Читать книгу Die andere Seite der Stille - Andre Brink - Страница 6
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ОглавлениеSie hat nicht immer so ausgesehen. Es gab einmal eine Zeit, es muss einmal eine Zeit gegeben haben, da sah das Gesicht, das aus dem Spiegel zurückblickte, anders aus. Schüchternheit, das ja, immer schon. Erniedrigung, Furcht. Oft auch Schmerz. Panik womöglich. Und dennoch war es anders – und nicht nur, weil ihr Haar früher einmal lang und, wie die Leute sagten, schön gewesen war, nein, es war ein Unterschied, der tiefer ging als das Augenfällige, einer, der hinter der rissigen, fleckigen Oberfläche schwebte. Sie starrt weiter, als erwarte sie noch etwas anderes und etwas mehr. Blut müsste doch eigentlich Flecke hinterlassen? Gewiss, sie hat ihre Hände gewaschen. Ihren ganzen Körper, genauer gesagt. Gewaschen und gewaschen und so heftig geschrubbt, dass die Haut aufgeschürft war und frisches Blut floss, aber womöglich ist da noch etwas anderes, das sich auf eine Weise zeigt, die die Augen nicht sehen können. Ist Tod denn nicht sichtbar? Und Mord? Der Geist starrt zurück, noch immer undurchschaubar. Dennoch muss da einmal ein anderes Gesicht gewesen sein. Keine Frage des Alters: Schon als Kind war sie alt, hatte es immer geheißen. Aber das war in der Zeit davor gewesen und in einem andern Land. Dort war alles grün gewesen, ein Grün so intensiv, dass einem schwarz vor Augen wurde, ganz anders als das harte, flache, solide Licht in diesem Land mit seinen Hügeln und Aufschlüssen und Dünen, mit einem Himmel, aus dem jegliche Farbe herausgebleicht ist, einer Landschaft, die zu alt ist für die Erinnerung. Die Zeit davor war grün und grau und feucht und durchdrungen von Glockengeläut. Hier herrscht nur Stille, eine Stille aus Raum und Entfernungen, zu tief sogar, um sich zu grausen, zu allumfassend, und das Einzige, was sie nachts unterbricht, ist das obszöne Gelächter der Schakale oder das triste Geheul einer einzelgängerischen Hyäne. Oder in nächster Nähe das Gewimmer und das hysterische Geschimpfe der Frauen, die sich in ihre Zimmer zurückgezogen haben. Dies ist die Zeit danach. Unberührtes Territorium. Und es gibt keine Angriffsoder Verteidigungswaffe, mit der man es betreten könnte, keinen Hauch von Schutz. Nichts als jenes ungezähmte Wissen: Ich habe nicht immer so ausgesehen.
Die Kerze flackert und qualmt in einem unsichtbaren Luftzug. Nichts vermag die Nacht draußen zu halten. Dies ist eine besondere Form von Dunkelheit. So dunkel und so stofflich, dass sie das dünne Kerzenflämmchen von allen Seiten einschließt. Keinerlei Licht strahlt von ihm aus, da ist nur der Umriss der Flamme, kein heller Schein, keine Hoffnung. Als rolle die Dunkelheit umher herein, türme sich wie eine langsame Welle auf, um sich dann in die winzige dunkle Stelle im Zentrum der Flamme zu ergießen und sie anschwellen zu lassen, greift die Nacht dort draußen herein und fasst nach der Dunkelheit, die in ihr selbst liegt. (Aus jenen frühen Tagen bei den Kindern Jesu klingen die Stimmen der frommen Frauen herüber, die in der aufkommenden Nacht gleich einem Krähenchor psalmodierten: Und das Licht scheint in der Finsternis und die Finsternis hat’s nicht begriffen.) Man kann sich also keiner Sache, die man sieht, sicher sein. Die Augen werden überlistet, als ihr Gesicht sich in der Dunkelheit auflöst, einer Dunkelheit jenseits von Individualität und Identität, jenseits aller Namen.