Читать книгу Die andere Seite der Stille - Andre Brink - Страница 15
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ОглавлениеIn der Wüste, durch die sie jetzt reisen, gibt es keine Palmen. Auch keine Winde, nur eine schreckliche Februarhitze, die Tag für Tag auf der Erde lastet, die sich unter der Plane des Ochsenkarrens staut und einen ersticken und verschmachten lässt. Aber Hanna X bekommt all das kaum mit. Es interessiert sie nicht, herauszufinden, wie oder warum oder wann sie in diesem Karren gelandet ist, der sie jetzt zu einem Ort bringt, der noch nicht mehr als ein Name ist. Frauenstein. Unter ihrem schmerzenden Rücken – und es gibt kein Glied an ihrem Körper, das nicht schmerzt, vielleicht sind das ja die ewigen Schmerzen des Höllenfeuers – ähneln die Bewegungen des Karrens, sein Stampfen und Rollen und Krängen, so sehr denen während der Seereise, dass ihr dämmerndes Bewusstsein den Eindruck hat, sie befinde sich tatsächlich noch – oder wieder – auf See, während der schmerz- und endlosen Reise vom tiefsten Winter in den Hochsommer.
Die Zugreise ist vorüber. Irgendwie, dank eines perversen und unwillkommenen Wunders muss sie auch die irgendwie überstanden haben. Aber darüber will sie nicht nachdenken. Das ist ein schwarzes Loch in ihrem Bewusstsein, in das sie nicht hineinblicken will. Wenn sie sich erinnert, dann hat das nicht stattgefunden und wird auch nie stattfinden. (Selbst jetzt, vor dem alten Spiegel auf dem Treppenabsatz gegenüber ihrem Zimmer im Frauenstein, denkt sie, während sie ihr Spiegelbild studiert, nicht an diese Reise. Nicht jetzt. Bald wird dieser Erinnerung ins Gesicht geblickt werden müssen, sie wird, bevor sie vielleicht fortgeht, allem ins Gesicht blicken müssen, aber nicht jetzt, lieber Gott, bitte nicht gerade jetzt.)
Das Unglück, würde Pastor Ulrich sagen, ist eine von Gott geschickte Prüfung. Katastrophen erst recht. Worunter wohl diese Karrenreise fallen würde? Aber die Frage ist sinnlos. Ihre Wege und die Gottes haben sich schon vor langer Zeit getrennt. Wer von beiden wen verlassen hat, bleibt strittig. Aber eines ist sicher: Es kann nicht ewig so weitergehen. Alles Leiden muss irgendwann an ein Ende kommen. Momentan ist das Vorankommen alles, was geschieht, und alles, was sie ertragen kann. Sie weiß noch nicht einmal, wo man sie da hinbringt. Sie weiß auch nicht, wer »man« überhaupt ist.
Der Kutscher und seine zwei Begleiter machen keinen Versuch mit ihren Passagieren, ihrer Ladung zu sprechen. Es sind Schwarze und sie fürchtet sich vor ihnen. Sie hat davor noch nie schwarze Menschen gesehen, in Hamburg, bevor sie abreiste, erzählte man entsetzliche Geschichten über sie, sobald man hörte, wohin sie fuhr. War man Missionar, so mochte in einem solchen Unterfangen ja noch eine ausgleichende göttliche Gnade liegen, aber sich einfach so in die Wildnis zu begeben, wo gottverlassene, nackte Wilde lebten ...? Es ist eine deutsche Kolonie, antwortete sie dann. Sie brauchen dort Haushälterinnen und andere Hilfen. Und Ehefrauen, antwortete ihr Gegenüber da wissend. Das wird man dann sehen müssen, antwortete sie. Man wird es jetzt immer noch sehen müssen.
Eine Militäreskorte begleitet den Karren, vier grämliche Reiter. Anständige, normale Deutsche. Nach dem, was im Zug passiert ist, hat sie vor ihnen mehr Angst als vor den Schwarzen, aber immerhin versuchen sie genauso wenig wie der Kutscher und seine Begleiter, ein Gespräch anzuknüpfen. Ab und zu reiten zwei von ihnen davon und kehren ein paar Stunden später mit einer Antilope zurück, die über dem Sattel hängt. Ein Kudu oder eine Oryx-Antilope. Die Namen klingen fremd.
In dem Karren werden noch vier weitere Frauen transportiert, Ausschuss wie sie. Auch sie wollen nicht reden oder jedenfalls kaum. Ab und zu kommt eine von ihnen herüber zu der dünnen Matte, auf der sie liegt, und wischt ihr die Stirn ab, scheucht die Fliegen weg oder befeuchtet mit einem schmutzigen Lappen ihre Lippen (oder was davon übrig ist). Eine von ihnen, dem Aussehen nach die jüngste, versucht anfangs mit ihr zu sprechen. »Was haben sie mit dir gemacht?«, fragt sie. Hanna schüttelt den Kopf, die anderen wissen nichts von dem schmerzhaft pochenden Stummel in ihrem Mund. »Warum haben sie so was gemacht?«, fragt das Mädchen wieder. »Was um alles in der Welt hast du getan, um sie dazu zu provozieren? Warum hast du ihnen nicht einfach ihren Willen gelassen? Wir sind nicht dazu geschaffen, den Männern zu widerstehen. Sie bekommen immer, was sie wollen. Und eine Frau muss ihren Platz kennen.« Diese hier kannte ihren Platz vermutlich, bloß was hatte es ihr geholfen? Sie hockt mit ihnen im selben Karren, rollt zum selben Ziel, ihrem Bestimmungsort oder ihrer Bestimmung. Eine Weile ist das Mädchen still. Dann fängt es wieder an, diesmal in einem etwas jammernden Ton: »Natürlich weiß man‘s nie vorher. Ich hab’ mich so bemüht, es ihnen recht zu machen, aber sie wollten mich einfach nicht. Was hab’ ich denn bloß falsch gemacht, was glaubst du?« Hanna antwortet nicht. »Du verachtest mich«, sagt das Mädchen. »Ich weiß, dass du mich verachtest. Aber mit welchem Recht? Sieh dich doch an. Ich meine, welcher Mann wollte dich denn schon haben?« Hanna dreht den Kopf zur Seite. Dann wird sie wieder in Ruhe gelassen. Wenn das Schwindelgefühl oder der Schmerz es zulassen, liegt sie da und sieht die anderen an. Sie haben nicht die Art Wunden und Narben, die sie verunstalten, aber auch sie sind gezeichnet. Ihre Körper tragen genau wie der ihre die Spuren ihrer jeweiligen Geschichte. Man sieht es daran, wie sie sitzen oder stehen oder liegen: Die zwischen die Schultern gezogenen Köpfe, die an den Körper gezogenen Knie, die abgewendeten Gesichter, das leise Weinen, gegen das sie gar nicht angehen, der Rotz, den sie unter ihrer Nase trocknen lassen, der Geruch ihrer Achseln und ihrer Scham, den sie nicht mehr zu verbergen suchen. Alle sind sie Ausschuss. Aber auf diese sichtbaren Dinge kommt es nicht wirklich an, sie sind nicht mehr als Zeichen. Es gibt ganz andere Narben, unsichtbare, die ungleich schlimmer sind und die nie verheilen.
Keinen einzigen Moment lang lässt der Schmerz nach. Er ist wie eine Lösung, in der sie schwimmt. Schmerz, Gott, Schmerz. Warum ist sie nicht gestorben? So schlimm kann doch keine Sünde sein, dass man das verdient hätte. Können sie sie nicht einfach hier zurücklassen, damit sie stirbt? Das müsste ganz einfach sein. Aber bislang ist kein Tod stark genug gewesen, sie mit sich fortzunehmen. Weiter und immer weiter dauert der Schmerz. Weiter und immer weiter rollen sie voran.
Mit jedem Holpern des Wagens fühlt sie sich Stück für Stück in die Brüche gehen. Sie ist nicht mehr, die sie ist, nicht mehr die sie irgendwann einmal gewesen sein mag, nur noch das, was sie sein könnte, nichts mehr als eine Möglichkeit ihres Ichs, eingefasst von Schmerz.
Ein wenig Trost hätte ihr aus der Muschel kommen können, aber die ist irgendwo unterwegs verlorenen gegangen, womöglich während des Martyriums im Zug. So ein kleines Ding, aber es nicht mehr zu haben macht all den Unterschied zwischen Erinnerung und Leere aus, zwischen einer Möglichkeit, Hoffnung zu empfinden, und der Unausweichlichkeit der Verzweiflung.
Kaum wahrnehmbar kommt der Wagen in der immensen Landschaft unter der bösartigen Sonne voran. Ab und an erblickt man eine Schildkröte, eine blauköpfige Eidechse auf einem flachen braunen Felsen oder eine fern stehende Oryx-Antilope mit ihrem heraldischen Gehörn oder auch Vögel. Schreiende Wachteln flattern auf, wenn die Ochsen zu nahe kommen, oder kleine getupfte Rebhühner. Manchmal sieht man die Silhouetten von Geiern mit ausgebreiteten Flügeln auf unsichtbaren Luftströmen gleiten. Einmal, wundersamerweise, fliegen Störche vorbei, schwarze Flügelenden und blutrote Schnabelspitzen. Sie erkennt sie wieder. In Bremen hat sie sie immer gegen Ende des Sommers gesehen, wie sie sich auf Bäumen oder Dächern sammelten, bevor sie davonflogen. »Nach dem Süden.« So sagten die Leute. Unmöglich, es noch präziser auszudrücken. Nach dem Süden. Und da sind sie nun. Das muss hier der sommerliche Süden sein. Einen Augenblick lang ist sie von einem merkwürdigen Hochgefühl erfüllt. Auch sie ist wie ein Vogel in den Süden gezogen. Vielleicht wird sie auch noch lernen zu fliegen. Aber der Gedanke daran macht sie wieder schwindlig. Die weiße Sonne blendet sie. Vielleicht hat sie nur fantasiert. Das ist hier ein Fantasieland. Hier flimmern Trugbilder am Horizont, große Seen schimmern in der Hitze und verschwinden dann ebenso plötzlich, wie sie aufgetaucht sind. Ein Strand mit Palmen, die die Brise wiegt, auf dem Kopf. Kinder spielen im Sand, sie kann die Farbflecke ihrer Kleidung gegen den Sonnenglast sehen. Dann verliert sie wieder das Bewusstsein. Aber die Vision geht weiter. Ein kleines schwarzhaariges, blauäugiges Elfenmädchen. Plötzlich ein Esel, ein Hund, eine Katze und ein Hahn mit ungeheuren Schwanzfedern. Sie hört sie schreien und bellen und miauen und krähen. Und versinkt wieder in der Bewusstlosigkeit.
Als sie erwacht, ist die Landschaft noch immer dieselbe. Sie ist so leer wie zuvor, ja noch leerer, denn die kurz aufgetauchten Lebewesen sind wieder aus ihr verschwunden. Sie ist so leer, wie die Welt gewesen sein muss, kurz nachdem Gott sagte: Es werde Licht, und bevor noch irgendetwas anderes da war. Vielleicht ist diese Wüste ja aber auch gerade der Endpunkt der Schöpfung. Die feste Erde verflüssigt sich an den Rändern und schmilzt in den Himmel hinüber. Das Nichts ist Fülle. Es braucht keinen Zusatz, es ist, was es ist, nicht mehr und nicht weniger, dieser Himmel, diese Erde, diese grandiose Leere, die sich selbst genügt. Gott hat sich von hier zurückgezogen, bevor sein schlimmster Fehlschlag, der Mensch, hier seine Spuren hinterlassen konnte. Das einzig Überflüssige hier ist dieser Wagen mit seinem schwer arbeitenden, schwankenden Gespann, seiner menschlichen Begleitung und dem Wirrwarr an Frauen, darunter sie, Hanna X. Ohne sie alle, ohne Hanna, wäre die Landschaft perfekt.
Sie dehnt sich nach allen Seiten aus und berührt den schwelenden Abgrund des Himmels. Sie wellt sich anmutig. Wie das Meer auf Höhe des Äquators. Sie ist ebenso endlos wie das Meer. Und von neuem überlässt sich Hanna den wiegenden Bewegungen. Sie ist an Deck. Niemand sonst ist da. Und plötzlich weiß sie, was sie tun muss. Endlich wird sie Frieden haben, eine Welt ohne Ende. Ganz einfach. Warum hat sie daran nicht schon vorher gedacht? Du musst dich nur bis zur Reling bewegen, dich darüberbeugen, dich ein klein wenig hochziehen, und schon bist du auf der anderen Seite und fällst und fällst und fällst ins Nichts. Sie wird nicht einmal versuchen, zu schwimmen oder an die Oberfläche zu kommen, um Luft zu schnappen, sondern immer tiefer sinken und sinken, durch alle Schichten des Schmerzes hindurch, hinab ins tiefste Vergessen, ein Murmeln, ein Verklingen, ein Verklingen, in dem sie dann endlich stirbt.