Читать книгу Das Neubedenken allen Übels - Andres Torres Queiruga - Страница 28
2.1 Die moderne „Immanentisierung“ der Welt
ОглавлениеWenn nun das gesamte vorausgehende Bemühen zu etwas nützlich gewesen ist, dann dazu, die Notwendigkeit zu verdeutlichen, als Ausgangspunkt die Untersuchung der Weltwirklichkeit zu nehmen und die Gesetze ihres autonomen Funktionierens zu studieren, um darin die Ursachen für alle die Tatbestände, Erfahrungen oder Ereignisse zu entdecken, die wir als Übel erleben. Und es sollte noch einmal an das im ersten Kapitel Gesagte gedacht werden. Denn trotz der enormen und bunten Vielfalt des „Schlechten“, sowie der kulturellen Bedingtheiten bzw. der theoretischen Unterscheidungen, die bei den vielschichtigen konkreten Fällen vorgenommen werden können und bisweilen müssen, reicht für diese erste Betrachtung schon die Gewissheit des Umstands, dass es das gibt. Streiten lässt sich über dessen Definitionen, nicht über sein Vorkommen; über dessen „Wesen“ (das Was), nicht aber seine „Existenz“ (das Dass). Leiden, Katastrophen, Schuld, Hunger, Krankheit, Tod, Verbrechen, Genozid, getanes oder erlittenes Unrecht… bilden alle eine Herausforderung, die einmal eher diesseits oder einmal eher jenseits jeder theoretischen Leugnung bzw. auch jeden spekulativen Vorgangs steht.
Indem wir so verfahren, wenn wir uns dem Tatbestand des Übels zuwenden, finden wir uns dabei wieder, dass die erste Antwort auf die Frage nach seinem Ursprung mit spontaner Eindeutigkeit auf dessen unmittelbare Ursachen im Funktionieren der Welt verweist: Wenn Schmerz entsteht, dann weil eine Wunde, eine Fehlfunktion oder ein Trauma vorhanden ist; wenn jemand umgebracht wurde, dann weil es einen Übeltäter gibt; wenn Hunger herrscht, dann weil es an Lebensmitteln mangelt; wenn ein Krieg ausbricht, dann weil jemand ihn erklärt hat und Armeen da sind, die ihn führen … So offenkundig und eindeutig scheint dies, dass man es von Urzeiten bis in unsere Tage stets so verstanden hat. Zumindest auch so.
Dieses „auch“ steht hier mit voller Absicht, da es etwas sehr Wichtiges andeuten soll. Denn unter dieser scheinbar gleichförmigen Oberfläche der unvermittelten Erfahrung müsste noch das Vorhandensein des von der Moderne eingeleiteten radikalen Wandels verdeutlicht werden. Eigentlich handelt es sich dabei um eine der tiefsten Wandlungen in der Kulturgeschichte der Menschheit, d.h. um die grundlegende Immanentisierung der Kausalität.
Die Menschheit der Vormoderne wusste zwar schon um die Kausalität der Welt, doch sah sie diese als stetig von außerweltlichen Wirkmächten magischer, mythischer oder religiöser Art durchzogen: Gott und Teufel, Engel und Geister, Fluch und böser Blick, schwarze und weiße Magie… Sie alle griffen beständig ein, um Krankheiten auszulösen oder sie zu heilen, Wunder zu bewirken oder Katastrophen zu verursachen, zum Bösen zu verführen oder zum Guten anzuleiten. Pánta plére theôn „Alles ist voller Götter“, sagte Thales von Milet4 und gab damit eine allgemeine Überzeugung des griechischen wie des antiken Geistes insgesamt wieder. Die biblische Idee der Schöpfung mit ihrer radikalen Entgötterung der Welt war wohl eine kraftvolle Saat, welche diese Auffassung dann ganz allmählich und nachhaltig zu verdrängen begann. Doch genügt es, die Schriften der Kirchenväter sowie des Mittelalters zum Thema des Schlechten zu lesen, um zu erkennen, wie weit jene ältere Sicht alle ihre Erörterungen noch entscheidend beeinflusst hat.
Ganz grundlegend gewandelt hat sich dies mit dem Vorgang einer beschleunigten „Entzauberung“ der Welt (Max Weber), den erst die Neuzeit auslöste. Für die neuzeitliche Kultur nämlich – und zwar nicht bloß wegen der einfachen Tatsache, dass sie neu oder „modern“ ist, sondern weil sie genau an dem Punkt eine unumkehrbare Entdeckung machen konnte, von der wir alle leben – verweisen die Ereignisse der Welt auf die Welt, auf andere Realitäten innerhalb der Welt, durch streng innerweltliche Verbindungen. Selbst bei den Phänomenen, die seltsam anmuten und unerklärlich scheinen, ergibt sich als übliche Reaktion, dass man hier eine natürliche Ursache voraussetzt, auch dann, wenn diese (noch) nicht bekannt wäre.
Ganz sicher erhalten sich Reste des früheren Denkens: Im Christentum hat Rudolf Bultmann darauf hingewiesen, als er auf der Notwendigkeit einer „Entmythologisierung“ beharrte; und ganz allgemein lassen sich diese Reste noch täglich in den zahllosen Neubelebungen magischer Riten bzw. in den esoterischen Glaubensformen beobachten. Aber sie sind eben nur dies: „Reste“, durch welche die Hauptlinie der Kultur nicht hindurchgeht. Denn diese berührt nicht mehr nur die wissenschaftlich gebildeten oder „aufgeklärten“ Menschen, sondern zunehmend, immer rascher und unumkehrbar erreicht sie uns alle oder kann schließlich alle erfassen. In den entwickelten Gesellschaften ist diese neue Denkweise durch das Schulwesen bereits allgemein geworden, und sogar dort, wo sie noch nicht vorkommt, kann sie sich mit dem wachsenden Einfluss der Massenmedien ungehindert ausbreiten. In der heutigen Kultur wird man daher bei jeglicher merkwürdigen Erscheinung, falls man mit einem Mindestmaß an Genauigkeit vorgeht, deren Erklärung im weltlichen Bereich suchen, also entweder in noch unerforschten Kräften von Erde und Kosmos, oder in gesellschaftlichen Interessen und Bewegungen, oder in geschichtlichen und kulturellen Erblasten bzw. Bedingtheiten oder schließlich in Regungen oder Einfluss des Unbewussten5.
In der Tat darf man die Aussage zum axiomatischen Prinzip erheben, der zufolge alles auf der empirischen Ebene in der Welt Geschehende auch eine Ursache in der Welt hat. Keinem vernünftigen Menschen, um nicht zu sagen: Wissenschaftler, würde es noch einfallen, dem Teufel – oder etwa Gott – einen Tsunami, eine Epidemie oder ein Erdbeben anzulasten. Und obgleich einige bedeutende Theologen nach dem Zweiten Weltkrieg – wohl allzu sehr – vom „Dämonischen“ geredet haben, fiele es doch keinem ernsthaften Historiker ein, bei Adolf Hitler, Josef Stalin oder Pol Pot einen Einfluss des Teufels anzunehmen, um damit Entstehung und Greueltaten des NS-Regimes, des Gulag oder der killing fields zu erklären.
Mit anderen Worten verweist, gemäß strenger kultureller Legitimität und auf dieser Ebene, die Frage nach dem Ursprung des Übels heute ganz eindeutig auf die Welt selbst: auf die Seinsweise ihrer Elemente sowie die Reibungen und Konflikte zwischen ihnen. Demnach wird es heutzutage notwendig sein, hier und nur hier anzusetzen, um das Problem eingehend zu behandeln.