Читать книгу Die andere Seite der Stille - Andre Brink - Страница 20
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ОглавлениеEs ist ein Buch, das Hanna für ihr ganzes zukünftiges Leben prägen wird. Kein Buch mit Geschichten oder Reisebeschreibungen wie die meisten anderen, die Fräulein Braunschweig sie zu lesen anhält, sondern Geschichte. Eine Erzählung vom Leben und Sterben von Johanna von Orléans. Im Laufe der Zeit wird es die Leere füllen, die der Verlust ihrer Fantasie-Freunde Trixi, Spixi und Finni hinterlassen hat. Johanna wird wirklicher für sie als alle Mädchen im Waisenhaus einschließlich der kleinen Helga. In der duftenden abendlichen Dunkelheit, wenn die Kerzen ausgeblasen worden sind, wird sie ihre Furcht vor der Nacht mit der Vorstellung austreiben, Johanna liege neben ihr in dem schmalen Bett. Sie werden lange Gespräche miteinander führen, die manchmal bis zum Morgengrauen dauern. Wieder und wieder wird die Jungfrau die baren Fakten ihres kurzen Lebens erzählen: Wie sie im düsteren Heim der Familie im Dorfe von Domrémy im Maastal ihren häuslichen Pflichten nachgeht, aber sich, wann immer sie kann, in die Büsche schlägt und die kleine, winzige weiße Kapelle von Bermont aufsucht, die verborgen im Wald liegt und zu der sie der Glockenklang lockt. Ihr ganzes Leben lang wird sie sich von Glocken verzaubern lassen. Im Alter von zwölf hört sie eines Sommertages im Garten ihres Vaters zum ersten Mal jene Stimmen, die ihr sagen, sie sei von Gott auserwählt und solle Männerkleidung anziehen und eine Armee anführen, um König Karl VII. von den englischen Armeen zu befreien, die ihr Land besetzt halten. Aber was kann sie denn um Gottes willen tun? Sie ist schmal wie ein Handtuch, sie hat Angst vor der großen Welt gewalttätiger Männer und politischer Intrige und Feldschlachten weit fort von den bescheidenen Hütten Domrémys. Und wer wird ihr denn je zuhören? Ihr Vater würde sie eher eigenhändig ersäufen als sie in Gesellschaft von Soldaten zu sehen. Aber die Stimmen beharren über die Jahre hin. Manchmal fragt sie sich, ob sie nicht verrückt geworden ist. Aber diesen Gedanken kann Hanna nicht akzeptieren. Hat sie denn nicht selbst Stunden mit Trixi, Spixi und Finni verbracht? Solche Stimmen sind nur zu real.
Schließlich überwindet Johanna den Widerstand eines gutgläubigen Cousins, der akzeptiert, sie nach Vaucouleurs zu bringen, der kleinen Garnisonsstadt zwanzig Kilometer das Tal hinauf, um dort Robert de Baudricourt zu treffen, den ersten ihrer mächtigen Gönner. Nach langwierigen Verhandlungen – Johanna ist eben siebzehn geworden – stimmt er zu, sie nach Chinon zu schicken, wo sie den x-beinigen, schielenden Dauphin mit der großen Nase treffen wird, den manch einer schon als Karl VII. apostrophiert, obwohl er bislang noch nicht gekrönt ist. Karl sieht hier eine Gelegenheit, seine eigenen Interessen voranzubringen, ohne dabei irgendein persönliches Risiko einzugehen. Nachdem sie in Poitiers, Tours und Blois eingehende Prüfungen über sich ergehen lassen musste, darunter eine handgreifliche Kontrolle ihres Intimbereiches, die von keiner Geringeren durchgeführt wird als der Königin von Sizilien, der Schwiegermutter des Dauphin, um ihre Jungfräulichkeit zu überprüfen, erhält Johanna die Erlaubnis, eine Armee von mehreren Tausend Mann auf die belagerte Stadt Orléans zu führen. Offiziell gelten mehrere Männer als Befehlshaber (und wie Hanna mit ihrer Liebe zu exotischen Namen den Geschmack dieser Silben auf ihrer Zunge genießt: der Marschall von Sainte-Sévère, der Marschall de Rais, Louis de Culen, Ambroise de Losé sowie der ruppige und raue La Hire), aber vom ersten Tag an darf niemand sich Illusionen darüber machen, wer hier wirklich das Kommando führt. Und am 8. Mai 1429 wird die sechsmonatige Belagerung aufgehoben. Die Engländer beginnen mit dem Rückzug, und überall in Frankreich wird der Name Jeanne d’Arcs, eines Mädchens, das nicht einmal schreiben und lesen kann und mit einem Kreuz unterzeichnet, zur Legende. Schmetterlingswolken umflattern ihre Standarte aus Buckram und Seide in den Farben Blau, Silber und Gold, ganze Schwärme kleiner Singvögel lassen sich auf Büschen und Bäumen nieder, um zuzusehen, wie sie in die Schlacht reitet. Kein Jahr später wird sie verraten und gefangen genommen, ein weiteres Jahr später wird sie von dem Inquisitions-Tribunal, dem der Fettsack Pierre Cauchon vorsteht, Bischof von Beauvais, zum Tode verurteilt und unter dem donnernden Glockengeläut aus der Kathedrale als Hexe auf dem Marktplatz von Rouen bei lebendigem Leibe verbrannt. Was für ein schmaler Grat zwischen Jungfräulichkeit und Hexerei. Selbst die tiefste und letzte Erniedrigung muss sie noch ertragen, als man ihr die letzten Fetzen ihrer brennenden Kleider vom Leib reißt und ihre verkohlten Genitalien der johlenden Menge präsentiert. Aber ein englischer Soldat sieht eine weiße Taube sich aus dem Feuer des Scheiterhaufens erheben und ins Herzland Frankreichs davonfliegen. Bald schon sind die Engländer vom Kontinent vertrieben. Und im Jahr 1456 wird ein neues Tribunal ihren Namen rehabilitieren und ihre Verurteilung annullieren.
Woraus man lernen kann, insistiert Fräulein Braunschweig wieder und wieder, dass es Wichtigeres gibt als Leben und Tod. Was zählt, ist, dass Johanna sich durchsetzte, weil sie sich von Anfang bis Ende treu blieb. Sie schaffte, was niemand für möglich gehalten hatte. Ihr Land war frei. »Es ist unmöglich, sie ganz und gar zu verstehen, auch nach vier Jahrhunderten«, argumentiert sie im Brustton der Überzeugung. »Das Einzige, was wir sagen können, ist, dass sie uns zum Nachdenken zwingt und dazu, uns Fragen zu stellen. Sie hebt den Schleier von den dunklen Regionen, in die zu blicken wir uns vielleicht fürchten.«
Brennend vor Stolz und Entschlossenheit gleitet Hanna Nacht für Nacht in den Schlaf und hält Johanna in ihrem schmalen Bett dabei so fest, dass sie sich anfühlt wie Fleisch von ihrem eigenen Fleische und Traum von ihren eigenen Träumen. Und wenn der Tag anbricht, wartet das Buch unter ihrem Kopfkissen.