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Der Name war es, der mich zuerst stutzig machte. Hanna X. Wieder und wieder ackerte ich die Dokumente in den Zeitungsarchiven, den zeitgenössischen Berichten, den Bibliotheken durch, all diese eintönigen Listen mit all den Namen, von denen jeder so vage klang wie der Titel eines Gedichts und sein Versprechen nicht einlöste. Es gab Schreibmaschinenlettern, Kurzschrift, Fraktur, Kapitälchen, Kursivschriften, Gekritzel voller Tintenflecke. Christa Backmann – Rosa Fricke – Anna Köchel – Elly Freulich – Paula Plath – Babette Weber – Ilse Renard – Margarete Mancke – Frida Scholl – Johanna Koch – Olga Gessner – Elsa Maier – Dora Deutscher – Helena Hirner – Charlotte Böckmann – Marie Reissmann – Clara Gebhardt – Martha Hainbach – Christa Hofstätter – Gertrud Müller – und so weiter und immer weiter, ohne irgendeine alphabetische oder klangliche oder logische Ordnung in diesem endlosen Hin und Her eines Briefverkehrs (geführt in Berlin von Herzog Johann Albrecht von Mecklenburg und seiner Ehrfurcht gebietenden Mitarbeiterin Charlotte Sprandel von der Deutschen Kolonialgesellschaft und in Windhuk vom Kaiserlichen Gouverneur von Deutsch-Südwestafrika) zwischen Europa und Afrika. Der betraf – und entschied über – das Schicksal jener Hunderter von Frauen und Mädchen, die in den Jahren von 1900 bis etwa 1914 von Hamburg in die entlegene afrikanische Kolonie verschifft wurden, um die Bedürfnisse von Männern zu befriedigen, die verzweifelt nach einer Ehe, Nachkommenschaft oder einfach einem unkomplizierten Fick suchten. Thekla Dressel – Lydia Stillhammer – Josefine Miller – Hedwig Sohn – Emilie Marschall – Namen und immer noch mehr Namen, ein jeder mit Zunamen und Herkunftsort – Hannover oder Holleben, Bremen oder Berlin – Leutkirch oder Lübeck – Stuttgart oder Saarbrücken. Und irgendwo dazwischen dieser einsame Vorname, dem kein Nachname angehörte: Hanna X. Herkunftsort Bremen. So viel war bekannt, mehr aber auch nicht. Zugegeben, später, nach ihrer Ankunft in Swakopmund und ihrem Aufenthalt in dem höchst weltlichen Kloster Frauenstein irgendwo in der Wüste, taucht der Name Hanna X noch ein- zweimal irgendwo in einer Depesche oder einem Brief auf. In der Afrika Post ist er in Zusammenhang mit einem Strafverfahren erwähnt, das gegen Ende des Jahres 1906 stattfinden sollte, aber bevor es vor Gericht kam, niedergeschlagen wurde. Der Grund dafür war der Selbstmord eines Offiziers, Hauptmann Böhlkes, der angeblich in den Fall verwickelt gewesen war. Danach deckelte ein Eingriff von offizieller Seite die Sache offenbar sehr effektiv, vermutlich um den Ruf der Armee Seiner Kaiserlichen Majestät zu schützen. Damit verschwand sie wiederum im Schweigen, noch immer ohne einen Nachnamen und noch immer in einem wütenden, mitleiderregenden (oder »verstockten«, wie das Protokoll jenes abgebrochenen Prozesses es formulierte) Schweigen eingeigelt.

Hanna X.

Ganz zu Anfang mag das Mysterium ganz banal von einem tintenverklecksten Gekritzel in der Liste herrühren, die Frau Sprandels Sekretärin zusammenstellte und das ihre Briefpartner, die entweder unfähig waren, es zu entziffern, oder es entweder zu eilig hatten oder zu gestresst waren, für alle Fälle durch ein vorläufiges und praktisches X ersetzten. Und danach interessierte es einfach mit größter Wahrscheinlichkeit niemanden mehr. Warum auch? Was sagt ein Name schon groß aus?

Als ich selbst fast ein Jahrhundert später in einem allerletzten Versuch, zu den Quellen zu gelangen, nach Bremen reiste, stieß ich, was mir auch vorher hätte klar sein können, auf den Graben des Kriegs. So gut wie nichts hatte diese Zerstörungsorgie überlebt: Keine Verzeichnisse, keine Urkunden, keine Briefe. Und für die Erinnerungen Überlebender war es zu spät. Ich besaß weder einen Geburtstag noch den Namen der Eltern, die mir hätten weiterhelfen können. Zur Zeit ihrer Überfahrt nach Afrika auf der Hans Woermann im Januar 1902 mochte sie zwanzig gewesen sein oder fünfundzwanzig, vielleicht sogar dreißig (allerdings wahrscheinlich nicht älter, denn eine der Voraussetzungen, um ausgewählt zu werden, war, sich im gebärfähigen Alter zu befinden, um der Kolonie auch von Nutzen zu sein). Und selbst wenn es Meldeverzeichnisse und Geburtsregister aus den Jahren um 1875 gegeben hätte, wo hätte ich anfangen sollen zu suchen, ohne einen Nachnamen? Genauso wie in quasi jeder anderen Stadt, die ich besuchte, galt für ganze Viertel: 1945 total zerstört. Wiederaufbau 1949. Gebäude kann man zwar neu oder wieder aufbauen, aber das gilt nicht für Verzeichnisse. Fort, alles fort: Volkszählungslisten, Kataster, Meldelisten, Geburts- und Heiratsregister, Personalien der Insassen von Waisen- oder Armenhäusern, ja sogar registrierte Prostituierte. Hier gab es keine Hanna X, hatte es nie eine gegeben. Oder vielleicht ja zu viele davon. Total zerstört.

Vielleicht war es die Enttäuschung über meine aussichtslosen Nachforschungen, die mich an jenem regnerischen Morgen meines Besuchs in Bremen so besonders empfänglich für die Bilder Paula Modersohn-Beckers in der Sammlung Roselius machte. Diese Augenblicke von Menschlichkeit, von Weiblichkeit, diese einsamen und ärmlichen Figuren; Bilder einer fast schon beängstigenden Einsamkeit und doch auch wieder von Trotz, ein Universum aus Melancholie und Zurückhaltung und gedeckten Farben, hinter dem man eine geheime Welt vermutete, die auf ewig versiegelt bliebe, und die der Betrachter nur erspüren konnte, in die er aber nie Einlass finden würde.

Mir, dem männlichen Betrachter, wollte es so vorkommen, als werde hier die Essenz des Frau-Seins gezeigt; das Pathos, entweder rettungslos jung oder rettungslos alt zu sein, fiel hier auf bemerkenswerte Weise in eins.

Ich erinnere mich von dieser Reise nach Deutschland nur an ein einziges weiteres Bild, das mir so tiefen Eindruck hinterließ: Ein »Feierabend« betiteltes, großformatiges Gemälde in der Neuen Pinakothek in München, das von einem Künstler war, dessen Namen ich auf ein Stück Papier kritzelte, das ich seither verloren habe. Ein sehr junges Mädchen sitzt an einem Küchentisch, daneben ein ältlicher, bäuerlicher Freier, der dem Betrachter den Rücken zukehrt. Eine seiner großen, groben Hände liegt auf ihrem Schenkel. Sein gesamter Körper, die schlecht sitzende Joppe, der niedrige Hinterkopf, alles ist die Verkörperung eines Verlierers – aber eines gemeinen, gewalttätigen, versoffenen und brutalen Verlierers. Sie selbst ist sichtlich ebenfalls arm. Aber sie ist jung und ihr dünner Körper kann kaum die Wut und den Abscheu verbergen, die dieser Augenblick, der über ihr ganzes restliches Leben entscheiden wird, in ihr hervorruft. Die Einsicht, dass dies hier der allerletzte Mann ist, den sie will, und doch zugleich vielleicht der einzige, den sie je wird besitzen können, raubt ihr alle Kraft.

Hinter dem Bremer Museum, in dem ich den gesamten Vormittag verbrachte, die Melancholie von Paula Modersohn-Becker um mich geschlungen wie ein fadenscheiniges Schultertuch, liegt der Rathausplatz, auf dem die aus der Nachkriegszeit stammende Skulptur der Bremer Stadtmusikanten steht, jener klapprigen alten Rosinante von einem Esel, des räudigen Hunds, der Katze, die nur noch Haut und Knochen ist, und des gerupften Hahns aus dem Märchen der Brüder Grimm. Ihr kakophonisches Geschrei ist versteinert, aber während ich den Platz verließ, konnte ich mir gut vorstellen, mit welcher höllischen Lust die vier, bekämen sie eines Winterabends auch nur den Bruchteil einer Chance dazu, wieder loslegen würden und schreien, bellen, miauen und krähen, bis die Panik vor der ewigen Verdammnis wie ein Blitz in Räuber und anständige Bürger gleichermaßen hineinfahren würde.

Ebenfalls vom Rathausplatz tönte nachts – und das ist für mich seither die Erkennungsmelodie Bremens geblieben – Glockengeläut herüber, welches das gesamte Hotel Übersee erfüllte, in dem ich untergebracht war. Es dauerte lange Minuten, die sich wie Stunden anfühlten, und rief alle ruhelosen Seelen entweder in den Himmel oder in die Hölle. Offenbar waren es Glocken verschiedener Größe und Form, von denen zumindest eine, dem Klang nach zu urteilen, gewaltig sein musste. Sie tönte in einem sonoren, unirdischen Dröhnen, das mir die Vorstellung von einem riesenhaften Bildhauer eingab, der das Chaos formte und bildete und eine ganze Stadt daraus schuf, mitsamt ihren Menschen und deren dunkler Geschichte, und die Glocke läutete und läutete durch Jahrhunderte von wimmelndem, wuselndem menschlichem Leben, durch Hoffnung und Verzweiflung und Leid, Leid und nochmals Leid.

Aus diesem Bremen, aus diesem Klang, aus der Erinnerung an diese abgerissenen Musiker, entstand Hanna X. Erstand in ein Leben, das von ihren mehreren eigenen Toden strukturiert war. Der erste davon musste schon stattgefunden haben, bevor sie noch mehr tot als lebendig auf der Türschwelle jenes Heims von den Kindern Jesu in der Hutfilterstraße abgesetzt worden war. Danach folgten zwei weitere im Laufe der Waisenhausjahre. Einer, von dem wir mit Sicherheit wissen, auf der Hans Woermann unterwegs im pechschwarzen Meer von Hamburg über Madeira und Teneriffa, die afrikanische Küste hinab. Und dann natürlich x-mal in Deutsch-Südwestafrika, heute Namibia geheißen. Jeder dieser Tode eine Häutung und ein Neubeginn, wie der Menstruationskreislauf. Ein wenig Trauer, ein wenig Feierlichkeit. Tatsächlich geht das Leben immer weiter. Und jeder dieser Tode könnte der Beginn einer Erzählung sein, jeder könnte, wie der Klang der großen Glocke in Bremen, die Erschaffung eines Menschen bedeuten oder die von Leuten, von Erinnerungen, von Geschichte.

Für mich liegt, aus Gründen, die zu kompliziert zu erklären sind, der Moment, in dem das Leben der Hanna X zu einer Geschichte wird, nicht am Zeitpunkt eines ihrer Tode, sondern dazwischen, nämlich in dem düsteren Gemäuer von Frauenstein, das sich vor dem nächtlichen Himmel abzeichnet wie die Silhouette eines mächtigen Schiffs, das in der Wüste gestrandet ist: Im Schein einer tropfenden Kerze starrt sie in einen zerbrochenen Spiegel, der auf dem Treppenabsatz steht und der ihr Bild im Vorübergehen festgehalten hat wie ein Gespenst. Es ist das erste Mal, seit sie hierher gebracht wurde, das erste Mal in drei Jahren, sieben Monaten und dreizehn Tagen, dass sie sich in einem Spiegel gegenübersteht.

Sie zuckt nicht zusammen. Das liegt daran, dass das Spiegelbild so fremd ist, dass sie keine Erinnerung damit vergleichen könnte. (Sie hat nicht immer so ausgesehen.) Dies hier könnte ebenso gut ein Gespenst sein, einer der zahllosen Schatten, die sich nachts durch Frauenstein stehlen und manchmal sogar am Tag. Sie mustert das Bild so gleichmütig und objektiv, als handele es sich um eine große bleiche Motte, die hinter dem Glas aufgespießt wäre. Ohne Furcht, schließlich lebt das Ding nicht. Die Büschel blonden oder grauen Haares, krumm und schief mit dem Küchenmesser abgeschnitten, wabern wie Plasma um das Gesicht herum. Ein Teil des rechten Ohrs fehlt, was ein dunkles Loch in einer Art Pilz hinterlässt. Links nur eine halbe Augenbraue, die sich in eine Zickzacklinie von Narbengewebe verliert. Das Auge darunter steht leicht hervor, als wäre es herausgenommen und nicht wieder richtig zurückgedrückt worden. Die knochige Nase ist krumm. Die gesamte Fläche des Gesichts überzieht ein Netz von Narben, manche von ihnen verblasst, andere rötlich. Das Erschreckendste ist die Grimasse, die den dünnlippigen Mund in die Breite verzieht, der selbst eher wie eine Narbe als wie eine Körperöffnung aussieht: Er öffnet sich über einen Teil des rechten Kiefers unterhalb des Wangenknochens, sodass man die zerbrochenen Zähne sehen kann, die schief im Kiefer stecken. Ein Gesicht, das sich bereits auf halbem Wege zum Totenschädel befindet. Möglich, dass dieses Bild, während sie dasteht und es anstarrt, sie doch fasziniert oder langsam zu faszinieren beginnt. Sie hebt die Kerze ein paar Zentimeter an und öffnet den Mund. Sie gibt ein Geräusch von sich. Aahh. Da ist keine Zunge. Nur ein kleiner schwarzer Stummel, tief im Rachen. Aahhh.

Das muss also sie sein. Das muss es sein, was sie sehen, wenn sie sie ansehen. Aber normalerweise sehen sie natürlich weg.

Jetzt sieht sie. Darauf ist es hinausgelaufen. Heute Abend hat sie einen Mann getötet. Sie allein ist wach in diesem dunklen, weitläufigen Haus.

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