Menschen – und dabei auch mit jenen, bei denen die Verletzlichkeit und Endlichkeit nicht nur nach innen fühlbar, sondern auch nach außen hin erkennbar ist – eine wirkliche Bereicherung bedeuten kann. Wenn aber alte Menschen das Interesse an der Welt aufgeben, dann ist damit eine Form der bereichernden Kommunikation dahin. Wir sehen: Die Identität, die Identitätsentwicklung hat immer auch gemeinschaftsbezogenen Charakter: Sie wird von der Gemeinschaft beeinflusst wie sie auch auf die Gemeinschaft einwirkt.

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