Читать книгу Das Neubedenken allen Übels - Andres Torres Queiruga - Страница 31
2.2.2 Der Realismus der Vernunft
ОглавлениеWir möchten darauf bestehen, dass die Fragestellung stets gewissenhaft die methodische Strenge und auch die Betrachtung „von unten“ einhält, ohne die Grenzen des konkreten Stadiums zu überschreiten, in dem sich der Diskurs gerade befindet. Denn es geht darum, die Wurzel des Übels in der Welt zu untersuchen, sich dazu auf die Analyse ihrer innersten Konstitution zu stützen und jede ungeprüfte Hypothese zu vermeiden. Wenn man nun derart verfährt, dann scheint der Nachweis gut möglich, dass es – in Anbetracht von Seinsweise und Funktionieren der Welt, sowohl in ihrer kosmischen Bewegung als auch in Geschichte und Leben der Menschen – unmöglich wird, dass darin nicht auch Zusammenstöße, Verwerfungen, Fehlleistungen, Risse und Konflikte vorkommen.
Zur intuitiven Verdeutlichung sei mir gestattet, mit einem persönlichen Erlebnis anzufangen. Das erste Mal, wo mir eine „Ahnung“ von dieser Unmöglichkeit kam, ergab sich in den nun schon fernen Jahren meines Philosophiestudiums. Die Universität von Comillas steckte damals in ständigen Gebäudeumbauten; und als ich eines Tages zwischen dem Bauschutt umherging, kam mir ganz unwillkürlich der Gedanke: Wenn ich einen „Behälter“ mit Steinchen füllen wollte, so könnte ich sie nie vollkommen anpassen; denn die Eigenart ihrer Formen lässt das grundsätzlich nicht zu; man könnte sie wohl bearbeiten, um sie an die zylindrische Form des Behälters anzupassen, doch dann würde die Anpassung an einen anderen mit kubischer Form unmöglich werden…
Beispiele, so weiß man schon, sind an sich noch kein Beweis. Mir jedoch konnte es dazu dienen, um zu verstehen, dass sogar die einfachste Erfahrung uns eine Vorstellung davon verschafft, wie Unterschied, Begrenzung und Vielschichtigkeit ihrer einzelnen Teile, und auch der Zusammenprall ihrer jeweiligen, entgegengesetzten Bewegungsrichtung, sowohl die allseitige Verwirklichung jedes Dinges nach seinen eigenen Möglichkeiten als auch die Gesamtverträglichkeit mit den Wirkungen aller übrigen Dinge unmöglich machen. Gutes Wetter für den Badenden ist schlechtes für den Landmann. Die Hufe des Pferdes eignen sich vorzüglich zum Rennen, doch gerade darum taugen sie nicht zum Greifen, wie die Füße des Affen; oder zum Zerreißen, wie die der Großkatzen. Kiemen erlauben dem Fisch ein Leben unter Wasser, aber sie bedeuten auf dem Land seinen Tod; und die Flügel ermöglichen dem Vogel das Wunder des Fluges, sind jedoch zum Laufen ungeeignet. Jemand, der seine Intelligenz gründlich entwickelt hat, ragt in der Handarbeit gewöhnlich nicht besonders hervor, und die sehr empfindsame Person fällt bei verändernden Handlungen nicht weiter auf. Eine Stelle zu besetzen, heißt auch, den Nachbarn zu verdrängen, und Nahrung für die einen kann Tod für andere bedeuten…
Eigentlich wurde dies stets so wahrgenommen. Das findet seinen Ausdruck auch in den volkstümlichen Spruchweisheiten, etwa: „Wo gehobelt wird, fallen Späne“, oder: „Es regnet nie zu aller Menschen Freude“. Und es erscheint mit aller Tiefe bereits in den frühesten Einsichten der vorsokratischen Philosophie, wie sich in einem Ausspruch des Anaximander gewissermaßen schon andeutet: „Die Dinge müssen, je nach Notwendigkeit, einander Strafe und Entlohnung wegen ihrer Ungerechtigkeit zahlen, gemäß der Anordnung in der Zeit“9; noch deutlicher und nachdrücklicher sagt dies Heraklit, wenn er den Krieg als „Vater aller Dinge“ bezeichnet10. Letztlich verweist dies auf den dialektischen und konfliktträchtigen Charakter alles Wirklichen. Nicht umsonst sah sich Hegel als Heraklits Erbe an und verwandelte die Negation zu einem Motor aller Verwirklichung (Negation einer Grenze, die sich ihrerseits zur Grenze wandelte, welche wiederum negiert werden musste…).
Was die Wissenschaft anbelangt, so haben die Erkenntnisse über die komplexen und verwickelten Vorgänge in der Evolution des Universums, mit ihrer weiten Entfernung von jeglicher sanften „Sphärenharmonie“, jene Evidenz nun unumkehrbar bestärkt. Die Kosmogenese wird ohne riesige Katastrophen unvorstellbar, und die Biogenese erscheint als ein langer, harter und bisweilen erbarmungsloser Kampf ums Überleben: als struggle for life, mit dem Charles Darwin das moderne Bewusstsein erschüttert hat11. Selbst die Geschichte der Menschheit, einmal abgesehen davon, dass sie diesen Kampf fortsetzt und noch verstärkt, wird unbegreiflich ohne furchtbare Kosten im – manchmal gewollt verdrehten und andere Male, sogar ungewollt, so grausam konfliktgeladenen – Gebrauch der Freiheit; eine von einem Narren erzählte absurde Geschichte (Shakespeare) oder ein Altar, auf dem das Glück der Völker geopfert wird (Hegel): Sie stellen schreckliche Sätze dar, die schon klassisch geworden sind, weil sie, selbst in ihrer Übertreibung noch, das Schreckliche und Unbestreitbare einer gemeinsamen Erfahrung wiedergeben.
In der üblichen Praxis des Denkens, d.h. sobald das Thema außerhalb dieses Kontextes angesprochen wird, also frei von religiösen Bedenken – seien sie nun kritisch oder apologetisch – bei der Thematik des Übels, darf man behaupten, dass jene Überzeugung eine einhellige kulturelle Errungenschaft ohne mögliche Kehrtwendung darstellt. Und sogar innerhalb der Problematik des Übels genügt schon ein kurzer Blick auf die Bibliographie, um zu erkennen, dass die Antwort auf diese konkrete Frage auch praktisch allgemein so ausfällt: In der Welt, zumindest so wie diese sich uns darbietet und wie wir sie kennen, ergibt sich das Übel ganz unvermeidlich.
Tatsächlich erscheint dies in zwei ihrer Neuigkeit und ihrem Tiefgang nach recht bedeutsamen Phänomenen. Das erste davon ist, dass es heute Menschen gibt, die nicht mehr in der Lage sind, das als „Übel“ zu thematisieren, was man bislang „physisches Übel“ nennt, einschließlich Schmerz, Krankheit und selbst Tod12. Hier wirken sicherlich zwei Motive: (1.) die Auffassung, nach der, wenn es anders „nicht sein kann“, auch der Unterschied für die besondere Qualifizierung als Übel entfällt; und (2.) die religiös-moralisierende Last, mit der die polemische Einstimmung das Problem verdunkelt hat; denn von Schlechtem zu sprechen, das erinnert viele nur an Schuld oder Sünde, und danach ist ein Krebs gewiss nicht insofern „schlecht“, als er einer natürlichen Entwicklung folgt. Doch im Grunde meine ich, dass eine solche Auffassung nur möglich wird, weil sie sich auf die kulturelle Motivation stützt, die wir hier untersuchen. Denn diese Dinge gelten, so schrecklich sie auch sein mögen, als etwas so Faktisches, im Funktionieren der Welt so Unausweichliches, dass sie nicht mehr als „schlecht“ bezeichnet werden (es sei denn, manchmal doch, um damit den Glauben an Gott anzugreifen, der, falls er existierte, sie eigentlich vermeiden „müsste“).
Das zweite Phänomen, das schon seit einiger Zeit zutreffend beschrieben wird, ist mit dem ersten eng verbunden. Es besteht darin, dass ein Großteil des modernen Denkens seine Beschäftigung mit dem Übel auf die Erforschung von dessen empirischen Ursachen und die Ansätze zu dessen Überwindung eingeschränkt hat, wobei jegliche tiefere Fragestellung in einem wahren „Rückzug der Philosophie“ beiseite bleibt13. Odo Marquard geht insbesondere auf diesen Punkt ein und spricht dabei von einer Verabsolutierung des Jenseitigen, welche das Übel zu einem innerweltlichen Problem wandelt und zu dessen „Positivierung“ in den konkreten Erscheinungen des Übels führt. Das hat verschiedene Folgen, die von der Aufhebung der Tabus und der Verschleierung von Krankheit und Tod bis zur (physischen) „Entübelung des Übels“ bzw. (moralischen) „Entbösung des Bösen“ oder sogar zur „Verbösung des Guten“ reichen14. So kann es bis zu der Behauptung kommen, dass hinter dem ganzen Bemühen des Idealismus der Versuch steht, Gott zu „verteidigen“, indem er das Übel völlig immanentisiert und dadurch den Menschen zum einzig Verantwortlichen macht: Das wäre eigentlich „ein methodischer Atheismus ad maiorem gloriam Dei“15.
Eine zweifellos anziehende These, obgleich wohl eher brillant als genau; jedenfalls aber belegt sie eine stets gegenwärtige Tendenz. Auf der mehr spekulativen Ebene wird sie spürbar in der wachsenden Neigung zu einer Erörterung des Übels als Kosmodizee bzw. Anthropodizee16, d.h. indem man die Betrachtung einzig auf die kosmische und/oder menschliche Kausalität ausrichtet.
Allerdings müssen wir hier anmerken, dass diese Neigungen eigentlich schon Antworten bzw. Stellungnahmen voraussetzen, und deshalb überschreiten sie auch das Stadium, in dem sich unser Gedankengang befindet; und sie hier zu behandeln, würde einen methodischen Bruch bedeuten. Dass wir sie schon erwähnen, hat einzig den Zweck, zu zeigen, wie sehr das Bewusstsein einer Immanentisierung der Kausalität in der gegenwärtigen Kultur vorherrscht.