Читать книгу Sinja und der siebenfache Sonnenkreis - Andreas Milanowski - Страница 35

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„Sehr wohl! Wenn ich mir erlauben dürfte, die Damen zu führen. Hier hinaus bitte sehr.“

Er wies Sinja und Emelda den Weg. Sie verließen den Festsaal, der im vorderen Teil des Palastes gelegen war. Unter den Augen von Königin Myrianas versammelter Vorfahrenschaft gingen sie einen weiten Flur entlang.

Die Damen und Herren des fasolandischen Hochadels waren auf, teils überaus düsteren Ölgemälden verewigt und schauten den Betrachter, je nach Temperament, grimmig, gütig, frivol, streng oder miesepetrig an, manche stolz oder verächtlich. Einige sahen auch einfach nur furchtbar dumm aus. Zabruda Menroy stellte, äußerst akkurat, einen nach dem anderen mit Namen, Titel, Herkunft, Regierungszeit, beziehungsweise seinem jeweils ausgeübten Amt vor. Alle, die auf den Gemälden an der Wand zu sehen waren, wurden ausnahmslos erwähnt. Nicht einen Einzigen ließ er aus und hatte zuweilen spannende Geschichten zu erzählen, auch wenn die blaublütigen Damen und Herren teilweise schon etwas angestaubt wirkten. Maleficia Adoney, zum Beispiel, war zu sehen, die dreibrüstige Gräfin von Klein-Septimien, die eines Tages Drillinge gebar. Von diesem Moment an betrachtete sie ihre dritte Brust nicht mehr als Schande, sondern als überaus großherzige Schenkung der Natur. Sie hatte in der Folge den griechischen Gott der Fruchtbarkeit und des Rausches, Dionysos, zu ihrem persönlichen Heilsbringer auserkoren und brachte ihm nun an jedem dreiunddreißigsten Sonnentanz ein Opfer in Form von Trauben und Wein dar. Da sie, was den Genuss des Weines anging, außer an den Gott, in mindestens gleichem Masse an sich selbst dachte, hatte sie bald den Spitznamen `das dreibusige Weinfass´ erhalten. Ihr gegenüber hing ein Portrait des gestrengen Anger Mores, eines Urgroßonkels von Königin Myriana. Schon der Blick, mit dem er den Betrachter des Bildes durch sein Monokel musterte, ließ Sinja das Blut in den Adern gefrieren. Unwillkürlich musste sie über alle ihre Sünden nachdenken. Anger, ursprünglich Priester der vier Elemente, hatte seinerzeit, aus Unzufriedenheit über die lockere Moral der fasolandischen Jugend, eine eigene Kirche gegründet. Diese hatte sich zur Aufgabe gemacht, der Jugend des Landes Unzucht und Arbeitsscheu, wie er es nannte, notfalls mit Gewalt auszutreiben. Leider hatte Anger es in seinem Bekehrungseifer mit den Mores so sehr übertrieben, dass er eines schönen Sonnentanzes beim ersten Strahl der aufgehenden Sonnen am Brunnen vor dem Tore von seinen eigenen Jüngern zu Tode gesteinigt und unter dem dort stehenden Lindenbaum verscharrt worden war.

„Ein grauenvolles Ende für einen so tapferen Mann“, kommentierte Menroy seine eigene Erzählung und musste sich ein wenig schütteln bei dem Gedanken an die scheußlichen Umstände des Dahinscheidens des guten Anger. Melosine Mondragon war zu sehen, eine Großcousine dritten Grades der südlichen Linie von Königin Myrianas Mutter, die ihren Ehemann, den Baron zu Quintenburg und Kleinterz, aus Eifersucht vergiftet hatte und danach im Ententeich unter ungeklärten Umständen Selbstmord beging. Casine Manderley hing neben Blender Bentheim, Galinda Bensdat neben Banday Forderstett, der Herzog von Atonalien neben der Comtessa da prima Secunda. Geschichten über Geschichten, mal blutrünstig, mal verschroben, exzentrisch und traurig, heldenhaft und irrsinnig, ganz normale und ganz verrückte Begebenheiten ganz normaler und völlig verrückter Vorfahren des Königshauses. Bilder aller Ahnen waren zu sehen, ihre Abenteuer zu hören. Ein Bild jedoch fehlte - und eine Geschichte und das machte Sinja stutzig:

„Darf ich sie mal was fragen, Mister Menroy?“

„Aber selbstverständlich, Fräulein Sinja. Mit welcher Auskunft kann ich dienen?“

„In dieser Ahnengalerie fehlt ja eigentlich nichts und niemand. Selbst irgendwelche merkwürdigen entfernten Großtanten und Schwippschwager dritten und vierten Grades hängen hier. Alle, die Großmütter von Königin Myriana, ihre Großväter, die Tanten und Großtanten, Cousins und Cousinen haben hier Platz. Nur einer fehlt: ihr Vater? Die Königinmutter Merigone ist da, aber der Vater fehlt. Warum?“

Sinja sah aus dem Augenwinkel, wie Zabruda Menroy bei ihrer Frage für einen kurzen Moment erstarrte. Dann fasste er sich wieder und antwortete kühl:

„Königin Myrianas Vater wurde offiziell für tot erklärt. Wenn von Seiten der Damen diesbezüglich weitere Auskünfte gewünscht werden, dann bitte ich doch, sich an die Königin selbst zu wenden, falls sie ihre Entführung unbeschadet überstehen sollte. Ich bin leider nicht befugt, über diese Angelegenheit irgendwelche Auskünfte oder Stellungnahmen abzugeben.“

Damit war die Führung durch den Ahnenflur abrupt beendet.

„Wenn die Damen mir dann bitte folgen wollen.“ Zabruda Menroys Ton hatte sich binnen weniger Augenblicke von freundlich-zuvorkommend auf sachlich-distanziert geändert.

Oh, oh!, dachte Sinja, in welches Wespennest hab´ ich denn da gerade reingestochert? Na ja, vielleicht wird Myriana mir irgendwann die Geschichte erzählen, wenn wir dazu kommen. Dann sagte sie laut: „Mister Menroy, es tut mir leid, wenn ich ihre Gefühle verletzt habe. Das war nicht meine Absicht und ist sicher aus Unwissenheit geschehen. Ich hatte keine Ahnung, dass das eine so schwierige Frage für sie ist. Ich habe mich einfach nur gewundert, dass sein Bild nicht dort hängt!“

„Es ist gut, Kind!“, sagte Menroy traurig, „es ist gut. Natürlich kannst du nichts dafür. Woher sollst du es wissen. Du bist erst zum zweiten Mal in Fasolanda und beim ersten Mal hattet ihr einen Krieg zu gewinnen und sicher etwas anderes zu tun, als uralte, längst vergessene Familiengeschichten aufzuwärmen, wenn ich mich recht erinnere.“

„Ja, das ist wahr!“, antwortete Sinja, „ich möchte sie jetzt auch nicht weiter damit behelligen. Vielleicht findet Königin Myriana die Zeit, es mir zu erklären, wenn das alles hier vorbei ist. Ich möchte jetzt das Ankleidezimmer sehen.“

Menroy ließ es auf sich beruhen. Sinja und Emelda folgten ihm noch einige Schritte durch einen weiteren, langen Gang, der hinter einer Tür in einem Vorraum endete. Von diesem aus führten Treppen links und rechts ins erste Stockwerk. Geradeaus, durch eine verglaste Tür kamen sie in einen Hof. Linker Hand waren Stallungen zu sehen. Es musste sich um Pferdeställe handeln. Zaumzeug hing an der Wand. Eine zweispännige Kutsche stand ausgeschirrt auf dem Hof. Ein gemauerter Torbogen überspannte das Hoftor rechts der Ställe. Es stand offen und so konnte Sinja einen Blick auf die dahinterliegenden Felder und Wiesen werfen, sowie eine Reihe hoher, spitzer, zedernartiger Bäume, die einen Weg säumten, der vom Schloss weg, in Richtung eines kleinen Waldstückes führte. Auf der anderen Seite des Hofes lag ein, in Sonnengelb getünchtes Gebäude. Ein heller Kiesweg führte dort hin. Das Dach des Hauses war mit grauem Schiefer gedeckt. Eine weite Treppe mit einem geschwungenen Steingeländer lief auf zwei weiß gestrichene, offenstehende Flügeltüren zu. Links und rechts des Eingangs waren, auf kleinen Sockeln stehend, zwei Delfine zu sehen. Menroy führte Sinja und Emelda die zehn Stufen hinauf.

„Das Ankleidezimmer ihrer Majestät liegt im ersten Stock auf der Rückseite des Hauses“, erklärte Menroy. „Es stehen einige Bäume dort, unmittelbar vor dem Zimmerfenster. Wir vermuten, dass der Entführer über diesen Weg eingedrungen ist.“

„Aber sie werden doch die Königin nicht über die Bäume nach unten gebracht haben?“, wollte Sinja wissen.

„Das sicher nicht! Wir vermuten, dass sie zu zweit waren und sie schlicht abgeseilt haben. Sie haben sie vermutlich gefesselt und mit einem Seil durch das Fenster hinuntergelassen.“

„Unglaublich!“, staunte Emelda, „da gehört schon einiges an Frechheit dazu, so eine Aktion am helllichten Sonnentanz durchzuführen. Denen muss doch klar gewesen sein, dass sie jederzeit entdeckt werden können. Also mir wäre das, ehrlich gesagt, zu gefährlich, wenn ich eine solche Unternehmung planen würde.“

„Ja, da ist was dran, Emmi!“, sagte Sinja, „entweder waren die Entführer furchtbar dumm und dreist oder sie waren sich ihrer Sache so sicher, dass sie Vorsicht für vollkommen überflüssig gehalten haben. Vielleicht läuft hier aber auch eine ganz andere Sache, von der wir nur noch nichts wissen.“

„Was meinst du?“, fragte Emelda.

„Das weiß ich selbst noch nicht genau“, antwortete Sinja, „…eine Ahnung, mehr nicht. Einerseits hört es sich an, als sei alles völlig klar, aber gleichzeitig will man´s nicht glauben, weil man es für unmöglich hält. Aber, schauen wir uns das Zimmer erstmal an. Vielleicht bringt uns das ja einen Schritt weiter.“

Eine ausladende Treppe höher - Sinja hatte diesmal darauf verzichtet, die Stufen zu zählen - betraten sie, am Ende eines kleinen Flures auf der rechten Seite, das Ankleidezimmer der Königin. Die Dielen des hellen Holzbodens knarrten leise, als Sinja ehrfürchtig einen Schritt in den geheimnisvollen Raum wagte. Die Wände waren weiß gestrichen. Ein cremefarbener runder Teppich mit goldumrandeten Rosenmotiven schmückte den Fußboden. Ein zierlicher Kleiderschrank mit fein gearbeiteten Kassettentüren, wie alle anderen Möbel in Creme lackiert, mit zarten, apricotfarbenen Verzierungen, schmiegte sich an eine Wand des Zimmers. Mehrere Stühle und Sessel mit schmalen, zerbrechlich wirkenden, geschwungenen Beinen standen im Raum. Dem Schrank gegenüber befand sich ein Frisiertisch mit zwei Schubladen auf jeder Seite, dessen Aufbau ein aufwändiges Rosengemälde zeigte, dass in der Mitte geteilt war. Neben dem Frisiertisch stand, in einem Blumengestell, eine Farnpflanze. Der ganze Raum war von Sonnenstrahlen durchflutet, die durch zwei große Glasflügeltüren eingelassen wurden. Das Sonnenlicht ließ die Blätter der Farnpflanze so intensiv und übernatürlich leuchten, dass Sinja das Gefühl hatte, jeden Moment müsse eine Fee oder irgendein anderes, magisches Wesen mit einem Zauberstab hinter dem Pflanzentopf hervorkommen. Vor jeder der beiden Türen gab es jeweils einen kleinen Balkon auf die, in der Tat, die Äste mehrerer Bäume herunterhingen. Sinja besah sich einen der Balkone.

„Hm! Wenn ich mir das jetzt so angucke: schon möglich, dass die hier rauf gekommen sind. Aber mit Königin im Gepäck wieder runter? Das glaube ich nicht. Wie soll das gegangen sein. Schaut euch dieses Geländer an. Es ist leicht bemoost. Wenn die hier die Königin abgeseilt hätten, dann müsste man Schleifspuren des Seiles erkennen können, aber hier ist nichts.“

Sinja kratzte ein wenig auf dem verwitterten Handlauf des Geländers herum und hatte im Nu die weiße Farbe freigelegt, in der das Geländer ursprünglich gestrichen war. „Genau diese Farbe müsste man sehen, wenn hier eine Last mit einem Seil heruntergelassen worden wäre. Nichts! Die Seilnummer können wir streichen. Es muss anders vonstattengegangen sein, aber wie? Lass mal sehen. Hat schon jemand das Zimmer untersucht?“

„Nun, wir haben überall nachgesehen!“, antwortete Menroy, „allerdings natürlich in erster Linie auf der Suche nach der Königin. Wir sind ja nicht von Anfang an von einer Entführung ausgegangen.“

„Waren bei der Untersuchung Frauen oder Mädchen dabei?“

„Warum? Nein! Es waren ausschließlich Männer! Was soll die Frage?“

„Ganz einfach“, antwortete Sinja, „Frauen und Mädchen schauen sich ein Mädchenzimmer anders an. Nehmen wir zum Beispiel mal diese wunderschöne, barocke Schminkkommode hier. Ich wette, keiner der Männer hat sich die Mühe gemacht, diesen Aufbau hier mal aufzuklappen. Wahrscheinlich wussten sie nicht einmal, dass das überhaupt möglich ist.“

„Da könnte das Fräulein Sinja sogar rechthaben!“ Menroy wurde kleinlaut. Es war ihm peinlich, eine so offensichtliche Sache nicht bemerkt zu haben.

„Sehen sie! Deswegen habe ich gefragt! Wenn Königin Myriana in ihrem Ankleidezimmer überfallen und entführt wurde, dann saß sie doch höchstwahrscheinlich dort, wo jede Frau während ihrer Morgentoilette sitzt: vor diesem Schminktisch. Ich gehe jede Wette ein, dass dieses Rosenbild hier nicht nur ein schönes Bild ist, sondern einen ganz praktischen Zweck hat, nämlich den dahinterliegenden Spiegel zu schützen. Und wenn sich das alles so abgespielt hat, wie ich es vermute, dann war der Schminktisch mit dem Spiegel der letzte Ort, an dem die Königin sich vor ihrer Entführung befand. Schauen wir uns das Ding doch mal näher an!“

Sinja ging zu der Schminkkommode und klappte die rechte Hälfte des Rosenbildes zur Seite. Dahinter erschien eine Seite eines Spiegels auf der einige rote Striche zu sehen waren. „Was ist das?“

Mit spitzen Fingern, um keine Spuren zu verwischen, öffnete sie auch den linken Flügel des Rosenbildes. Die zweite Seite des Spiegels tauchte auf. Weitere Linien wurden sichtbar, Buchstaben, Zeichen.

„Oh, Sinja, sieht aus, als hättest du recht!“, rief Emelda, die bis dahin stumm zugesehen hatte. Mit kirschrotem Lippenstift war in schneller, zittriger Schrift etwas auf das Spiegelglas geschrieben worden: MWA ZF b. „Was bedeutet das?“

„Sie wollte uns wohl einen Hinweis hinterlassen. Mehr hat sie nicht geschafft. Dann musste sie das Ding wohl zuklappen, weil die Entführer im Raum standen.“

„Ja, schon. Aber was will sie uns mit diesen Zeichen sagen? Es sieht aus, wie ein Code. ZF, Zimmer mit Frühstück? Kategorie b?“ Emelda war ratlos. Auch Zabruda Menroy stand mit fragendem Blick neben dem Frisierspiegel. Sinja dachte nach.

„Hm! So, wie das dasteht, macht es natürlich nicht allzu viel Sinn. Es erinnert mich aber an eine Signatur, ähnlich denen, die in Bibliotheken benutzt werden, um die Bücher zu sortieren.“

Wieder überlegte Sinja einen Moment.

„Mister Menroy“, sagte sie dann, „Fasolanda ist doch berühmt für seine Bibliotheken. Meinen sie, dass es möglich ist, einen Blick in eine davon zu werfen, sagen wir, zum Beispiel, die Musikbibliothek?“

„Nun“, antwortete Menroy bedächtig, „normalerweise ist das Betreten der musikalischen Bibliothek nur mit einem Leserausweis gestattet. Der muss beantragt und genehmigt werden, da die Besucherzahl begrenzt werden soll, um die Bücher zu schützen. Das ist ein langwieriges Verfahren und….“

„Das regeln sie doch für mich, Mister Menroy, oder etwa nicht?“, unterbrach Sinja die ausweichende Erklärung und blinzelte den Kammerdiener mit dem unschuldigsten Blick an, den sie in diesem Moment hinbekam.

„Ich will sehen, was sich machen lässt“, antwortete Menroy. „Vielleicht kann ich eine Ausnahmegenehmigung erwirken.“

„Ich wusste, dass sie das hinkriegen“, jubelte Sinja und zwinkerte Emelda zu.

Menroy läutete eine silberne Glocke, die auf einer Anrichte in der Nähe der Tür gestanden hatte. Ein Diener betrat wenige Augenblicke später die Kammer und fragte nach Mister Menroys Begehr. Dieser flüsterte ihm einige Anweisungen zu. Der Diener nickte sparsam, verbeugte sich knapp und verließ den Raum.

Sinja und der siebenfache Sonnenkreis

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