Читать книгу Die andere Seite der Stille - Andre Brink - Страница 21

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Bücher werden ihr Verderben sein. Keine Woche vor dem Weihnachtskonzert zitiert Frau Agathe Hanna eines Nachmittags, als sie gerade von der Schule kommt, zu sich. Obwohl mitten im Winter, ist es ein außergewöhnlich schöner Tag, daher weiß Hanna, dass Frau Agathe schlimmer sein wird als üblich. Sie ist immer so: Wenn die Sonne scheint, wird sie über den Kälteeinbruch sprechen, der so sicher darauf folgt wie das Amen in der Kirche und die ganzen Blumen kaputtmacht, und wenn sie Obst erblickt, kann sie nur an die abscheulichen Würmer darin denken. Und wenn sie jemand lachen hört, sagt sie gleich die Tränen voraus, die auf einen solchen Ausbruch logisch folgen müssen, und wenn alle feiern, dann weiß Frau Agathe, das kann nicht dauern, und bald werden sie es bereuen. Nichts wird so gewiss bestraft wie Glück. Und als die in Schwarz gehüllte bitterernste Frau an diesem herrlichen Tag auf Hanna wartet und das neueste Buch des Mädchens in einer ihrer Klauen unheilvoll hochhält, weiß die, dass Sturmwarnung droht.

»Was ist das hier, was ich in deiner Kommode gefunden habe?«

»Ein Buch«, sagt Hanna.

»Und willst du mir wohl auch sagen, was für ein Buch?«

»Ein Buch, das ich gerade lese. Es ist sehr schön.«

»Die Leiden des jungen Werthers«, knurrt Frau Agathe.

»Stimmt«, gibt Hanna zu, die nicht recht versteht, wozu die ganze Aufregung dienen soll. »Von Herrn Goethe«, fügt sie noch hinzu, um auch das klarzustellen.

»Das ist keine Lektüre für ein junges Mädchen«, sagt Frau Agathe bebend vor Zorn. »Im Grunde ist es für überhaupt keinen anständigen Menschen eine Lektüre.«

»Ich verstehe nicht, Frau Agathe.«

»Verkauf mich nicht für dumm.« Das knochige Gesicht der bleichen dünnen Frau ist wutverzerrt. »Das ist der reine Schmutz. Es ist geschrieben, um junge Menschen in die Irre zu führen und ihre Seele zu verderben. Ich werde einen solchen Unrat unter meinem Dach nicht dulden. Das ist ein christliches Haus hier.«

»Fräulein Braunschweig lässt mich keinen Schmutz lesen«, sagt Hanna heftig.

»Gibst du mir etwa Widerworte?«, schreit die Frau. »So ein Mundwerk verdient mit Seife ausgewaschen zu werden.«

Hanna dreht sich um.

»Wo willst du hin?«

»Ihnen die schwarze Seife holen gehen«, sagt Hanna.

»Du bist wahrhaftig ein Kind des Teufels«, wütet die Frau. »Gott weiß, dass wir unser Bestes mit dir versucht haben. Aber du bist unverbesserlich. Und jetzt wirst du dieses Buch im Ofen verbrennen. Ich gehe mit dir.«

»Das kann ich nicht tun«, sagt Hanna. »Es gehört mir nicht.«

»Allerdings nicht. Es ist das Buch des Teufels. Und jetzt in die Küche.«

»Ich werde es nicht verbrennen«, sagt Hanna. In ihrem Benehmen ist keine offene Auflehnung, nur eine ruhige Entschlossenheit. Und die lässt Frau Agathe jegliche Selbstbeherrschung verlieren. Sie schlägt dem Mädchen mit dem Buch ins Gesicht.

»Und jetzt komm mit.«

Hanna fasst sich an die schmerzende Wange und folgt der Frau in die Küche. Frau Agathe reißt eine kleine schwarze Tür auf der Vorderseite des Ofens auf. Eine tiefrote Glut flackert kurz in hellen Flammen hoch.

»Nimm das Buch.« Frau Agathe stößt es in ihre Hand.

Hanna hält es vor die Brust.

»Verbrenn es.«

Hanna schüttelt den Kopf. Frau Agathe greift sich einen Schürhaken, der an der Wand hängt. Einen Moment lang sieht es so aus, als wolle sie das Mädchen damit attackieren. Aber dann hängt sie den Schürhaken schwer atmend wieder zurück. »Du wirst zu Pastor Ulrich gehen«, sagt sie mit einem eigenartigen Hochgefühl in ihrer raspelnden Stimme. »Ich werde dir einen Brief mitgeben. Und dann wollen wir sehen.«

Eine halbe Stunde später steht sie im Pfarrhaus dem fetten Mann gegenüber.

»Ah, Hanna«, sagt er. »Was bringt dich denn an einem so schönen Tag hierher?«

»Ich habe einen Brief von Frau Agathe zu überbringen«, sagt sie förmlich. Sie überreicht ihn und tritt einen Schritt zurück.

Er studiert ihn schweigend. Sein Gesicht färbt sich so violett wie die Kehllappen eines Truthahns, ein sicheres Zeichen für das, was bevorsteht.

»Wo ist das Buch?«, fragt er.

»Ich habe es weggelegt, Herr Pastor.«

»Du solltest es aber mitbringen oder nicht?«

»Ja, Herr Pastor. Aber es gehört Fräulein Braunschweig. Es kann nicht verbrannt werden.«

Er steht aus dem tiefen Ohrensessel auf, geht an ihr vorbei, schließt die schwere Tür und verriegelt sie. Hanna rührt sich nicht.

Er kommt wieder zurück, paddelnd wie ein dicker schwarzer Wasservogel. Dreht sich dann um und blickt sie an.

»Komm hierher«, sagt er. Sein Gesicht glänzt vor Schweiß.

Hanna bewegt sich nicht.

»Ich lasse mich heute nicht anfassen«, sagt sie. Es ist, als ob eine andere Stimme durch sie hindurch spräche. Sie ist selbst überrascht. Es fühlt sich an, als wäre sie gar nicht wirklich hier unten bei ihm, sondern irgendwo weit oben im Dachgebälk und würde auf sie beide herunterblicken, auf den großen unförmigen Mann, der aussieht wie ein schwarzes Wäschebündel, und auf das Mädchen mit dem schlaksigen Körper.

Pastor Ulrich zeigt ein wohlwollendes Lächeln. »Und warum willst du dich heute nicht anfassen lassen?«, fragt er mit sämiger Stimme. Es scheint fast, als genieße er die Zeichen von Widerstand.

»Weil Fräulein Braunschweig mir vor einem Monat gesagt hat, dass ich jetzt eine Frau geworden bin.«

»Ist das so?« Er hebt die dichten Brauen. Er schwitzt jetzt noch stärker, sie kann es riechen. »Und woher weißt du das so genau?«

Einen Moment lang ergreift sie Panik. Dann fließt eine seltsame Ruhe durch sie. Sie hebt den Kopf an und sagt: »Ich blute.«

Seine Reaktion überrascht sie: »Dann wird es Zeit, dass du anfängst, sehr gut auf dich achtzugeben.«

»Danke, Herr Pastor. Ich werde achtgeben. Fräulein Braunschweig hat mir bereits alles darüber erzählt.«

Seine Augen ziehen sich zusammen, als habe er sie im Verdacht, sarkastisch zu sein. »Dein Leib ist der Tempel Gottes«, sagt er. »Männer könnten in Versuchung kommen, ihn zu entweihen.« Er zieht ein großes Taschentuch aus der Soutane und wischt sein Gesicht ab, dann schnäuzt er sich hinein.

»Was meinen Sie, Herr Pastor?«

»Sie könnten ...« Er räuspert sich. »Sie könnten versuchen, dich auf unzüchtige Weise zu berühren.«

»So wie Sie mich berühren, Herr Pastor?«

Er scheint kurz davor, vor Empörung zu explodieren. »Was wagst du da zu sagen?«, flüstert er beinahe.

»Wie Sie mich anfassen, ist das denn dann keine Sünde, Herr Pastor?«, fragt sie.

»Was ich an dir getan habe, meine Tochter«, erwidert er, »habe ich reinen Herzens und edlen Geistes getan, im Namen Gottes. Um die Teufel auszutreiben, die in dir sitzen. Die genau da sitzen.« Er deutet auf sie, lässt dann aber die Hand sinken. Es folgt eine lange Stille. Dann bewegt er sich langsam auf sie zu. »Was du jetzt brauchst«, sagt er, »ist eine vollständige Säuberung. Bevor die Höllenfeuer dich auffressen, die in diesem verborgenen Teil deines Körpers brennen.«

»Wenn es Teufel in mir gibt, dann gehören sie mir. Und Sie haben kein Recht, sie auszutreiben«, sagt sie. Es ist jetzt ein Wagemut und eine Leidenschaftlichkeit in ihr, die ihn offenbar unerträglich erregen.

Er kommt noch näher. Sie weicht zurück. Er folgt. Es ist eine Szene, die einem Betrachter komisch vorkommen könnte, für sie beide, die in ihr gefangen sind, ist sie tödlicher Ernst. Sie weicht zurück. Er folgt ihr. Bis sie die Wand hinter ihren Schulterblättern fühlt und weiß, dass es jetzt kein Zurück mehr gibt. Er kommt noch näher.

»Tun Sie das nicht, Herr Pastor«, sagt sie. Ihre Stimme bricht kurz.

»Es ist zu deinem eigenen Besten«, sagt er. Sie kann an seinem Atem sein Mittagessen riechen. Huhn mit Zwiebeln und Porree. »Es ist meine Pflicht, dich in meine Obhut zu nehmen.«

»Können Sie das nicht Gott überlassen?«, fragt sie. »Oder meinen Sie, der würde vielleicht auch von der Gelegenheit profitieren?« Zum allerersten Mal ist ihr Widerstand offen. Aber schließlich kämpft sie hier um ihr Leben.

»Das ist Gotteslästerung!«, japst er. »Fürchtest du dich denn nicht zu Tode? Es ist Heulen und Zähneklappern, wenn man dem lebendigen Gott in die Hände fällt.«

Das jetzt darf sie nicht sagen, sie darf nicht, aber sie tut es doch: »Wenn Gott so wie Sie ist, Herr Pastor, dann will ich nichts mehr mit Ihm zu tun haben. Nie mehr.«

Die andere Seite der Stille

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