Читать книгу Sinja und der siebenfache Sonnenkreis - Andreas Milanowski - Страница 26
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ОглавлениеDie beiden verließen die Terrasse, sprangen die Treppe hinunter, überquerten im Laufschritt die Lichtung und erreichten Emeldas Unterstand. Im Gegensatz zu Gamanziels Behausung gab es hier nichts Überflüssiges, nichts, was einfach nur schön war. Die Dinge waren praktisch sortiert und geordnet. Schuhe und Stiefel standen in einer Reihe, mehrere Kisten und Körbe daneben, die Kleidungsstücke und Dinge des täglichen Bedarfs enthielten. Verschiedene Bögen und Köcher mit verschieden langen Pfeilen standen an einer Wand und warteten auf ihren Einsatz. Alles in allem erinnerte Emeldas Einrichtung eher an ein Militärcamp, als eine Wohnung.
„Wie kommen wir jetzt in die andere Welt, wenn niemand drüben ist, der dich ruft?“, fragte Sinja.
„Oh Mist! Du bist ja hier! Ich hab´ nicht dran gedacht. Wir brauchen den Taktstock! Bleib hier, Sinja, ich bin gleich wieder zurück!“
„Taktstock?“
Emelda ließ Sinja mit ihrer Frage stehen. Sie verschwand, kehrte wenig später zurück und hatte einen spindeldürren, schwarzen Stab in der Hand.
„Da ist das Ding!“, rief sie Sinja schon von Weitem zu.
„Ein Zauberstab?“, fragte Sinja.
„Nein! Ein Taktstock!“
„Wozu brauchen wir einen Taktstock?“
„Das wirst du gleich sehen. Eigentlich ist es uns streng verboten, diese Dinger zu benutzen. Cichianon hat aber, für alle Fälle, einen in seiner Hütte versteckt. Das darf natürlich niemand wissen. Vor allem sollten wir zusehen, dass der Magus nichts davon erfährt. Der würde uns die Elfenohren noch länger ziehen.“
„Warum?“, fragte Sinja, „was ist daran so schlimm?“
„Du willst es wissen?“
„Selbstverständlich!“
„Gut! Wir waren jung!“
„Verstehe!“
„Nichts verstehst du! Die Sache mit dem Taktstock war Teil der Ausbildung in weißer Magie, die jede Tonelfe erhält. Du lernst da nicht viel, nur die Grundlagen. Und dazu gehört, wie man mithilfe des Taktstocks in die Menschenwelt reist.“
„Ich dachte immer, einen Taktstock braucht ein Dirigent, um sein Orchester….“
„Nicht nur. Man kann eben auch andere Dinge damit machen.“
„Und was habt ihr angestellt?“, fragte Sinja.
„Es gab ein paar Regeln.“
„Und die habt ihr, wie ich euch kenne, fröhlich missachtet!“
„Wie gesagt, wir waren jung.“
„Jetzt mach´s nicht so spannend!“, rief Sinja.
„Wir haben ziemlich viel Chaos veranstaltet. Auf einmal tauchten Leute aus der Menschenwelt in Dorémisien auf, die hier überhaupt nichts zu suchen hatten und leider auch umgekehrt. Aber das Schlimmste war, als wir, während einer Orchesterprobe, den Taktstock eines Dirigenten gegen einen unserer Taktstöcke ausgetauscht hatten. Als der Arme anfing, mit dem Ding zu wedeln, hat es `wusch´ gemacht und er war verschwunden. Es hat ziemlich lange gedauert, bis wir herausgefunden hatten, wohin er gereist war und noch länger, ihn da wieder raus zu holen.“
„Wo war er gelandet?“, fragte Sinja neugierig und musste grinsen.
„In der Badewanne einer Hofdame der Königin. Die Gute nahm gerade ein Vollbad und saß bis zum Kinn im Schaum, als auf einmal der Dirigent mit schwarzem Frack und Fliege in ihre Wanne klatschte. Es gab einen Riesenskandal. Und als der Magus herausgefunden hatte, wer dafür verantwortlich war, hat er alle Taktstöcke einsammeln lassen. Das Reisen mit dem Taktstock wurde vom Lehrplan gestrichen und das wars.“
„Und dieser….?, fragte Sinja und deutete auf das Instrument, das Emelda in der Hand hatte.
„Den einen hier, den haben sie damals vergessen, keine Ahnung, warum. Cichianon hat ihn gefunden und versteckt. Normalerweise halten wir uns an das Verbot. Wir wollen ja nicht unnötig Ärger, aber in diesem Fall müssen wir eine Ausnahme machen. Es muss sein! Es ist wichtig! Ich bin mir nur nicht sicher, ob der Magus das genauso sieht.“
Bei diesen Worten malte Emelda mit drei schwungvollen Bewegungen einige Kurven in die Luft, die für Sinja wie eine Vier aussah. Als sie die Figur beendet hatte und mit dem Stock wieder an der Spitze ankam, ertönte ein leises `Bing´ und die beiden standen im Wohnzimmer von Sinjas Zuhause.
„Wahnsinn!“, staunte Sinja und versuchte, zu begreifen, was gerade geschehen war, „es hat geklappt!“
„Jetzt red´ nicht lange rum“, drängelte Emelda, „schnapp dir die Geige und lass uns verschwinden! Wir haben´s eilig!“
Sinja nahm die Geige, packte das Instrument und den Bogen schnell in den braunen Geigenkoffer und schaute nach, ob das Kästchen mit dem Kolofonium an seinem Platz war. Von draußen hörten sie das Geräusch eines Schlüssels, der im Schloss herumgedreht wurde. Die Wohnungstür wurde geöffnet. Mit einem Klick schloss Sinja den Geigenkoffer.
„Fertig! Wir können! Los! Schnell, da kommt jemand!“, flüsterte sie. In diesem Moment wurde die Klinke der Wohnzimmertür heruntergedrückt. Blitzschnell schrieb Emelda die Vier in die Luft, wieder ertönte das `Bing´ wie das Haltesignal eines Fahrstuhls und schon standen die beiden mitsamt dem Geigenkoffer in Emeldas Riesenfarnhütte. Dort, wo sie eben noch gewesen waren, im Wohnzimmer, lag noch für einige Sekunden ein silbriger Schimmer in der Luft.
„Puh, das war knapp!“, stieß Sinja erleichtert hervor, „und außerdem ziemlich einfach. Ich wundere mich wirklich, dass ihr sonst immer so einen Riesenaufwand betreibt…!“
„Ja, wir betreiben einen Riesenaufwand und ja, es könnte viel einfacher gehen. Aber ich sage dir: wenn das rauskommt, dass wir den Taktstock benutzt haben, dann ist Feuer unterm Dach. Das gibt Riesenärger!“
„Gut, gut! Ich hab´s ja verstanden. Von mir wird es bestimmt niemand erfahren!“, sagte Sinja.
„Fein! Wir haben jetzt alles zusammen, was wir brauchen. Dann sollten wir uns bereitmachen und bald aufbrechen. Gehen wir mal hören, was die Anderen dazu sagen.“
Sinja und Emelda kehrten auf die Terrasse zurück, wo die anderen fünf gerade ihr Frühstück beendet hatten.
„Dann können wir starten?“, fragte Cichianon, als die beiden von ihrem Kurzausflug berichtet hatten, „aber bevor wir losziehen, möchte ich doch das flammende Herz einmal bewundern.“
„Oh ja“, rief Gamanziel, „ich will es auch sehen!“
„Ja, Sinja, komm´, pack die Geige aus!“, forderte auch Amandra. Sinja zierte sich ein wenig, setzte dann aber den Geigenkoffer auf einem der Sessel ab, öffnete den Verschluss, legte das Schutztuch beiseite und nahm vorsichtig die Geige aus dem Koffer. Von dem Instrument ging ein bernsteinfarbenes Leuchten aus. Das Pappelholz des Geigenbodens war so gemasert und gelackt, dass es in der Tat aussah, als würden Flammen aus ihm hervorzüngeln.
„Jetzt weiß ich, warum die Geige `flammendes Herz´ genannt wird“, flüsterte Gamanziel ehrfurchtsvoll, „es sieht wirklich aus, als würde sie brennen.“
„Ja, es ist grandios!“, staunte auch Ferendiano, „wollen wir ein kleines Stückchen spielen?“
„Gerne!“, antwortete Sinja freudig, „ich übe gerade eine russische Melodie. Hör mal zu, vielleicht kriegen wir es zu zweit hin.“
Sinja nahm die Geige auf, zupfte kurz die leeren Saiten an, um die Stimmung zu prüfen, spannte ihren Geigenbogen und setzte das Instrument an. Mit viel Gefühl spielte sie ihre russische Volksweise, ein trauriges Stück mit komplizierten Rhythmen. Sie hatte kaum die ersten Takte gespielt, da begann die Geige zu leuchten. Silbrige Lichtfäden schwebten durch die Luft. Der ganze Wald schien plötzlich zu lauschen und mit Sinjas Melodie zu schwingen. Ferendiano hörte einen Moment still zu. Dann griff er nach seiner Flöte und begann, leise Sinjas Melodie mitzuspielen, spielte eine zweite Melodie dazu und so woben die Klänge der beiden Instrumente sich ineinander und wurden eins. Ein Klang, eine Harmonie. Wenn sie am Schluss des letzten Taktes angekommen waren, begannen sie wieder von vorne…und noch einmal…und noch einmal. Nach der dritten Wiederholung nickten sich Sinja und Ferendiano kurz zu und beendeten ihr Spiel. Einen kurzen Moment verharrte der letzte Ton, schwang sich noch einmal auf und empor und verlor sich dann zischen den Bäumen Engils. Stille trat ein. Kein Vogel zwitscherte im Wald, kein Ast knackte, kein Wind strich durch die Äste der Bäume, als hätte der ganze Wald andächtig der Musik der Beiden gelauscht. Für einen Moment schien das Leben im Wald geruht zu haben. Die beiden Musiker lächelten sich voller Freude an.