Читать книгу Die andere Seite der Stille - Andre Brink - Страница 14
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ОглавлениеGeräusche verschwinden nicht, niemals, nicht wirklich. Das weiß Hanna bereits, als sie noch ganz klein ist. Was tatsächlich passiert, wenn es sich so anhört, als würden sie verklingen, so wie das Läuten der Glocken vom Platz, vor allem nachts, ist, dass sie immer kleiner werden, um in das Versteck passen zu können, wo sie von denjenigen, die nicht zu lauschen verstehen, nicht mehr gefunden werden können. Das ist ein kleiner und runder Ort, wie eine Muschel. Das entdeckt sie eines Tages, an dem die Kinder des Hauses der Kinder Jesu von Frau Agathe zu einem Ausflug mitgenommen werden, am schmalen grauen Strand der Weser gegenüber dem Europahafen. Es ist ein grauer, kalter Tag, aber der Strom fasziniert sie. Nicht aus sich selbst heraus, sondern weil sie weiß, dass er zum Meer hinführt, das sie nie gesehen hat, außer in ihren Träumen. Und vielleicht in dem verloren gegangenen Teil ihres Lebens, bevor sie ins Waisenhaus gesteckt wurde, und aus dem nur kurze, wirre Erinnerungsblitze in ihrem Gedächtnis lagern – und einer davon zeigt das Meer, seine Geräusche, seinen Duft und die weißen, brechenden Wellen. Das Meer ist ein magischer Ort der Wunder. Es beginnt in Bremerhaven und reicht bis auf die andere Seite der Welt, dorthin, wo der Wind herkommt und wo die Palmen aus der Kinderbibel wachsen und Kamele vorübertrotten und immer die Sonne scheint. Dort ist es nicht grau und kalt wie hier an der Weser in Bremen, sondern immer warm. Dort kann man nackt herumlaufen und die Sonne auf dem Leib spüren und wird am ganzen Körper goldbraun. Hier im Waisenhaus ist es böse, nackt zu sein. Es gibt ein kleines Mädchen hier, Helga, die ist neu und liegt den ganzen Tag weinend im Bett, darum kriecht Hanna zu ihr unter die Decke, und sie ziehen das Nachthemd aus, damit sie enger beieinander sind, und dann verschwindet Helgas Traurigkeit und ihre eigene auch. Aber dann findet Frau Agathe sie beide, und es stellt sich heraus, dass sie etwas so Böses getan haben, dass es nicht mit einer Strafe von Frau Agathe getan ist. Sie werden die Straße hochgeführt, beide immer noch so nackt wie kleine geschälte Früchte, hin zum Pfarrhaus, wo sie ihr Urteil empfangen sollen. Dort erwartet sie Pastor Ulrich, ein riesig fetter, runder Mensch mit einem schweißgebadeten Mondgesicht, die schwarze Weste voller Flecken vom Essen der vergangenen Woche – Eigelb und Kohl und Rote Beete und Fleisch und Soße –, mit über dem Bauch gefalteten großen, weichen Händen. Mit seiner Fistelstimme erklärt er ihnen, dass Nacktheit eine Sünde sei, eine Todsünde. In Zukunft wird er Hanna jeden Sonntag nach der Kirche zu sich bestellen, damit sie ihre Sünden während der vergangenen Woche bekennt, und jedes Mal besteht er darauf, persönlich nachzuprüfen – das kann er nämlich mit seiner fetten Hand ertasten –, ob sie wieder gesündigt hat. Und dann wird er sie dort kneifen und die kleinen Lippen sadistisch zusammendrücken, bis sie blaue Flecke hat oder sogar Blutblasen. Das Geräusch seiner Stimme schrumpft genauso wie die Geräusche der großen Glocke und die der Ochsen, die im Schlachthof, zu dem man sie direkt am Waisenhaus in der Hutfilterstraße vorbeigetrieben hat, ein wehes Muhen ausstoßen, und wird immer kleiner, damit es sich verstecken kann. Das Gleiche geschieht mit den schönen Geräuschen. Mit den winterlichen Geräuschen zum Beispiel, an Tagen, wenn jedermann außer den Mädchen aus dem Waisenhaus, die Grau tragen, seine schönsten Kleider anzieht, um auf der Weser Schlittschuh laufen zu gehen. Jedermann, ja sogar die ganz Alten, die nicht mehr gehen, aber irgendwie immer noch eislaufen können, sofern jemand sie aufrecht aufs Eis stellt, jeder einzelne Einwohner der Stadt findet sich hier ein. Es ist eine solche Menschenmenge, dass Hanna glaubt, selbst die vor Jahren Verstorbenen haben sich dazugesellt, und der Lärm, den sie alle zusammen veranstalten, ballt sich zu einem einzigen großen Geräusch zusammen, etwas wie der Posaunenstoß aus der Blaskapelle, die feiertags auf dem Rathausplatz spielt, und dann wird es kleiner und kleiner, bis es in den geheimen Raum der Muschel hineinpasst, die sie an diesem Tag vom grauen Kieselstrand der Weser mit nach Hause bringt.
Es ist ein fremdes Kind, das sie in dem flachen, hellen Wasser trifft, das sie ihr gibt. Sein Name, sagt es, ohne gefragt worden zu sein, sei Susan. Sie kommt von weither, von einer Insel namens Irland, und spricht nicht sehr gut Deutsch. Sie erklärt, sie sei mit ihrem Vater hierhergekommen, der im Hafen arbeitet, zusammen mit vielen anderen katholischen Ausländern aus Thüringen und Böhmen und anderswo, wo es keine Arbeit für die Männer gibt. Hanna fragt, ob sie sich die Muschel ansehen darf, und das kleine Mädchen reicht sie ihr mit einer bezaubernden Mischung aus Scheu und Eifer. Die ist schön, flüstert Hanna, fast zu schön, um es zu glauben. Halt sie an dein Ohr, sagt Susan zu ihr, dann kannst du das Meer hören. Von so etwas hat Hanna noch nie gehört, aber das kleine Mädchen nickt ihr ganz ernst zu und beharrt darauf: Hör hinein. Sie tut es, und tatsächlich, sie kann hören, wie das ferne Meer leise in ihrem Ohr rauscht und all die verlorenen Geräusche der Welt zu ihr bringt, selbst die von der anderen Seite der Erde, wo die Palmen wachsen und der Wind geboren wird, und dazu noch den Gesang der Sonne. Denn die Sonne singt, oh ja. Den ganzen restlichen Tag spielen sie miteinander, Hanna und das kleine Mädchen Susan mit seinen sehr blauen Augen und seinem sehr schwarzen Haar, und es ist ganz so, als könne der Tag selbst, der gesamte Tag, jetzt auch in eine Muschel hineinpassen, deren ferner, feiner, perfekter Klang nie aufhören wird.
Als sie pinkeln muss und davonlaufen will, sagt Susan: Sei doch nicht dumm, hock dich doch einfach hier hin, ich pass schon auf, dass keiner kommt. Hinterher muss ich dann auch. Also graben sie zunächst ein kleines rundes Loch in den Sand, und sie hockt sich behutsam darüber, die Füße weit auseinander und das Kleid hochgezogen, damit es nicht nass wird, und als sie wieder aufsteht und ihre Kleider zurechtrückt, starrt Susan mit großen erstaunten Augen ihren Bauch an und fragt: Was ist das denn? Und legt einen neugierigen Finger auf Hannas vorstehenden Nabel. Mein Bauchnabel natürlich, sagt Hanna, hast du vielleicht keinen? Und dann zieht Susan ihr rotes Kleidchen hoch, um ihrerseits zu pinkeln, und offenbart dabei einen süßen und perfekt eingezogenen Nabel. (Ein Stückchen darunter und etwas auf der rechten Seite sitzt ein kleiner Leberfleck.) Siehst du?, sagt Susan. Deiner ist ganz anders. Wahrscheinlich weil du nicht katholisch bist. In diesem Moment hört Hanna aus der Ferne, dort, wo die anderen Kinder spielen, Frau Agathe ihren Namen rufen. O du lieber Gott, gleich bekomme ich Ärger, sagt sie atemlos vor Angst. Und gemeinsam rennen sie zurück, und die kleine Muschel, die sie geschenkt bekommen hat, ist fest in ihrer schwitzigen Hand verborgen. Du darfst nie mehr, sagt Frau Agathe, hörst du mich: nie mehr am Strand mit einem fremden Kind reden. Das sind Katholiken und das ist schlimmer als Heiden. Und sonntags muss sie es Pastor Ulrich melden, der ihr wie üblich befiehlt, näher zu kommen, damit er mit seinem fetten Finger nachfühlen kann, ob sie gesündigt hat, bloß dass er die Untersuchung nicht in ihrem unkatholischen Bauchnabel durchführt. Wieder wird ihr eingeschärft, zu beten und auf der Hut zu sein und ihre neunjährigen Bosheiten zu bereuen, und dann liest er ihr aus der Bibel vor, schreckliche Dinge über die Hölle und Schwefel und Verdammung, aber der Klang der Worte ist schön, was immer sie auch bedeuten sollen, es sind Wörter, die zusammen mit all den anderen Geräuschen in ihrer kleinen verzauberten Muschel Platz finden. Diesseits der Muschel ist nur Stille. Wenn man sie in Armeslänge von sich hält, wird man nie erraten können, was in ihr verborgen ist, ein Meer, eine ganze Welt von Klang, vergangener und gegenwärtiger und – wer weiß – vielleicht auch zukünftiger. Und wenn man ganz genau hinhört und sie ganz dicht ans Ohr hält, dann kann man all das hören. Nicht nur von der anderen Seite der Welt, sondern von der anderen Seite von allem, der anderen Seite der Stille.
Es ist eine Stille, die sie tief in sich bewahrt, aus der verlorenen Zeit, bevor sie im Waisenhaus eintraf, einer Zeit, bevor die richtige Zeit mit Stunden und Glocken und lauten Stimmen begann, die Zeit des unsichtbaren Meeres, eine Zeit, als die Stille sie umgab, sie und ihre drei Freunde, jene Freunde, die niemand sehen konnte, aber die genauso wirklich waren wie ihre Füße oder ihr Bauchnabel oder ihr schmales Gesicht im Spiegel. Ihre Namen lauteten Trixi, Spixi und Finni, aber als man sie ins Waisenhaus zu den Kindern Jesu brachte, gingen sie unterwegs verloren und sie hat sie nie wiedergefunden. Tagelang weinte sie, bis Frau Agathe dem mit ihrem Riemen ein Ende setzte und erklärte, solche Kreaturen könnten nichts anderes sein als Erscheinungen des Satans. Nichtsdestotrotz lief Hanna immer wieder davon, um sie zu suchen, wenn auch in wachsenden Abständen, aber jedes Mal wurde sie gefunden und zurückgebracht und daraufhin von Frau Agathe verprügelt und von Pastor Ulrich untersucht.
Geprügelt wird andauernd bei den Kindern Jesu, denn dies ist ein christlicher Ort, an dem das Böse nicht toleriert wird. Man wird verprügelt, wenn man zu spät zum Gebet oder zum Unterricht kommt, oder wenn man nicht in der Lage ist, die Namen der Bücher des Alten Testaments in der richtigen Reihenfolge herzusagen, oder wenn man vergisst, die Wäsche hereinzubringen oder seine Kleider schmutzig macht oder die Schuhe abstößt oder im Dunkeln redet, nachdem die Kerzen gelöscht sind, oder das Bett nässt oder Läuse hat, und vor allem, wenn man zur großen Kirche auf dem Domplatz davonläuft und sich hinter einer Säule versteckt, um dem Organisten zuzuhören, der Bach spielt. Manchmal reichen die Prügel auch nicht aus und müssen mit anderen Strafen kombiniert werden, zum Beispiel zu Bett geschickt werden ohne Abendessen oder einen Nachmittag oder eine Nacht lang im Wäscheschrank eingeschlossen werden oder zwangsweise eine Zeit lang in einem kalten Bad sitzen oder auf zwei Backsteinen in der Ecke stehen, bis man ohnmächtig wird, oder lange Passagen aus der Bibel auswendig lernen (aber nie die leichten oder interessanten, sondern immer die Genealogien), und macht man es falsch, bekommt man einen Schlag für jeden Fehler, auf die Finger oder die Beine oder die Fußsohlen oder den nackten Hintern, und jeder muss dabei zusehen. Aber das ist nun schon längere Zeit nicht mehr geschehen, denn sie braucht jetzt nicht mehr davonzulaufen, um ihre verlorenen Freunde zu suchen, denn jetzt hat sie ihre neue Freundin Susan aus dem fernen Irland und eines Tages werden die beiden zusammen weglaufen, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute, so wie es im Märchen immer heißt.
Ihr Lieblingsmärchen ist das von den Musikern, die davonlaufen, dem Esel, dem Hund, der Katze und dem Hahn. Alle sind sie alt und arm und werden von ihren grausamen Herrn nicht länger gewollt, und dann übernehmen sie das Haus der Räuber im dunklen Wald und können endlich auch glücklich leben, und wenn sie nicht gestorben sind, dann bis heute. Und das ist auch der Grund, warum sie die kleine Porzellanfigur begehrt, die ein Mädchen namens Ute eines Tags zur Schule mitbringt. Es ist eine Sünde, das Gut deines Nächsten zu begehren, Gott weiß, wie schwer man sie bestrafen wird, wenn das jemals herauskommt. Aber es gibt noch eine schlimmere Sünde, und das ist zu stehlen. Du sollst nicht – du sollst nicht – du sollst nicht. Wo immer sie sich hinwendet, ist sie umgeben von dieser Palisade von Du sollst nicht. Diese feine, kleine Porzellanfigurine mit dem winzigen Esel, Hund, Katze und Hahn ist das, was sie auf der Welt am meisten begehrt, und das, was sie zu stehlen beschließt. Das ist ihre einzige Möglichkeit, um sie in den Händen halten und bewundern und ihre fein ziselierten Umrisse liebkosen zu können. In der Pause schleicht sie sich ins Klassenzimmer und nimmt sie aus Utes Ranzen, dann rennt sie hinaus und versteckt sie hinter dem Mädchenwaschraum. Nach der Pause, als das Verschwinden der Figurine entdeckt ist, müssen alle ihren Ranzen öffnen und mit verschränkten Armen dasitzen, während der Lehrer durch die Reihen geht und ihre Sachen durchwühlt. Natürlich wird das kleine Schmuckstück nicht gefunden. Hanna lässt es eine Woche lang in seinem Versteck, jeden Tag heimlich nachsehend, ob es noch da ist – bevor sie es zu ihrem Bett im Waisenhaus mitnimmt. Dort lebt es in ihrer Schublade in ihrem einzigen grauen Ersatzschlüpfer, nachts schläft es unter ihrem Kissen. Aber dann ertappt eines der kleineren Mädchen Hanna damit, und als Hanna versucht, es zu verbergen, fällt es hin und ein Stückchen splittert ab. Auf diese Weise erfährt sie, dass man nichts, was man liebt, behalten darf. Denn jetzt muss sie es loswerden, bloß wie?
Es ist Gott selbst, der eine Lösung des Problems liefert. Die Zeit der Ostermesse rückt heran, nach all den Fastenwochen, in denen die mageren Rationen der Waisenkinder noch unter das Existenzminimum gedrückt wurden (denn man muss leiden für den Herrn). Die Mädchen sollen kleine Dinge mitbringen, die während der Messe verkauft werden und ein paar zusätzliche Pfennige in den Klingelbeutel bringen zur höheren Ehre Gottes. Die meisten stricken formlose Socken oder häkeln Zierdeckchen. Aus zusammengeklebten Streichholzschachteln bastelt Hanna eine Kommode mit einem Spiegel aus Pappe und Silberpapier. Und darauf legt sie, genau in die Mitte, die Stadtmusikanten in all ihrer zerbrechlichen Schönheit. Das, so rechnet sie sich aus, sollte Gott besänftigen und vielleicht auch die Sünden des Begehrens und Stehlens wettmachen. Sie hat sich innerlich bereits von der Figurine verabschiedet. Soll Gott sie jetzt haben. Er hat schon so viel unnötiges Zeugs. In der letzten Zeit hat sie angefangen, ernsthaft an Gott zu zweifeln. Er täte gut daran, achtzugeben, sonst wird sie ganz aufhören, an ihn zu glauben.
Als Frau Agathe sie nach der Messe zu sich ruft und zu der Figurine befragt, kann sie ohne mit der Wimper zu zucken sagen, sie habe sie gefunden und gedacht, sie werde Gott gefallen. Selbst Pastor Ulrichs nachforschende Hand vermag keine weiteren Geständnisse aus ihr herauszuquetschen, und sie darf mit einer einfachen Warnung wieder gehen. Diese Nacht liegt sie mit dem Gefühl tiefster Erleichterung in ihrem schmalen Bett, hört zu, wie draußen der Regen fällt, und hält den einzigen Besitz von Wert, den sie hat, die Muschel, gegen das Ohr, um dem fernen Rauschen des Meers zu lauschen und sich vorzustellen, wie sie weit weit fortgeht, Hand in Hand mit einem kleinen Mädchen aus einem fernen Land, einem Mädchen mit sehr schwarzem Haar und sehr blauen Augen, fort über alle Weltmeere, bis zu den Palmen einer kleinen Oase, die von den Winden und der Sonne beglückt wird.