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Das Waisenhaus ist erfüllt von Gerüchen. Urin, Karbolsäure, altes Leder, Schimmel, Verzweiflung. Und Essen: Sauerkraut, Porree, Kartoffeln, Suppe aus Fischköpfen. Aber es gibt auch gute Gerüche: Frisch gebackenes Brot, frische, schaumige Milch direkt vom Euter im Eimer, frisch gebügelte Wäsche, Schuhwichse, eine soeben ausgeblasene Kerze. Das Pfarrhaus riecht nach Rattenkot und Schimmel. Aber die Religion wird für sie immer nach Pastor Ulrich stinken. Etwas Abgestandenes, der Geruch eines alten Sofas, auf dem Hunde geschlafen haben. »Näher, Mädchen, komm näher. Welche Sünden hast du uns heute mitgebracht?« Wie begierig er ist, sie zu hören. Sie wird wieder ihre kleine Litanei hersagen und weiß jetzt schon, dass er antworten wird: »Ich weiß nicht recht, ob das wirklich alles ist. Aber das werden wir gleich herausfinden, nicht wahr?« Zunächst kommt seine Strafpredigt, die Wörter spritzen aus seinem Mund und machen Flecke auf ihr. Manchmal denkt sie, dass er deswegen dieses dämliche kleine Beffchen trägt: Als Latz für den Fluss seiner Wörter, die er ebenso unreinlich verkleckert wie die Essensreste, die seine Weste beschmutzen. Und ist das Gerede vorüber, wird es Zeit, den Teil ihres Körpers zu zwicken und bis aufs Blut zu quetschen, der für ihn seit jeher der Sitz des Bösen ist. Sie weiß, dass er von ihr erwartet, zusammenzuzucken, zu quäken oder laut aufzuschreien, aber das tut sie nie. Zwar wird es dadurch nur schlimmer, aber diesen Triumph gönnt sie ihm nicht.

Als sie eines Abends zum ersten Mal das Blut bemerkt, glaubt sie, es komme von der Kneiferei. Erst als es am nächsten Tag noch immer andauert, begreift sie, dass ihr etwas Ernstes fehlt. Vielleicht muss sie ja sterben. Was schade wäre, da in einem Monat das Weihnachtskonzert stattfindet, auf das sie sich gefreut hat. Dazu bekommen sie alle gestärkte weiße Kleider ausgehändigt. Keine neuen, aber neuere, als sie je getragen haben. Auf so einem Kleid will sie keine Blutflecken.

Das gesteht sie der einzigen Lehrerin, die sie mag, Fräulein Braunschweig, die Erdkunde lehrt und sie, als sie entdeckt, wie ausgehungert das Mädchen nach Büchern ist, zum Lesen ermutigt. Manchmal verbringt Hanna nach dem Unterricht mehrere Stunden in Fräulein Braunschweigs Klassenzimmer mit Lesen und vergisst darüber Zeit und Stunde. Und es ist noch nicht einmal ein Risiko damit verbunden. Denn sie kann, sollte sie zu spät zurück ins Waisenhaus kommen, erklären, sie habe Arrest gehabt; Frau Agathe hört gerne von solchen strikten Maßnahmen. Wenn sie nicht liest, reden sie endlos miteinander. Fräulein Braunschweig ist viel gereist, durch ganz Deutschland hindurch, von Hamburg hinunter bis zu den bayerischen Alpen und von Dresden bis Saarbrücken. Sogar bis nach Wien und Prag und Budapest und einmal sogar nach Paris.

»Wenn ich groß bin, will ich auch reisen«, sagt Hanna. »Ich werde einmal um die ganze Welt reisen. Ich will alles sehen, was es gibt.« Bei diesen Worten glüht ein Fieber in ihrer Brust. Sie legt die Hände auf die glatte Oberfläche des Globus in Fräulein Braunschweigs Raum. Unter ihrer Berührung dreht er sich langsam. »All diese Orte mit so musikalischen Namen.« Sie bewegt den Finger auf gut Glück vorwärts. »Cordoba, Carcassonne, Tromsö, Nowgorod, die chinesische Mauer, der Bosporus, Tasmanien, Saskatchewan, Arequipa, Tierra del Fuego, Sierra Leone, Yaoundé, Okahandja, Omaruru. Ich will dahin, wo die Vögel im Winter hinfliegen. An die warmen Orte auf der Erde. Hinter den Ursprung des Winds. Wo die Sonne scheint und seltsame Tiere leben und Kannibalen und Drachen und wo es Palmen gibt.«

Fräulein Braunschweig ermutigt sie zu diesen Fantasiereisen. »Irgendwann einmal«, sagt sie, »gehe ich vielleicht mit dir.«

»Sie?«

Zu ihrer Überraschung läuft Fräulein Braunschweig rot an. »Ich habe auch immer vom Reisen geträumt«, gesteht sie wie ein Schulmädchen. »Vor Jahren einmal hatte ich einen genauen Plan ausgearbeitet. Ich wollte mit ... einem Freund verreisen.« Sie macht eine Pause und schließt abrupt an: »Und dann starb er.«

»Das tut mir so leid.«

Immer wieder überrascht die Lehrerin das Mädchen. Allen anderen gilt Hanna als ungeschickt, sie ist diejenige, die immer etwas verschüttet, irgendwo dagegenläuft, Dinge versehentlich von Tischen und Kommoden stößt, einen Schuh verliert oder ihren Hut oder ihre Schürze, die vergisst, Türen und Fenster zu schließen, die Socken in der Wäsche verlegt, die über alles stolpert, was in der Gegend herumsteht, sie ist diejenige, die weder anständig ihr langes Haar aufstecken noch ein Laken falten kann, die sich ständig den Finger in einer Tür oder Schublade einklemmt und deren Arme und Beine andauernd mit Schürfwunden und blauen Flecken übersät sind. Aber für Fräulein Braunschweig ist sie eher eine Kameradin als ein Kind.

Vor allem ist Fräulein Braunschweig jemand, der sich sorgt und kümmert. Sie ist es, die Arzneien holen lässt, wenn Hanna sich unwohl fühlt, sie, die ihr gestattet, sich auf ein Sofa zu legen, und sie zudeckt, wenn sie vor Hunger im Klassenzimmer in Ohnmacht fällt, weil sie aufgrund irgendeines Verstoßes kein Frühstück bekommen hat. Und sie ist es natürlich auch, die an diesem Donnerstag Anfang November bemerkt, dass irgendetwas nicht stimmt, und fragt: »Was ist los mit dir, Kind? Du siehst so blass aus.«

Zunächst ist sie zu schüchtern, etwas zu sagen. Aber als Fräulein Braunschweig in sie dringt, gesteht sie mit hängendem Kopf und brennendem Gesicht: »Ich blute jetzt schon seit zwei Tagen, Fräulein.«

»Wo?«

Mit schamrotem Gesicht deutet Hanna hastig auf ihren Unterleib.

»Wie alt bist du jetzt, Hanna?«

»Zwölf. Ende des Monats werde ich dreizehn, am fünfundzwanzigsten.«

Über das Gesicht der Lehrerin gleitet der Schatten eines Lächelns. »Ich glaube, du bist dabei, zur Frau zu werden, Hanna.«

Sie ist zu perplex, um zu antworten. Und sie fürchtet sich, über den ihrer Ansicht nach tatsächlichen Grund zu sprechen, nämlich dass Pastor Ulrich ihr eine tödliche Wunde beigebracht hat. Denn dann müsste gar zu viel erklärt werden.

»Von jetzt an wirst du jeden Monat einmal bluten, mein Kind.«

»Wie kann das denn sein?«

»Das passiert uns allen so. Und jetzt setz dich einmal hin und höre mir genau zu.«

Danach versorgt Fräulein Braunschweig sie mit ein paar Streifen Leinen aus der Schublade, in der sie unerschöpfliche Reserven der unerwartetsten Dinge für jeden nur möglichen Notfall aufbewahrt, und dann gibt sie Hanna einen Brief für Frau Agathe mit und ein neues Buch, das sie mit zu den Kindern Jesu nehmen kann.

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