Читать книгу Das Neubedenken allen Übels - Andres Torres Queiruga - Страница 23
3.4 Über Leibniz hinaus
ОглавлениеDiese letztere Aussage lässt die Neuartigkeit des Ansatzes ganz eindeutig erkennen. Die traditionelle Voraussetzung, die noch Bayle so sehr umtrieb, hat hier keinen Platz mehr, da sie sinnlos wird. Denn Gott konnte keine Welt ohne Übel erschaffen, einfach weil diese Formulierung absurd ist. Sie scheint zwar korrekt, entspricht aber einer echten „Krankheit der Sprache“45; denn wenn das Konzept „Welt-ohne-Übel“ schon unmöglich ist, dann hat es auch keinen Sinn zu fragen, warum Gott sie nicht so hat erschaffen wollen. Er hätte ja auch nichts erschaffen können; doch wenn er etwas erschafft, dann ist das Ergebnis eine endliche Welt; und das Übel lässt sich dabei nicht vermeiden. In Leibniz’ essentialistischer Sprache gesagt, lautet dies so: „Gott hat die Materie, einen Menschen, einen Kreis erschaffen können, oder er hätte sie auch nicht aus dem Nichts holen können; aber er hat sie nicht hervorbringen können, ohne ihnen ihre wesentlichen Eigenschaften zu verleihen“ (§ 183; Hervorhebung von uns).
Jedenfalls scheint begreiflich, dass Leibniz zugleich noch zu keinem vollgültig und bewusst säkularen Ansatz fähig ist. Denn zahlreich sind die Textstellen, an denen sich die Übermacht des traditionellen Musters hat durchsetzen können. Und dieser Zwiespalt bildet gerade den Raum, in den sich die gegenwärtige Reflexion einfügen muss; denn sie hat nun keinen Vorwand mehr, um sich nicht der Implikationen des neuen Prinzips voll bewusst zu sein, sowie der Notwendigkeit, angesichts der Herausforderung alle Konsequenzen daraus zu ziehen und den Anforderungen des „Zeitalters der Kritik“ zu entsprechen.
Weil nun ein Versuch dazu den Hauptgegenstand dieses Buches bilden soll, um diese Forderung einsehbar zu machen, werden wir uns hier auf drei Hauptpunkte ausrichten, welche sowohl die Neuartigkeit der leibnizschen Intuition wie auch das Ungenügen ihrer konkreten Ausführung sichtbar werden lassen46.
Der erste Punkt besteht in der merkwürdigen Tatsache, dass Leibniz die Möglichkeit einer Welt ohne Übel und Sünde nicht einmal entschieden leugnet47. Im gleichen Sinne erscheint wohl noch symptomatischer, dass er in der Theodizee das Dilemma des Epikur nicht unmittelbar aufgreift. Dies tut er nur mittelbar in seiner Rezension zu William Kings Essay; und dort zeigt er sich auch weniger streng und überzeugend als der Erzbischof:
„Der Autor antwortet (dem Epikur), daß Gott alles Übel weder aufheben kann noch will48, und daß er deshalb wohl weder schlecht noch schwach ist. Ich möchte lieber sagen, daß er es schon aufheben kann, aber es nicht absolut will, und dies nicht ohne Grund; denn er würde zugleich auch alles Gute aufheben, und zwar mehr Gutes als Schlechtes“ (§ 435; Hervorhebung von uns).
Wenn man diese Textstelle aufmerksam liest und dabei die tiefere Dynamik seiner Gedanken beachtet, dann wird bestimmt immer deutlich, dass er nicht nur dazu neigt, es beiläufig zu tun und mit feinen Abmilderungen, sondern dass die Zulassung dessen selbst schon durch die Kraft des Prinzips untergraben wird. Deutlich ergibt sich aus diesem Textauszug also: Im Kontext des leibnizschen Denkens allgemein gelesen weisen die von uns eingeführten Hervorhebungen nicht allein auf einen Vorbehalt, sondern zeigen eine wirkliche Unmöglichkeit an. Und dies wird noch deutlicher in folgendem Auszug:
„Gewiß kann man sich mögliche Welten vorstellen, ohne Sünde und ohne Unglück; und man könnte es machen wie Romane, Utopien und die Sevarambes49; jedoch wären eben diese Welten der unseren wieder im Guten unterlegen“ (§ 10).
Er bestreitet zwar die Vermutung des Gegners nicht ausdrücklich, doch versäumt er es auch nicht, sie behutsam zu benennen: „kann man sich vorstellen“. Und vor allem die Behauptung, nach welcher solche Welten notwendig unterlegen wären, impliziert, dass sie auch Schlechtes enthielten bzw., was in schlüssiger Logik auf das Gleiche hinausläuft: dass nämlich eine Welt ohne Übel unmöglich ist50.
Der zweite Punkt betrifft das Beharren auf „der besten aller möglichen Welten“. Es lässt sich wohl nicht leugnen, dass Leibniz der Hauptverantwortliche für die Auslegung in malam partem dieser zu seiner Zeit im Übrigen recht gängigen Ansicht ist. Sein ständiger Verweis auf den einen Teil der Behauptung („die beste aller Welten“) bringt ihn sogar dazu, von „unserem Gesetz des Besten“ („nostre loy du meilleur“, § 209) zu sprechen, ja es sogar fast immer in ein Leitmotiv seiner wirklichen Gedanken umzuformen51. Auf diese Weise jedoch hat er das entscheidende Gewicht des anderen Teils verdeckt: „… der möglichen Welten“.
Hier liegt nun der Schwachpunkt. Denn einerseits rückt er mit dieser einseitigen Betonung die theologische Beeinflussung seines Diskurses in den Vordergrund, weil er ihn „von oben her“ anlegt, von Gott her denkt und behauptet, der wolle das Beste. Auf einer ersten Ebene stimmt das auch, genau wie in der Aussage: „Alle Eltern wollen das Beste für ihre Kinder“52. Andererseits aber gibt er mit dieser Verfahrensweise die bewusste, kritische und philosophische Kontrolle „von unten“ auf, wenn er die kritische Frage danach, was denn das Beste als ein aus der inneren Verfassung der Welt heraus Mögliches sei, im Hintergrund lässt.
Doch bei alledem ist offensichtlich, dass auch hier die reinste Dynamik seines Denkens, dessen wirklich moderner Zug, darin besteht, dass trotz allem die Erwägung des Möglichen das Ergebnis seiner Überlegungen bestimmt. Denn diese Welt, die im religiösen Sprachspiel (soweit es allein die göttliche Absicht berücksichtigt) „die beste“ ist, gerät in der Strenge des Begriffs und in der Beschränktheit des Wirklichen lediglich zur besten „der möglichen“ Welten. Mit anderen Worten ist sie notwendig eine begrenzte Welt und vom Übel geplagt, weil es keine andere Möglichkeit gibt. Ortega sagt es noch deutlicher:
„Und genau hier ergibt sich, wie er mit der Behauptung, unsere Welt sei die bestmögliche, streng genommen nur anerkennt, dass sie die beste aller nicht guten ist, mithin der schlechten. Dies aber lässt uns auf etwas schließen, das wir am wenigsten vermuten durften, nämlich dass die Welt nicht nur nicht gut ist, sondern dass eine simpliciter gute Welt, d.h. ohne Schlechtes, unmöglich ist“.53
Der dritte Punkt bezieht sich auf das, was ich „theologische Beeinflussung“ des Frageansatzes nennen möchte. Bis zum Überdruss habe ich bereits darauf verwiesen, dass Leibniz, wenn er seine Antwort auf die konstitutive Begrenztheit der Geschöpfe ausrichtet, das Problem in den neuen Bereich verlegt, der sich mit dem beginnenden Säkularismus eröffnet. Denn dieser Leibniz ist „moderner“ als seine Zeitgenossen (Jossua). Doch der „scholastischere“ Leibniz kann nicht immer die Verwischung der Grenzen zwischen Religiösem und Säkularem überwinden. Sein berechtigtes religiöses Interesse durchdringt den gesamten Traktat, und die theologischen Belange vermengen sich bisweilen mit dem philosophischen Gedankengang, ohne dass die einzelnen Ebenen bewusst und deutlich unterschieden würden.
Danach ist sein Diskurs, sobald er sich auf den Glauben und das Vertrauen stützt, das jedes göttliche Wirken verdient, dazu geneigt, positiv zu sprechen, und schließt damit, dass das Übel seine Rechtfertigung besitze. Dabei ist das allgemeine Schema ganz klar: „Er [Gott] hat es getan, also hat er es wohlgetan“; und der Grund dafür ist gleichfalls klar: „denn nichts kann von Gott kommen, was nicht der Güte, der Gerechtigkeit und der Heiligkeit vollkommen gemäß wäre“ (§ 35). Er geht sogar noch einen Schritt weiter, als er, von der Gottesidee herkommend, behauptet, dass wir von vornherein als gut annehmen können, was unbegreiflich scheint:
„Mit Paulus zu sagen: O Altitudo Divitiarum et Sapientiae, heißt nicht auf die Vernunft zu verzichten, sondern vielmehr, die uns bekannten Vernunftgründe einzusetzen, damit uns diese die ganze Unermeßlichkeit Gottes lehren; es heißt zu erkennen, bevor man es sieht, daß Gott alles in der bestmöglichen Weise tut und dabei die unendliche Weisheit befolgt, die seine Handlungen lenkt“ (§ 134).
Man beachte, wie dies – auf der ihm zukommenden Ebene angesiedelt, welche ich als „kurzen Weg“ der Theodizee untersuchen möchte – eine tiefe Wahrheit in sich birgt. Hier will ich nur darauf hinweisen, dass es auf jeden Fall naiv wäre, wollte man gleich behaupten, dass diese Beeinflussung vonseiten der Religion den Wert des philosophischen Gedankengangs völlig aufhebt. Ebenso naiv wie die Annahme, seine Erfindung der Infinitesimalrechnung würde dadurch entwertet, dass Leibniz uns versichert, „er habe die Mathematik nicht um ihrer selbst willen studiert, sondern mit der Absicht, sie zu nutzen, um in der Frömmigkeit voranzukommen“54. Auch hier kann eine aufmerksame Lektüre ständige Nuancierungen und wiederholte Verweise auf die Untersuchung der wirklichen Sachverhalte entdecken: „So können wir erst nach dem Ereignis (bzw. a posteriori) zu dem Urteil gelangen, daß diese Erlaubnis unerläßlich war, auch wenn es uns nicht möglich ist, dies mit der Besonderheit der Gründe (a priori) zu beweisen, die Gott dafür gehabt haben mag“, sagt er zum ersten Zitat. Ebenso zum zweiten zitierten Text: „Gewiß haben wir auch schon Beweise und Proben davon vor Augen …“.