Читать книгу Die andere Seite der Stille - Andre Brink - Страница 11

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Dies ist, was vor dem Begräbnis geschah: Es ist schon spätabends, als sie den Schrei aus Katjas Zimmer hört, das gegenüber von ihrem eigenen liegt. Sie setzt sich im Bett auf. Niemand wird nachsehen kommen. Viele der Insassinnen schreien oder weinen nachts. Und Katja hat, wie jedermann weiß, Albträume, seit sie auf blutenden Füßen aus der Wüste zurückgehumpelt kam. Aber dieser Schrei jetzt kommt nicht aus einem Traum, das erkennt Hanna auf der Stelle. Sie kennt das Mädchen und sie weiß, was Albträume sind. Sie weiß über Schreie Bescheid. Dazu braucht man keine Zunge.

Nur in ihr Nachthemd gekleidet und ohne sich die Mühe zu machen, wie sonst ihr Gesicht mit der großen Mütze zu verhüllen, bewegt sich Hanna barfuß durchs Zimmer, um die Tür zu öffnen. Sie zieht ein Bein ein wenig hinter sich her, aber ist seit langem daran gewöhnt und bewegt sich dennoch rasch. Angespannt, die Stirn gegen den Türrahmen gepresst, wartet sie. Dann ertönt ein zweiter Schrei und danach etwas, was ein Schlag sein kann oder ein fallender Körper, daraufhin weitere gedämpfte Geräusche, dann die laute Stimme eines zornigen Mannes. Sie erreicht Katjas Tür und drückt dagegen. Sie ist nicht verriegelt.

Als sie über die Türschwelle stürmt, hält sie einen schweren Leuchter aus Messing in der Hand. Wie er da hineingekommen ist, weiß sie nicht. Dergleichen geschieht. Schon einmal, kurz nach ihrer Ankunft am Frauenstein, spazierte sie, weit entfernt vom Haus, durch die Steppe und setzte den Fuß direkt neben eine geblähte, hübsch braun und gelb gemusterte Puffotter. Als die Schlange vorschoss, sprang sie hoch, um dem Biss zu entgehen, und als sie wieder landete, hatte sie einen Stein in der Hand. Erst nachdem sie die Puffotter getötet hatte, fiel ihr ein, sich über den Stein zu wundern. Die Erde war hier nackt und sandig und es lagen keine Steine herum. Aber sie machte sich darüber nicht lange Gedanken. Solche Dinge geschehen. Und diesmal hat sie den Leuchter. Der Mann steht neben dem schmalen Bett mit seiner grau gestreiften Decke. Es ist der Offizier von heute Nachmittag. Sie erkennt die Uniform wieder, auch wenn er nur die Khaki-Jacke mit den schmucken goldenen Litzen trägt. Der Tropenhelm liegt auf dem Bett. Die Hose zusammengeknüllt auf dem Boden. Der Hintern, umgeben von drahtigem schwarzem Haar, wirkt sehr weiß. Das Mädchen liegt nackt und verkrümmt wie ein Fötus zu seinen Füßen und wimmert. Sein rechter Arm ist hoch über den Kopf erhoben, an seiner Hand hängt wie eine Schlange ein Gürtel mit einer schweren Schnalle. Hanna hat diese Positur schon öfter gesehen. Im Waisenhaus. Im Zug.

Die Schlange schnappt zu. Das Mädchen schreit und bäumt sich auf. Ihr Gesicht zwischen dem langen zerzausten Haar ist tränenüberströmt. Die kleinen Wärzchen auf den kaum ausgebildeten Brüsten sehen aus, als starrten sie wie schreckgeweitete Augen.

Der Mann bellt wütend: »Du blutest überhaupt nicht! Warum hast du mir dann gesagt, du würdest? Du blutest überhaupt nicht! Du blutest überhaupt nicht, du verlogene kleine Schlampe!«

Ganz offenbar außer sich vor Zorn holt der Mann mit dem schweren Gürtel wieder so weit aus, dass er fast aus dem Gleichgewicht gerät. Diesmal sieht Katja den Schlag kommen und kann ihm halb ausweichen. Und sie sieht auch etwas hinter ihm. Einen Augenblick lang erstarrt sie ungläubig.

Dann ruft sie: »Hanna!«

Der Mann fährt mitten in seiner ausholenden Bewegung herum, mit dem Ergebnis, dass der schwere Leuchter anstatt auf seinen Hinterkopf auf seine Nase schlägt. Er ist kurz betäubt. Als er auf die Knie sinkt und sein Gesicht mit den Händen umschließt, bricht ihm der zweite Schlag die Knöchel. Der dritte zerschmettert den Schädel. Das Blut blendet ihn. Ein bellender Laut wandelt sich in seiner Kehle zu einem Gurgeln. Und sie schlägt, hämmert, schmettert immer weiter, als wolle sie die Gitter eines Käfigs kaputtschlagen. Aus ihrer Kehle lösen sich grunzende, knurrende Geräusche. Vielleicht sind es unterdrückte Schluchzer, vielleicht auch nicht. Sie hat sich noch nie derartige Geräusche machen hören.

Erst als sie zu erschöpft ist, das schwere Messingding hochzuheben, muss sie eine Pause einlegen. Sie schnappt nach Luft und atmet schwer, ihr Oberkörper hebt und senkt sich.

»Du musst jetzt aufhören«, bettelt Katja in einem kaum hörbaren Jammern. »Du hast ihn umgebracht.«

Hanna nickt benommen. Sie lässt sich schwer auf das Bett fallen. Das Mädchen sinkt neben ihr nieder, streckt den Arm aus, um sie zu berühren, zieht die Hand dann wieder zurück.

»Was willst du jetzt tun?«, fragt sie.

Hanna schüttelt den Kopf. Sie deutet auf den dünnen Körper des Mädchens und bewegt die Ellbogen in einer Geste, die heißen soll: Zieh was über.

Beschämt bedeckt Katja kurz ihre Brust mit den Händen, dreht sich dann um und beginnt an den Kleidungsstücken zu zupfen, die auf dem kleinen Tisch vor dem Fenster liegen. Die Fetzen ihres Nachthemds liegen auf dem Bett und auf dem Boden. Als sie die Hände hochhebt, um in den Armenkittel zu schlüpfen, den die wohlmeinenden Damen von der Kirchengemeinde gespendet haben, muss sie unerwartet kichern. Das Kichern steigert sich zu unkontrollierbarem hysterischem Gelächter, das nicht mehr aufhört, bis sie auf dem Bett zusammenbricht. Erst als Hanna die Arme ausstreckt und den Körper des Mädchens an ihren drückt, wandelt sich das Lachen zu Gewimmer.

»Er sah so komisch aus«, schluchzt sie. »In dieser schnieken Uniform. Und mit nacktem Arsch.«

Hanna bringt beruhigende tiefe Laute hervor, während sie den dünnen Leib wiegt, sie kann die Rippen des Mädchens spüren.

Langsam kommt das Schluchzen zur Ruhe. Katja fängt an zu reden. Sie plappert wirres Zeug durcheinander, ein ungedämmter Wortfluss, der nur ab und an durch die tiefen Seufzer unterbrochen wird, die ihren ganzen Körper durchschütteln.

»Heute Nachmittag. Es waren so viele. Weißt du noch? Und dann hast du mich versteckt. Aber ich konnte sie immer noch hören. Überall. Die Frauen auch. Es war genauso wie auf der Farm, wo mein Vater seinen Laden hatte. Sie haben ihn umgebracht. Mit einer Axt, die sie im Laden gefunden haben. Er hatte gerade das Tor zum Viehkraal repariert. Meine Brüder halfen ihm dabei. Gerhardt und Rolf. Aber diese Ovambos haben sie nicht einfach umgebracht, vorher ... du weißt schon. Und Mutter und Gertrud und ich, wir haben einfach daneben gestanden. Aber uns haben sie nicht angerührt. Sie haben uns sogar was zu essen dagelassen, als sie weiterzogen. Am nächsten Tag gingen wir zur Missionsstation, die sechseinhalb Stunden entfernt liegt. Zuerst haben wir die Leichen ins Haus geschleift. Um sie nicht den Geiern und solchem Viehzeug zu überlassen, du weißt schon. Mutter wollte nicht fortgehen, da haben wir sie gezwungen. Und dann unterwegs ist sie gestürzt und hat sich das Bein gebrochen. Oh Jesus. Wir gingen bis zur Mission weiter und holten die Leute von dort, aber die Hyänen waren schon vor uns da gewesen. Und sie war ganz von Geiern bedeckt. Und Fliegen, überall Fliegen. Auf Vater und Gerhardt und Rolf, als wir zurückkamen. Der Missionar hat versucht, sie vor unseren Blicken zu verbergen, aber wir haben sie gesehen. Und gerochen. Später kamen die Soldaten, um uns mitzunehmen. Die gleichen wie heute Nachmittag. Ich meine, nicht dieselben Männer, aber die gleichen Uniformen. Die deutsche Armee. Wir waren so was von glücklich, als sie kamen. Gertrud roch auch, als sie in der Wüste starb. Einen ganzen Tag lang versuchte ich, die Geier abzuhalten. Und die Schakale. Aber vor den Hyänen hatte ich Angst. Also musste ich sie dalassen, du weißt schon. Und die Fliegen hätte ich ja ohnehin nicht abhalten können. Überall auf den Körpern. Auf ihrem auch. Ich weiß gar nicht, wo die hergekommen sind. Sie waren einfach plötzlich da. Aber als die Soldaten kamen, wurde es besser. Als Gertrud starb, ist niemand gekommen. Nur als meine Eltern ermordet wurden. Nach zwei Tagen glaube ich. Oder drei. Und die Soldaten waren wirklich nett zu uns. Sie haben uns zu essen und zu trinken gegeben und alles. Nur wenn sie Schwarze entdeckt haben in der Steppe, waren sie nicht so nett. Auf dem Weg nach Windhuk.« Sie zittert. »Weißt du, was sie mit denen gemacht haben?«

Hanna drückt das Gesicht des Mädchens gegen ihre Brust, um den Redefluss zu unterbrechen. Aber Katja befreit sich aus der festen Umarmung.

»Deshalb hatte ich keine Angst, als sie heute Nachmittag gekommen sind. Jedenfalls zu Anfang nicht. Erst als sie. Als er.« Sie versucht sich umzudrehen, um noch einen Blick auf den schweren halbnackten Körper werfen zu können, der zusammengesunken auf dem Boden liegt, aber Hanna dreht ihren Kopf mit Gewalt weg.

Jetzt ist es genug, sagt ihr Gesichtsausdruck.

»Was wollen wir jetzt mit ihm machen?«, fragt das Mädchen wieder.

Hanna sieht sie an, starrt ihr erbarmungslos in die Augen. Willst du mir helfen?

Sie knien sich hin und versuchen, dem toten Mann wieder seine Uniformhose anzuziehen, wobei sie den Kopf abwenden, was die Sache noch schwieriger macht. Wieder muss das Mädchen kichern.

Hanna bringt einen ärgerlichen, tadelnden Ton hervor.

»Wenn sie auf der Steppe Schwarze fanden, fingen sie sie ein und schlugen sie und stachen ihnen die Augen aus und banden sie auf Ameisenhügeln fest, und andere hängten sie an Dornbäumen auf, weißt du, an den großen, den Kameldornakazien, und andere nahmen sie und hackten ihnen alles ab, die Ohren, die Nase, die Hände, die Füße, die Dinger, alles. Und dann stopften sie ihnen ihre Dinger in den Mund und standen drumherum und lachten und rauchten und tranken Schnaps. Aber zu uns waren sie wirklich so freundlich, als wären sie unsere Väter oder Brüder, nur dass ein paar von ihnen noch ganz jung waren.«

Hanna packt sie an den Schultern und schüttelt sie. Hör jetzt auf damit. Halt um Gottes willen endlich die Klappe!

»Du glaubst mir nicht. Ich sag dir doch, ich hab alles gesehen.«

Du meinst, ich würde dir nicht glauben. Ja denkst du denn, ich hätte das alles nicht selbst gesehen und miterlebt?

»Und als sie dann heute Nachmittag kamen, war ich ganz glücklich über den Anblick der Uniformen. Der hier auch, er sah aus, als wäre er der Chef. Als er die Arme um mich legte und mich küsste, war es wie mein Vater, und ich musste fast weinen, so glücklich war ich, so viel ist mir plötzlich wieder ins Gedächtnis gekommen, weißt du, von ganz früher, als wir alle, als Gerhardt und Rolf und Gertrud und ich, aber Gertrud ist ja gestorben, stimmt. Und dann ganz plötzlich war er überhaupt nicht mehr wie mein Vater.«

Die andere Seite der Stille

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