Читать книгу Die andere Seite der Stille - Andre Brink - Страница 16

11

Оглавление

Im Waisenhaus gibt es eine Strafe, die Hanna mit der Zeit tatsächlich genießt, auch wenn sie darauf achtet, es nicht merken zu lassen, denn sonst werden sie mit etwas anderem kommen. Sie besteht darin, dass man ihr befiehlt, stundenlang, manchmal einen ganzen Nachmittag hindurch, auf einer harten Bank an einem der langen, leeren Refektoriumstische zu sitzen und in der Bibel zu lesen. Danach muss sie an Frau Agathe über das Gelesene berichten. Lange Zeit hasst sie diese Strafe, denn die Bibel ist das Buch der Leute, die sie am meisten terrorisieren und ihr bis in die Träume hinein zusetzen. Aber dann entdeckt sie die guten Geschichten. Und im Laufe der Zeit findet sie einige, die ihr besser gefallen als andere. In den meisten Fällen sind das Geschichten von Frauen, die sich auf die eine oder andere Weise aus widrigen Umständen herausschummeln oder charmieren oder kämpfen oder winden. Zum Beispiel Ruth, arm und unglücklich, die auf dem Feld des reichen Mannes Boas Ähren liest (was immer das heißen soll). Eines Nachts schließlich kriecht sie unter seine Bettdecke und sorgt dafür, dass er sie bemerkt, und so entschließt er sich, sie zu heiraten. (Eine ziemlich lächerliche Geschichte, findet sie, aber immerhin entkam Ruth auf diese Weise ihrer Armut.) Oder die kluge Esther, die König Ahasverus heiratet, nachdem er sein Weib Vasthi gefühllos verstoßen hat, und die ihre Macht dann benutzt, um ihren Freunden zu helfen und ihre Feinde zu strafen. Und natürlich die berüchtigte Salome, die sich ins Herz von König Herodes tanzt und ihn überredet, ihr das Haupt von Johannes dem Täufer auf einer Platte vorzulegen. Eine ziemlich üble Geschichte, aber wie sonst hätte das Mädchen denn ihre Ziele erreichen sollen?

Es gibt noch mehr Geschichten, die ein Leuchten tiefer, dunkler Befriedigung hervorrufen. Die Schwester Moses, die die Tochter des Pharaoh betrügt, um das Leben ihres kleinen Bruders zu retten. Thamar, die ihren Schwiegervater dazu überlistet, mit ihr zu schlafen, um ihn dadurch als den heuchlerischen Herrn zu offenbaren, der er ist. Hagar, zurückgestoßen von dem Mann, der sie auf den niederträchtigen Rat seiner alten Frau Sarah hin benutzt hatte, und die dann in der Wüste von einem Engel gerettet wird. Lots Töchter, die ihren Vater betrunken machen und sich dann zu ihm legen, damit ihr Stamm nicht ausstirbt. (Hanna weiß nicht recht, wie die Tatsache, sich zu einem Mann zu legen, zum Überleben eines Stamms führen kann, aber ganz gleich wie, scheint es eine raffinierte Methode, um zu seinem Ziel zu gelangen.) Deborah, die zur Richterin über ihr gesamtes Volk wird und Baraks Armeen gegen den Feind Sisera schickt. Und Jael, die denselben furchtsamen Sisera beschmeichelt, einen Becher Milch gegen seinen Durst zu akzeptieren, woraufhin sie ihn mit einem Leinen zudeckt und zum Schlafen in ihr Zelt legt, nur um dann einen langen Pflock durch seine Schläfe zu treiben, der ihn am Boden festnietet. Umso besser für sie. Und Dalilah, die den wilden, prahlerischen Samson zugunsten ihres Volks verrät und ihn für die vielen Männer bezahlen lässt, die er mit dem Kieferknochen eines Esels totgeprügelt hat. Und so weiter und so weiter durch all diese goldbeschnittenen Seiten, bis hin zu der triumphalen Vision des in Purpur und Samt gewandeten Weibs, das auf einem scharlachroten Tier mit sieben Köpfen und zehn Hörnern sitzt: Also das, denkt Hanna, ist genau die Art und Weise, wie sie gerne eines Tags durch die Straßen Bremens reiten wollte, begleitet vom Geläut aller Glocken des Doms.

Die andere Seite der Stille

Подняться наверх