Читать книгу Die andere Seite der Stille - Andre Brink - Страница 18

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Der gesamte Nama-Stamm, fünfzig oder sechzig Menschen, Männer, Frauen und Kinder, begleiten Hanna X, als sie schließlich so weit ist, zum Frauenstein transportiert werden zu können. Und sie gehen, gehen, gehen und sie trecken, trecken, trecken durch eine Landschaft voller Geschichten, bis schließlich der seltsame, unwirkliche Bau sich vor ihren Augen am Horizont abzeichnet.

Im Näherkommen passieren sie einen riesigen Gemüsegarten, der in dieser Wüste eine wirkliche Überraschung ist, und ein Stück Garten, der verdorrt ist und der Friedhof sein muss. Er ist von einer unregelmäßig aufgeschichteten, niedrigen Mauer umgeben. Aber Grabsteine gibt es keine. Jedes der Gräber, es müssen gut fünfzig sein, die in geraden Reihen stehen, hat ein grob geschreinertes Kreuz an einem Ende, aber auf keinem steht eine Inschrift. Auch Blumen sucht man vergeblich oder irgendein anderes Zeichen dafür, dass jemand sich um den Ort kümmert und ihn in Ordnung hält. Die letzte Reihe ist noch nicht voll, aber die letzten drei oder vier Gräber darin sind bereits ausgehoben und notdürftig mit verwitterten Brettern bedeckt, neben denen Erdhaufen liegen. Geduldig warten die Gräber darauf, einen jeden zu empfangen, der hierher getragen wird.

Der kleine Trupp Namas bleibt eine Weile stehen, um sich diesen Ort genauer anzusehen, der so sehr viel provisorischer wirkt als die Steinhaufen, die ihr Volk quer durch das dürre Land auf seinen Gräbern aufrichtet, um seiner Toten zu gedenken sowie der vielen Tode seines Jägergottes Heiseb – allein auf dem Weg hierher sind sie an dreien davon vorbeigekommen. Nach einer Weile machen sie sich wieder auf und nähern sich dem hochragenden steinernen Bau.

Eine Frau in grauem Kleid öffnet auf ihr Klopfen hin die riesige Eingangstür. Als sie die Masse von Schwarzen sieht, weicht sie einen Schritt zurück, aber als sie ihnen bereits die Tür vor der Nase zuschlagen will, entdeckt sie die weiße Frau unter ihnen, sieht, wie sonnenverbrannt und mager sie ist, sieht ihr verstümmeltes Gesicht – und zögert.

»Was wollt ihr?«, fragt sie.

»Wir bringen eine Frau, die wir in der Wüste gefunden haben«, sagt der Stammesführer, dessen Name Xareb ist.

»Warum kommt ihr hierher? Warum habt ihr sie nicht nach Windhuk gebracht?«, fragt die Frau.

»Wir haben gehört, das sei hier ein Ort für Frauen«, sagt der Mann.

Die Frau wendet sich voller Abscheu an Hanna: »Was haben sie mit dir gemacht?«

Hanna zuckt nur in einer hoffnungslosen Geste die Achseln.

Xareb wendet sich ihr zu und bedeutet ihr, den Mund zu öffnen. Als sie zögert, tut er es für sie, indem er mit kräftigen Fingern in ihre hohlen Wangen drückt. Sie stöhnt vor Schmerz auf, die Wunde, durch die man ihre Zähne sehen kann, ist noch nicht vollständig verheilt. Zwischen Xareb und der alten Taras entbrennt ein heftiger Wortwechsel auf Nama.

»Wartet«, sagt die Frau an der Tür rasch und eilt ins dunkle Innere des Hauses, dann kommt sie wieder zurück an die Tür.

Es dauert lange, bis Frau Knesebeck erscheint, flankiert von mehreren ihrer Mitarbeiterinnen. Zwei von ihnen tragen Gewehre, obwohl es angesichts der Art, in der sie sie halten, zweifelhaft erscheint, ob sie damit umgehen können. Folgt eine fast endlose Diskussion zwischen Xareb und Frau Knesebeck, während der Hanna erneut aufgefordert wird, den Mund zu öffnen.

Dann wieder Warten vor der verschlossenen Eingangstür. Einige der Kinder werden langsam unruhig. Sie sind umringt von Fliegen. Zikadengeschrei schrillt ohrenbetäubend. Die Sonne steht im Zenith.

Als Frau Knesebeck wiederkehrt, wird sie von den vier Frauen begleitet, die mit Hanna auf dem Wagen waren.

»Mein Gott!«, ruft eine von ihnen. Es ist Dora, die Junge, die sich während des Deliriums um sie kümmerte. »Wir dachten, du wärst tot.«

»Also kennt ihr sie?«, fragt Frau Knesebeck überflüssigerweise.

Alle vier bestätigen das lautstark, wirken daraufhin extrem beschämt und versuchen, sich heimlich zurückzuziehen.

»Ihr habt nie etwas von einer weiteren Frau gesagt«, fordert Frau Knesebeck sie heraus.

»Wir haben sie in der Wüste verloren«, sagt Dora. »Da war sie schon mehr tot als lebendig. Es gab nichts, was wir für sie hätten tun können. Und die Soldaten, die uns begleitet haben ...«

»Was war mit denen?«

Eine Pause. Dann: »Die sagten, sie wollten keinen Ärger kriegen.«

Frau Knesebeck schnaubt verächtlich. Sie macht einen Schritt auf Hanna zu. »Komm herein. Du brauchst Pflege. Man schüttelt sich bei dem Gedanken, was dir inmitten dieser Wilden widerfahren sein muss.«

Hanna gibt ein Geräusch von sich, hebt in schwach protestierender Geste einen Arm, tritt dann aber vor.

»Wir haben uns um sie gekümmert«, rechtet Xareb ärgerlich.

»Ihr!?« Frau Knesebeck macht eine herablassende Handbewegung in seine Richtung. »Eine weiße Frau, eine deutsche Frau in euren Händen!« Angewidert und geschäftsmäßig nimmt sie Hanna bei der Schulter und zieht sie über die Schwelle. »Und jetzt verschwindet hier oder es gibt großen Ärger. Allesamt.«

Xareb bleibt fest. »Wir brauchen Nahrung.«

»Ihr seid eine unverschämte Drecksbande«, sagt Frau Knesebeck mit eisiger Wut.

Dann fliegt die schwere Tür zu. Der Lärm hallt durch den dunklen Bau, der sogar mitten im Sommer etwas feuchtkaltes hat. Draußen hört man ärgerlich anschwellendes Stimmengewirr und das Geschrei von Kindern. Dann Stille.

»Wir werden dich zunächst einmal baden müssen«, sagt Frau Knesebeck. »Gott weiß, mit welchem Ungeziefer sie dich verseucht haben.« Sie gibt die entsprechenden Befehle, und die Frauen laufen, um Wasser zu holen und abzukochen. Dann warten sie lange, um sicherzugehen, dass die Namas wie eine unter vielen Fata Morganas sich in der farblosen Endlosigkeit der Wüste aufgelöst haben wie eine böse Erinnerung. Dann wird Hanna wieder durch die Vordertür hinausgeführt und rund ums Haus auf die Rückseite gebracht. Man kann nicht das Risiko eingehen, dass das ganze Gebäude verseucht wird, wenn man sie nicht gründlichst abschrubbt und wäscht und säubert.

Es muss fast eine schmerzhafte Stunde gedauert haben, bis Hanna endlich von allen möglichen Ansteckungsherden befreit ist, einen Kittel bekommt, um das Schandmal ihres zerbrochenen, vernarbten Körpers zu bedecken, und hinauf in ein Zimmer geführt wird. Das muss lange zugesperrt gewesen sein, denn es stinkt überwältigend nach vertrocknetem Kot und Verwesung.

»Wir werden für deine Seele beten«, erklärt Frau Knesebeck. »Nur Gott kann dich lebendig durch das Martyrium mit diesen Horden von Wilden geführt haben.« Hanna steht wieder auf und hebt protestierend die Hand, aber gegen die kraftvolle, kleine Frau vor ihr ist kein Ankommen. »Es sei denn, es war der Teufel.« Dann schließt sie grimmig: »Wenn wir hier fertig sind mit dir, dann wirst du so sauber und rosig sein wie ein Neugeborenes. In der Zwischenzeit werden wir Verbindung zu Windhuk aufnehmen.«

Wie diese Verbindung zustande kommt, wird Hanna nie erfahren. Wahrscheinlich über einen Smous, einen Händler, der zufällig drei Tage später am Frauenstein auftaucht.

Was sie allerdings erfährt, ungefähr einen Monat später, ist, wie die Geschichte ausgeht. Ein kleiner Trupp Soldaten erreicht den Frauenstein (Hanna versteckt sich, zu Tode verängstigt, auf dem Dachboden, als sie sie näher kommen sieht) um mitzuteilen, dass er eine Strafexpedition unternommen habe, um die Übeltäter zu fassen. Mitten in der Wüste umzingelte er den Stamm, der die Frau aus dem Wagen geraubt, misshandelt und terrorisiert hatte, und tötete einen großen Teil von ihnen – Männer sowohl wie Frauen und Kinder. »Wir können nicht zulassen, dass unseren Frauen so etwas angetan wird«, erklärt der siegreiche Befehlshaber, und seine Worte gibt Frau Knesebeck treulich an Hanna weiter, deren Reaktion darin besteht, dass sie kotzen muss.

Für alle Zeit danach wird diese Nachricht den Geruch der Küche haben, in der sie sie erfährt, nachdem man sie vom Dachboden heruntergezerrt hat. Den Geruch nach Kohlsuppe. Den Geruch des Waisenhauses.

Die andere Seite der Stille

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