Читать книгу Die andere Seite der Stille - Andre Brink - Страница 12

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Dies ist, soweit Hanna sich erinnert, was am Nachmittag geschah. Die Truppe trifft kurz nach Mittag von Süden her ein. Eine Gruppe Offiziere zu Pferde, gefolgt von einer Horde ausgezehrter Fußsoldaten, vielleicht fünfzig oder sechzig oder achtzig. Dann eine jämmerliche Reihe nackter Sträflinge, die Hände auf dem Rücken gefesselt, aufgefädelt wie die Perlen an einem Rosenkranz mittels eines Seils, das von einem Hals zum nächsten läuft. Namas, so wie sie aussehen, kurzgewachsene, dünne Menschen von gelblicher Farbe und mit verhärmten, zerfurchten Gesichtern. Die meisten sind Männer, aber es sind auch Frauen darunter und sogar mehrere Kinder. Die Nachhut besteht aus einem weiteren Trupp Soldaten mit Gewehren und Peitschen und Sjamboks.

Es muss sich um Gefolgsleute von Hendrik Witbooi handeln, die aus reiner Gewohnheit oder Sturheit selbst noch fünf Monate nach dem Tod ihres Hauptmanns weiterkämpfen. In den frühen Tagen dieses Krieges, der in dem riesigen Land hier mittlerweile seit Jahren immer wieder einmal aufflammt, hat es eine Art von Ehrenkodex gegeben, der die Beziehungen zwischen der deutschen Besatzungsarmee und den einheimischen Leuten bestimmte. Es ist allgemein bekannt, dass Witbooi einmal, nachdem er wochenlang auf einem Berg belagert worden war, dem kommandierenden deutschen Offizier unten in der Ebene einen Brief schickte (»Sehr verehrter kaiserlich deutscher Herr Franz«), in dem er seine Bedürfnisse auflistete: Essen, Wasser, zwei Kisten Martini Henry Munition, »wie es sich gehört zwischen großen, würdigen und zivilisierten Nationen«. Aber schon bald war von Ehre nicht mehr viel zu sehen, und im Laufe der Zeit, vor allem nachdem Generalleutnant von Trotha das Kommando übernommen hatte, wurde der Krieg ebenso bestialisch wie jeder andere und griff im Rahmen der Tabula-rasa-Strategie des Generals auf große Teile der Kolonie über. Zu manchen Zeiten war er kaum mehr als eine Anhäufung von kleinen Scharmützeln, von isolierten Guerillaangriffen auf Farmen oder Außenposten oder Armeecamps, aber vor zwei Jahren, 1904, weitete er sich plötzlich zum totalen Flächenbrand. Die Hereros, die von der deutschen Enteignung und einer Viehseuche, die ihre Herden dahinraffte, schließlich aus ihren angestammten Gebieten vertrieben worden waren und nichts mehr zu verlieren hatten, trugen Welle um Welle verzweifelter Angriffe vor, um die Deutschen – Schutztruppen, Siedler, Händler, jedermann – in die weißschäumenden Wellen des Atlantik zurückzutreiben. Diesmal sprangen die meisten anderen eingeborenen Völker ihnen bei, vom Kunene im Norden bis hinunter zum Oranje. Und nachdem die Gewalt sich im Norden totgelaufen hatte, flammte sie im Süden wieder auf. Und jetzt führt, auch nach der Abberufung von Trothas, sein militärischer Nachfolger, der Oberbefehlshaber Dame, seinen Feldzug gegen die Nama weiter. Und von daher kommt diese Truppe hier.

Irgendjemand, der aus einem der hochgelegenen hinteren Zimmer des Frauensteins blickt, schlägt Alarm. Binnen weniger Augenblicke drängen sich an jedem Fenster Frauen wie Fledermäuse an der Decke einer Höhle, während die Leitung des Hauses, allen voran die winzige, aber ehrfurchtgebietende Frau Knesebeck, auf dem Hinterhof zwischen der Küche und den Scheunen und Ställen eine schützende Phalanx bildet. Das ganze Gemäuer bebt vor Aufregung. Fremde! Besucher! Und so viele. Das allgemeine Gefühl, einen großen Moment zu erleben, etwas nie Dagewesenes. Zugleich aber auch ein böses Vorgefühl, Angst, Furcht. All diese Soldaten – die können doch nichts Gutes im Schilde führen. Ähnliche Besuche in der Vergangenheit haben sich auf kleine Patrouillen von jeweils zwei, drei oder höchstens einem halben Dutzend Soldaten beschränkt, und Gott weiß, was die schon für ein Chaos hinterließen. Was heute bevorsteht, kann sich niemand vorstellen. Ein solcher Einbruch von jenseits der Wüste ist etwas Schwererwiegendes als ein geschichtlicher Moment, es ist der Stoff, aus dem man Legenden und Mythen macht. So nah war der Krieg noch nie am Frauenstein, mit einem Mal ist er kein Gerede mehr und kein Gerücht, keine Ahnung und keine Möglichkeit, sondern etwas überwältigend Wirkliches. Er ist hier, er ist jetzt. Alle zittern sie vor banger Erwartung.

Der Befehlshaber steigt als Erster vom Pferd. Er schlägt die Hacken zusammen und verbeugt sich steif vor Frau Knesebeck.

»Gnädige Frau!«

»Mit wem habe ich die Ehre?«, fragt sie und streckt förmlich die Hand aus.

Jetzt, auf gleicher Höhe mit ihm, findet sie seine Gestalt weniger beeindruckend als im Sattel. Untersetzter, fleischiger und mit etwas zu kurzen Beinen für den schweren Oberkörper, und außerdem schwitzt er ausgiebig. Nichtsdestotrotz lässt ihn die Khakiuniform mit ihren vielen Litzen und Blechanhängern als ein strahlendes Exemplar imperialer Männlichkeit erscheinen.

»Oberst von Blixen«, sagt er und drückt seine von der Sonne aufgesprungenen Lippen auf ihren Knöchel.

Seine Kompanie befinde sich auf dem Rückweg vom Namaland, erklärt er ihr. Er sei glücklich, behaupten zu können, dass er befriedetes Territorium zurücklasse. Von daher sollte nichts mehr zu befürchten sein. Aber seine Männer seien erschöpft. Ein wenig Erfrischung würde ihnen gut tun. Er wirft einen Blick hinauf zu den von weiblichen Körpern fast gesprengten Fenstern. Ein wenig Gesellschaft auch. Wenn denn das, was sie über dieses bewundernswerte Haus gehört hätten, stimme.

»Das ist hier ein ordentlicher deutscher Haushalt«, sagt Frau Knesebeck schmallippig. Aber dem genauen und vielleicht sogar hoffnungsvollen Beobachter mag der Anflug eines Zwinkerns bei diesen Worten nicht entgangen sein.

»Wir werden uns in jedem Punkt wie Ehrenmänner verhalten«, versichert er ihr. Sein Zwinkern ist weniger zweideutig.

»Wir führen hier ein bescheidenes Leben«, informiert sie ihn. »Wir verfügen nicht über Lebensmittel im Übermaß.« Da sie bemerkt, wie seine Augen schmal werden, beeilt sie sich hinzuzufügen: »Aber was wir haben, steht Euer Exzellenz natürlich zur Verfügung.«

»Sobald wir zurück in Windhuk sind«, entgegnet er mit großartiger Geste, »werden wir dafür sorgen, dass all das, was meine Männer heute verzehren, erstattet wird. Zehnfach.«

Frau Knesebeck überschlägt rasch mehrere Dinge, bevor sie sich mit Anordnungen an ihre Mitarbeiterinnen wendet. Sechs Hammel sollen geschlachtet werden und so viele Hühner wie nötig. Aus dem Garten soll reichlich Gemüse hereingeholt werden.

Ein unbekanntes fiebriges Gefühl der Erwartung breitet sich durch alle Korridore und in alle Ecken des Gebäudes aus, während die Frauen mit den Vorbereitungen für das Fest beginnen. Die Männer draußen machen sich daran, das Fleisch auf großen Lagerfeuern zu braten, zu denen sie die Holzvorräte bei der Küche geplündert haben. Aus einiger Entfernung starren die Gefangenen, bedeckt von ockerfarbenem Staub, der nur Augen und Mund frei lässt, in willenloser Apathie herüber. Zwei Wachen mit Sjamboks bewegen sich langsam durch ihre Reihen, um mit jedermann kurzen Prozess zu machen, der vorhaben könnte, vor Müdigkeit, Hunger oder Schmerz zu Boden zu sinken. Bevor der Nachmittag vorüber ist, werden zwei Körper ein Stück vom Haus weg fortgeschleppt und den Tieren überlassen werden, die ihnen schon seit Tagen in respektvollem Abstand gefolgt sind.

Die Soldaten essen draußen. Die Offiziere werden an dem langen Refektoriumstisch bedient, der mitten in einem der selten benutzten Empfangsräume im ersten Stock des Hauses steht. Da durch die hohen, schmalen Fenster wenig Licht eindringt – das ganze Gebäude wirkt so, als sei es konstruiert worden, um möglichst wenig Außenwelt einzulassen –, stehen Leuchter auf dem Tisch, und an den nackten Wänden sind Fackeln angebracht, die wirre Schatten werfen und den Raum in eine unwirkliche, mittelalterliche Atmosphäre tauchen. Frau Knesebeck sitzt an einem Kopfende der Tafel, Oberst von Blixen am anderen. An die Wände gedrängt, offensichtlich zwischen Faszination und Furcht hin- und hergerissen, stehen die dreißig oder vierzig Bewohnerinnen des Hauses, die die Vorsteherin in entschiedenem Ton herbeizitiert hat, und begaffen die zechenden Männer. Die Bandbreite geht von scheinbar zahnlosen alten Weiblein (obwohl hier eigentlich niemand älter als fünfzig sein kann) bis zu der noch kaum mannbaren Katja. Das Mädchen wird eingerahmt von Hanna X und einer schielenden jüngeren Frau, Gerda Kaiser, die noch nicht sehr lange hier ist und deren Gesicht Pockennarben verunstalten. Auf der breiten Steintreppe (die hinunter Hanna sehr viel später ihr Opfer schleifen wird, bong, bong, bong) herrscht ein ständiges Kommen und Gehen, da die Bediensteten das abgetragene Geschirr hinunter zur Küche bringen und mit neuen, gefüllten Platten wieder heraufkommen. Frau Knesebeck hat Cognac aus dem Keller kommen lassen. Kaum einer der Insassinnen des Frauensteins war es überhaupt bewusst, dass dort unten Vorräte von dieser Art lagern. Die müssen noch aus der halbvergessenen Frühzeit des Hauses stammen und auf einem der Wagen von Windhuk oder vielleicht auch Lüderitz hertransportiert worden sein, die immer noch ein paar Mal im Jahr mit Dingen beladen die Wüste durchqueren, die der Frauenstein nicht selbst produzieren kann: mit Salz und Zucker, Öl und Essig, Kaffee, Paraffin und Kerzen, mit kleinen Mengen Kautabak, Medikamenten, Schuhen und Kleidung, Nadeln, Wolle und Baumwollballen, mit Besteck und Geschirr, ab und zu auch mit Papier und Tinte für die Register und Hauptbücher, die theoretisch geführt werden müssten, obwohl das in der Praxis kaum geschieht, mit Leintüchern und mit einigen grundlegenden Geräten zur Feldarbeit. (Ab und zu kommt es zu einem Irrtum der Versender, der sich dann im Eintreffen großer Mengen unerwarteter und unnötiger Gegenstände äußert, die auf den Hof gekippt werden: Einmal war es eine ganze Wagenladung von Nachttöpfen aus Porzellan, einmal ein Stapel Uniformen, ein andermal ein Berg linker Schuhe oder eine Sammlung von Schafscheren, dann wieder eine Lieferung von Stielen für Spitzhacken, die ursprünglich für ein Bergwerk in Otavi oder Otjiwarongo gedacht gewesen waren. Und vermutlich war auf diese Weise auch irgendwann der Cognac hier eingetroffen.)

Im Laufe der Mahlzeit werden die Männer, während die Spirituosen in immer größeren Mengen konsumiert werden, immer ausfälliger. Einige fangen an, mit den Händen zu essen und die Zähne direkt ins Fleisch zu schlagen, um es vom Knochen abzunagen. Gläser und Teller gehen zu Bruch, der Cognac wird direkt aus den Flaschen gesoffen, die noch immer unaufhörlich aus den Tiefen des Gebäudes heraufgebracht werden. Und ihrem immer unverantwortlicheren Benehmen nach zu urteilen, müssen auch einige der Serviererinnen sich am alkoholischen Feuer gewärmt haben, denn in immer unvorhersehbareren Schlangenlinien legen sie den Weg zwischen Keller und Speisesaal zurück. Und im selben Maße wie Oberst von Blixens Gesten, die seine Prahlereien über Erfolge auf dem und abseits des Schlachtfelds begleiten, immer ausladender und unkontrollierter werden, erinnert der Mund Frau von Knesebecks mehr und mehr an das zusammengekniffene Hinterteil eines Huhns.

Hier und da den langen Tisch entlang bricht aus den Zechern lärmender Gesang, und zwischen den rivalisierenden Sängergruppen gibt es die ersten Handgreiflichkeiten. Noch mehr Geschirr geht zu Bruch, diesmal nicht mehr aus Überschwang, sondern aus Zorn. Oberst von Blixen hievt sich hoch, stützt sich auf seinen langen Armen ab und donnert einen langen Befehl, der in einer Reihe von Verben gipfelt. Von vier höheren Offizieren geleitet, werden die Anstifter der Keilerei des Saals verwiesen. Ihrer Rangabzeichen ledig, werden sie, wenn der Marsch weitergeht, draußen die Reihen der Fußsoldaten verstärken. Eine kurze Weile lang werden die an dem langen Tisch verbliebenen Männer unter dem drohenden Blick ihres Kommandeurs still und versuchen mit unterschiedlichem Erfolg, die nächste Runde Cognac in ihre leeren Gläser zu gießen. Die Ordonnanzoffiziere kommen wieder die Treppe herauf, zwei davon auf allen vieren.

»Es ist Zeit, einen Toast auszubringen«, erklärt der Oberst, der offenbar vergessen hat, dass das längst geschehen ist.

Die Offiziere erheben sich mit gedrillter Würde. Drei Toasts werden ausgebracht und dreimal die Gläser geleert. Auf ihre liebenswürdige Gastgeberin. Auf das Oberkommando in Windhuk. Auf Seine kaiserliche Majestät, Wilhelm den Zweiten in Berlin.

»Und nun wollen wir uns den anderen Delikatessen zuwenden, die man uns so großzügig zur Verfügung gestellt hat«, kündigt Oberst von Blixen an.

Er rückt den Stuhl zurück, braucht, die Hände auf dem Rücken gefaltet, eine Zeit lang, um gerade zu stehen, und bewegt sich dann gemessenen Schritts auf den nächststehenden an die Wand gedrückten Haufen von Frauen zu. Er hält kurz inne und trocknet sich die schweißnasse Stirn mit einem großen Taschentuch, das er nicht ohne Mühe aus der Tasche gefischt hat. Mit all dem strahlenden guten Willen des siegreichen Eroberers hebt er das Kinn der ersten Frau an, studiert kurz ihre Züge und bewegt sich dann zur nächsten weiter.

»Herr Oberst«, sagt Frau Knesebeck und macht am anderen Ende des Tisches Anstalten aufzustehen.

Er kümmert sich nicht darum. Als er die fünfte oder sechste Frau erreicht hat, wird sein Benehmen immer dreister. Er begnügt sich nicht mehr damit, ein Kinn oder eine Hand anzuheben oder ein Ohrläppchen zu kneifen, jetzt drückt er Brüste, kneift in Brustwarzen oder zwingt die Knöchel in den Mund der Frau vor ihm. Und je weiter er kommt, desto brutaler kneift er. Eine der Frauen stöhnt leise vor Schmerz auf. Da hebt er auch die zweite Hand und kneift in beide Brustwarzen. Diesmal gibt sie kein Geräusch von sich, aber ihr Gesicht wird sehr weiß. Als er die zwölfte Frau erreicht, befiehlt er ihr, sich umzudrehen, und fummelt an ihrem Hinterteil herum, gibt dann ein Grunzen von sich und geht weiter. Bei der folgenden packt er mit beiden Händen den Kragen ihres Kleids und reißt es auf, sodass ihre Brüste zum Vorschein kommen. In einer Reflexbewegung versucht die Frau sie mit den Händen zu bedecken. Von Blixen schlägt sie sehr hart ins Gesicht.

»Herr Oberst«, sagt Frau Knesebeck.

Die Frau lässt die Hände sinken und blickt zu Boden.

Immer weiter schreitet der Befehlshaber. Recht bald macht er sich nicht mehr die Mühe, die Hemden oder Kleider vor ihm aufzureißen, sondern bellt kurze Kommandos und die Frauen tun es selbst. Langsam wird ihm langweilig. Er kehrt zum Tisch zurück, füllt sich sein leeres Glas wieder auf, leert es mit einem einzigen Schluck, wischt sich den Mund mit dem Handrücken ab und kehrt dann zu seiner Abnahme zurück. Der neue Befehl lautet, dass sie ihre Röcke hochraffen und ihre Unterwäsche ausziehen müssen, einige mit dem Rücken zu ihm, andere mit dem Gesicht. Er wirft Blicke auf die Unterleiber, zieht hier und da an einem Schamhaar, steckt einen Finger in eine Vulva und zieht ihn angeekelt wieder heraus, sobald er feststellt, dass die Frau menstruiert. Genauso wie die nächste. Und die übernächste.

»Herr Oberst«, sagt Frau Knesebeck in flehendem Ton.

»Gottverdammt!«, knurrt von Blixen. Er kehrt an den Tisch zurück und gibt seinen Offizieren den Befehl, die Inspektion an seiner Stelle weiterzuführen. Sie stoßen jedes Mal auf Blut. Der Oberst begnügt sich damit, seine Runde in einigem Abstand zu den Insassinnen fortzusetzen, die an die Wand gereiht dastehen, und vertieft den Blick nur hier und da in irgendein Gesicht, das ihn kurz zu interessieren scheint. Dann bedeutet er dem nächststehenden Offizier, sie genauer in Augenschein zu nehmen. Auch hier Blut.

Erst als er zu Katja kommt, hält der Oberst inne.

»Du da«, sagt er. »Komm her.«

Katja versucht, sich hinter Hanna X zu verstecken.

»Herkommen!«, schreit er so laut, dass einige der Frauen einen Schreckenslaut ausstoßen.

Das zitternde Mädchen macht ein, zwei Schritte vorwärts. Er winkt es mit dem Finger zu sich. Dann steht es vor ihm.

»Na komm, Mädchen«, sagt er. »Brauchst keine Angst haben.« Mit überraschender Zärtlichkeit, beinahe väterlich, nimmt er ihr Gesicht in die Hände und beugt sich vor, um sie auf die Stirn zu küssen. »War das jetzt so schlimm?«, fragt er.

»Nein.« Es gelingt ihr, ein wenig zu lächeln.

»Und das hier?« Von Blixen nimmt sie bei den Schultern – was für magere Schultern, die Schulterblätter stehen hervor wie kleine Flügelstümpfe. Er drückt ihren Körper zart gegen seinen, immer noch mit Gesten zärtlicher Behutsamkeit.

Kurzzeitig scheint sie ihre Furcht zu überwinden und lehnt sogar den Kopf an seine Schulter.

»Zeig mir deine Titten«, sagt er.

»Ich hab’ keine«, flüstert sie. Ist der Ton scheu, spitzbübisch, beschämt, verängstigt? Schwer zu sagen.

»Herr Oberst«, sagt Frau Knesebeck.

»Ich nehm’ die hier«, sagt er und fasst das Mädchen bei der Hand.

Hanna X bringt einen tiefen Laut des Protests aus ihrer Kehle hervor.

In die Gruppe der Frauen, der Insassinnen wie der Bediensteten, kommt eine gewisse Bewegung.

»Ruhe!«, brüllt der Oberst. Sein Gesicht glänzt jetzt wieder vor Schweiß. Sogar auf den Härchen auf seinen Fingern schimmert es feucht. Noch immer hält er Katjas kleine Hand mit seiner freien Hand umklammert. Einen Moment lang blitzt er die dastehenden Frauen noch an, dann wendet er sich der nächsten Tür zu und zieht das Mädchen hinter sich her.

»Es tut mir leid, Herr Oberst«, sagt Frau Knesebeck. Mit plötzlicher Entschlossenheit verlässt sie den Tisch und eilt an dem Oberst vorbei, um ihm den Weg zur Tür zu versperren. »Dieses Mädchen können Sie nicht mitnehmen. Es steht unter unserer besonderen Obhut.«

»Beiseite!«, bellt er.

Die kleine Frau zögert einen Moment, dann schüttelt sie den Kopf. »Ich muss Ihnen mitteilen, dass sie hier unter besonderem Schutz steht.«

»Wessen?«, fragt er. »Und was für einen Unterschied soll das machen?«

Die Vorsteherin bleibt fest. »Wir haben Anordnung vom Oberkommandierenden der deutschen Kolonialarmee persönlich, Herrn General Dame«, teilt sie ihm, ohne mit der Wimper zu zucken, mit.

Er starrt sie wortlos an, dann blickt er auf das Mädchen hinunter: »Stimmt das?« In plötzlicher Wut schüttelt er sie, wie ein Hund ein Kaninchen schüttelt.

Katja bringt nur ein Wimmern zustande.

Wieder gehen von Blixens Augen zu seiner Gastgeberin. »Ich glaube nicht, was Sie da sagen«, sagt er, aber seine Stimme hat ein wenig von ihrer Selbstsicherheit verloren.

»Ich habe Anordnung, direkt an Gouverneur von Lindequist zu berichten«, sagt Frau Knesebeck ruhig. »Wenn diesem Mädchen, das die Nichte von Oberbefehlshaber Dame ist, irgendetwas zustößt, werden Sie sich vor ihm zu verantworten haben.«

Die andere Seite der Stille

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