Читать книгу Das Neubedenken allen Übels - Andres Torres Queiruga - Страница 10

2. Das Paradox der „Theodizee“

Оглавление

Es wurde bereits gesagt, dass etwas Ähnliches mit dem Wort „Theodizee“ geschieht. Doch da es sich bei ihm schon um einen Versuch einer reflektierten und systematischen Antwort handelt, liegt die Sache hier noch komplizierter. Deshalb mag es gut sein, dabei zu verweilen; denn hier kommt es zu Erscheinungen, die allein durch ihre Merkwürdigkeit schon außerordentlich bedeutsam werden.

Wie dies beim Übel bereits der Fall war, verweist auch die Theodizee in ihrem elementarsten Sinn auf etwas Deutliches und sogar Offensichtliches: Die religiöse Erfahrung hat nämlich stets irgendwie erfassen können, dass ein kräftiger empirischer Widerspruch und eine offenkundige intellektuelle Spannung zwischen dem Glauben an das Göttliche als tragende und rettende Macht des Wirklichen einerseits sowie der Evidenz des Übels in der Welt andererseits besteht. Deswegen hat es immer auch das Streben nach Verständnis und Versöhnung gegeben; stets nämlich hat irgendwie „das“ existiert, auf das jenes verweist, welches wir heute Theodizee nennen.

Um dies zu belegen, würden die unzähligen Mythen von den Anfängen hinreichen, die, wie Mircea Eliade bemerkt, fast immer auch Mythen vom hinterhältigen Ursprung des Schlechten in der Schöpfung sind. Eine Schöpfung, von der alles uns sagt, sie müsste gut und vollkommen sein, die aber zerrissen und unvollkommen erscheint. Darum sucht man nach einer „Erklärung“, mit der Annahme ihrer anfänglichen Güte und deren Zerfall infolge eines Fehlers oder einer Katastrophe; und deswegen sind derartige Mythen von jeher in allen Kulturen vorhanden16.

In noch konkreterer Form, als ausdrücklicher Daseinskonflikt, tritt das Problem in den großen Religionen zutage, etwa in der babylonischen Dichtung vom leidenden Gerechten oder selbst in dem schrecklich pessimistischen Gespräch eines Mannes mit seiner Seele, in Ägypten17. Es erscheint ebenso als ein Kernanliegen des Zarathustra im alten Iran; sowie, wenn auch mit anderem Schwerpunkt, bei Buddha im alten Indien. In den jüngeren Wurzeln unserer westlichen Kultur konnte es sich mit unvergleichbarer Kraft zeigen sowohl in den Dichtungen vom leidenden Knecht und im Buch Hiob, im alten Israel, als auch in den schrecklichen Episoden der griechischen Tragödie…18. Alles dies sind ebenso bekannte wie schmerzhaft beredsame Beispiele. Und wir brauchen nicht erst zu wiederholen, dass die biblische Religion mit ihrem Monotheismus des rettenden Schöpfergottes, der Quelle der gesamten Wirklichkeit, die Frage nicht neu erfand; denn was sie getan hat, war, diese bis zum Äußersten zu verschärfen.

Auch die Philosophie nahm sich, wie zu erwarten, des Problems an19 und unternahm dabei Versuche einer Antwort in einer langen Abfolge, die bis zum heutigen Tag fortdauert und bereits im 4./3. Jahrhundert vor Christus mit Epikurs berühmtem Dilemma eine nur schwerlich zu übertreffende Schärfe erreichte:

„Entweder will Gott das Übel aus der Welt entfernen, kann es aber nicht; oder er kann es, will es aber nicht entfernen; oder er kann es nicht und will es auch nicht; oder er kann und will es. Wenn er es will und nicht kann, so ist er ohnmächtig; wenn er es kann und nicht will, dann liebt er uns nicht; wenn er es nicht will und nicht kann, so ist er nicht der gute Gott und außerdem ohnmächtig; wenn er aber kann und will – und dies ist das sicherste –, woher stammt dann das wirkliche Übel und warum entfernt er es nicht?“20

Das Erstaunliche ist nun, dass dann die Probleme beginnen, wenn es heute darum geht, genau zu sagen, worin die Theodizee im strengen Sinne besteht. Und sie beginnen derart merkwürdig, dass sie zu einem paradoxen Symptom werden, welches dazu zwingt, die Frage mit höchster Vorsicht zu stellen.

Zunächst und nach allem bisher Gesagten ist es z.B. sehr selten der Fall, dass man sagen kann, wie dies neben vielen anderen selbst Paul Ricœur tat21, die Theodizee setze mit Leibniz ein. Es stimmt zwar, dass mit ihm das Wort „Theodizee“ aufkommt, und ich möchte auch noch zu beweisen versuchen, dass diese Feststellung einen tieferen Sinn haben kann. Das jedoch allein, wenn man „Theodizee“ in ihrem ganz modernen Sinn auffasst; denn sonst würde man letztlich eine Tautologie aussprechen, zumal dies gleichbedeutend wäre mit dem Satz: Die Theodizee leibnizscher Prägung beginnt mit Leibniz…22 Doch liegt in dieser Zweideutigkeit gerade das Symptomatische, weil die Veränderung in der Bedeutung deutlich auf einen grundlegenden Wandel in der Sicht des Problems hinweist.

Genau dies bestätigt sich umso nachhaltiger, wenn man auf ein noch merkwürdigeres Phänomen achtet: die Tatsache nämlich, dass in der Ablehnung von Berechtigung und Geltung der „Theodizee“ Autoren, die alles Übel als Grund für die Leugnung des religiösen Glaubens verwenden, mit solchen Autoren übereinstimmen, die trotz allen Übels an diesem Glauben festhalten.

Wenn der Atheist Georg Büchner in einem Drama, das einen harten Vorstoß gegen den Gottesglauben darstellt, schreiben kann, das Schlechte sei „der Fels des Atheismus“23, so sagt ein christlicher Dramaturg, der Philosoph Gabriel Marcel, parallel dazu: „die Theodizee ist der Atheismus“24. Wie viele Ungläubige die große Anklage gegen den Glauben an Gott im Übel sehen, haben ganz allgemein aufseiten nicht weniger Glaubender die herabsetzenden Urteile über die Theo-dizee mit seltsamer Begeisterung zugenommen. Denn ihnen gilt die Theodizee außer als „atheistisch“ auch als „ketzerisch“25 bzw. jedenfalls „überflüssig“26, als „eine Hilfe für den Teufel“27, als wahrhafte Quelle von Übeln,28 als Ungereimtheit“29 und, ganz logisch, „unmögliche“ Aufgabe30. Danach begreift man, wie es sogar eine „theistische Anti-Theodizee“ geben mag, die zwar an Gott glaubt, aber im Namen der Opfer gegen ihn protestiert31.

Es versteht sich, dass ein Mindestmaß an Gerechtigkeit dazu veranlassen müsste, auch die von den einzelnen Autoren eingeführten Nuancen zu nennen. Doch wollen diese Bemerkungen keine genaue Beschreibung sein, sondern nur den Spannungsgrad einer Atmosphäre aufzeigen und auf deren eindeutigen Wert als Symptom für einen Zustand verweisen, der nach Klärung verlangt. Und in dem Sinne auf der Notwendigkeit bestehen, die neue Lage der Theodizee ernst zu nehmen, die sie zu einem echten Symptom und gewissermaßen einem Bannerträger religiöser Modernität gewandelt hat. Odo Marquard gelang dazu die glänzende Formulierung: „Wo es Theodizee gibt, ist auch Modernität“; [sowie umgekehrt] „wo es Modernität gibt, ist auch Theodizee“32.

Das Neubedenken allen Übels

Подняться наверх