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4.3 Die Unmöglichkeit einer unfehlbaren endlichen Freiheit

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Wenn der erste Einwand die Begründung mit der Endlichkeit als überzogen bezeichnet hat, weil dies zur Ausgrenzung des moralisch Bösen führen würde, so bezichtigt sie der zweite Einwand der Verfehlung, indem er ihr unterstellt, sie würde etwas als nicht möglich ausgeben, das dies sehr wohl sei: eine unfehlbare endliche Freiheit, die stets das Gute bewirken würde.

Ein rascher Blick auf die Diskussionen zeigt, wie komplex diese Frage inzwischen geworden ist. Doch kann wiederum eine wache Aufmerksamkeit für die methodische Unterscheidung von Ebenen der Diskussion auch zeigen, wie konfus hier alles wirkt. Denn bei diesem Einwand vermischen sich zwei logische Überschreitungen zu einer wahrhaft explosiven Verbindung, welche die Möglichkeit einer wirklich kritischen Kontrolle in die Luft gehen lassen: (1.) eine im Übermaß abstrakte und logizistische Betrachtung der Verträglichkeit bzw. Unverträglichkeit für sich genommener Begriffe bzw. Charaktere; eine Betrachtung, die eine Gefahr für die angelsächsische Diskussion darstellt, die ja überwiegend von der Analytischen Philosophie beherrscht wird und in ihrem Scharfsinn oft ebenso bewundernswert wie unüberprüfbar in ihren Folgerungen ist; und (2.) die verfrühte und massive Einführung theologischer Argumente, die – zu Verteidigung oder Angriff – bei ihrem Gebrauch voraussetzen, dass man schon weiß, was Gott tun „könnte“ oder „sollte“.

Die Beachtung der Grenzen der ponerologischen Ebene, auf welcher sich diese Frage noch bewegt, kann ein bedeutsames Datum entdecken helfen. Ich meine die Tatsache, dass die Interferenz der religiösen Ebene es gestattet, als in der Diskussion um die Theodizee – und nur da – möglich zu sehen, was praktisch niemand im üblichen Diskurs zulässt. Eigentlich aber sollte das Ergebnis der vorigen Absätze hinreichen, um zu erkennen, dass unser Problem gerade in dieser Phase des Diskurses vielleicht gar nicht gestellt werden dürfte: Denn der endliche Wille impliziert, weil er endlich ist, auch Fehlbarkeit.

Merkwürdig aber mutet die Beobachtung an, wie dies, noch bevor der polemische Druck durch die moderne Diskussion entstand, sogar im Bereich religiösen Denkens anerkannt war. Mit den Worten eines guten Kenners, Henri de Lubac, gesagt, verneinte immerhin „die große Tradition, vom Beginn der Patristik bis Thomas und noch weit über ihn hinaus“ die Möglichkeit, dass Gott eine endliche und bereits vollkommene Freiheit erschaffen könne84. Demzufolge verweist Hans Urs von Balthasar darauf, wie schon Origenes „bis in ein Extrem“ gelangt, „das ihn formal modernen Standpunkten wie dem Secrétans oder Sartres annähert: das Geschöpf ist identisch mit (endlicher, also Wahl-) Freiheit“85.

Auf dieser gleichen Traditionslinie, mit der er ihre Reifung im Thomismus übernimmt, kann Charles Journet von der ersten Seite seines umfänglichen Traktats zum Bösen an darauf verweisen, dass „jedes freie Geschöpf von Natur aus sündhaft ist“86, und widmet dieser Frage das gesamte 6. Kapitel. Dort behauptet er, dass „Gott freie Wesen auch nicht erschaffen kann; doch wenn er sie erschafft, dann werden sie fehlbar sein“87. Und er erklärt dazu: „Wenn man die Ordnung der Natur in Betracht zieht […], wird man darum sagen, es sei Gott ebenso unmöglich, eine sündlose Kreatur zu erschaffen, wie einen quadratfähigen Kreis herzustellen“88.

Einige Worte, die eigentlich in die eckige Klammer gehören, haben wir oben ausgelassen: „und dabei von Gottes selbstlosem Eingreifen absieht“. Ausgelassen, um damit die Aufmerksamkeit von der spontanen Leichtigkeit abzulenken, mit der sich theologische Motive in Grundsatzüberlegungen einschleichen. Doch bildet dies einen Hinweis auf zwei wichtige Dinge: Zunächst einmal wird, wenn man Grundsätzliches bedenkt, wie das hier geschieht, die Unmöglichkeit einer nicht fehlbaren endlichen Freiheit als das Logischste und Kohärenteste anerkannt. Zweitens bewirkt das Fehlen einer genauen und straffen methodischen Stratifikation dennoch, dass die theologischen Belange zu einem Verdrängen neigen und dadurch den Diskurs überdecken und komplizieren.

Bei der scholastischen Tradition mag man noch verstehen, dass solche theologischen Belange vorkommen, obgleich selbst dort – trotz aller Übung in den subtilen Unterscheidungen ihrer Spekulation – schließlich auch der Preis dafür gezahlt wird, die Macht des gegen das im Prinzip Anerkannte imaginativ Vorausgesetzten nicht vollkommen unterdrücken zu können89. Nicht mehr so verständlich wirkt jedoch bei den meisten gegenwärtigen Diskussionen, dass diese, auch ohne theologischen Anspruch, und sogar jene, die sich ausdrücklich für atheistisch erklären, ständig den Faktor „Gott“ in ihre Überlegungen einbeziehen, nicht nur mit offenbarem methodischen Übergehen des etsi deus non daretur, sondern ebenso mit „ärgerlichem Überfluss“ und deutlicher „Übertreibung in den Mutmaßungen“, wenn sie „als offenkundig festsetzen, was ‚Gott hätte tun können‘“90. Gewiss ist allein, dass die Lektüre der Diskussionen, falls man erst davor gewarnt ist, recht belehrend… und bisweilen sogar ziemlich mühsam wird91.

Zum Beleg dieser massiven Beeinflussung ist es der Mühe wert, sich einmal die Titel anzusehen, mit denen die heftigste Debatte einsetzte92. Der Einwand, mit dem aus einer ausdrücklich antitheistischen Argumentation heraus die Unvermeidbarkeit eines Missbrauchs der endlichen Freiheit bestritten wird, erscheint zuerst 1955 in einem Aufsatz von John L. Mackie, unter dem Titel: „Übel und Allmacht“93; noch im selben Jahr behandelt Anthony Flew unabhängig von Mackie das gleiche Thema in: „Göttliche Allmacht und menschliche Freiheit“94; und wenige Jahre später H. J. McCloskey in: „Gott und das Übel“95. Dreh- und Angelpunkt ihrer Argumentation ist geradezu unfehlbar der, dass Gott „die Menschen derart hätte erschaffen können, daß sie sich stets freiwillig für das Gute entscheiden würden“96.

Das Schlimme ist, dass diese (zumindest) nicht hinreichend vermittelte Interferenz mit den endlosen Diskussionen um das „logisch“ Mögliche bzw. Unmögliche zusammenkommt und sie dabei noch verschärft. Denn dies führt nicht nur zu einer Vernachlässigung der konkreten Analyse dessen, was wirklich möglich ist oder nicht, sondern auch dazu, dass es diese um die noch weniger überprüfbare Größe einer abstrakten Gottesidee, Gott in seiner „Güte“ und „Allmacht“, erweitert. (Man bedenke zudem, wie dadurch eine doppelte Verwirrung entsteht. Für den Nicht-Gläubigen hat dieses Mittel nur einen Sinn als Argument ad hominem gegenüber dem Gläubigen; sicher, weil er ihm ganz allgemein nur einfältige Vorstellungen über Gott zubilligt. Für den Gläubigen bedeutet dies die Einlassung auf eine Logik, welche noch nicht die des Glaubens sein kann, aber ihn zwingt, sich in Fragen zu entscheiden, welche diese bereits implizieren – ohne die Hilfe seiner eigenen, besonderen Logik. In beiden Fällen vermengen und mischen sich hier Motive der Ponerologie, der Pistodizee und christlicher Theodizee.)

Um nicht allzu langatmig zu werden, wollen wir ein konkretes Beispiel liefern. Das Spiel des logisch Möglichen hängt, solange es auf Begriffen aufbauen muss, mit Notwendigkeit von der Konkretheit ab, mit der man sie ansetzt. Kehren wir also zu dem schon erwähnten (3.2) Dreieck zurück: Wenn man nämlich die Begriffe „gleichseitig“, „rechtwinklig“ und „Dreieck“ untersucht, dann lässt sich nicht entscheiden, ob es logisch so möglich ist oder nicht. Denn ganz spontan erkennen viele dies nicht gleich. Bei größeren Mathematikkenntnissen, d.h. wenn man mit näher bestimmten Begriffen argumentiert, kann man den Widerspruch erkennen, und es mag sogar einige geben, die ihn „logisch“ nennen. Doch ein noch intimerer Kenner, der etwas von Riemanns nicht-euklidischer Geometrie versteht, d.h. von ihren noch genaueren Begriffen, wird sagen dürfen, es gebe einen solchen Widerspruch gar nicht…, und wird auch den Beweis dazu liefern: Die auf eine Halbkugeloberfläche derart eingezeichneten Dreiecke, dass sie vom Pol bis zum Äquator reichen und die Halbkugel in vier gleiche Teile aufgliedern, sind nicht nur rechtwinklig und gleichseitig, sondern sogar gleichwinklig (da deren drei Winkel jeweils neunzig Grad messen).

Deutlich wird damit, dass der Nachweis, ob ein Widerspruch besteht oder nicht, nicht allein aus der Analyse der Begriffe kommen kann, ohne dass man deren Abstraktionsgrad bestimmt; vielmehr ist es nötig, deren wirkliche Konkretionen zu beachten. Und hier kann die nicht (hinreichend) kritische Einführung dessen, was „Gott“ hätte tun können oder wollen, nur allzu oft einen unüberprüfbaren Faktor einsetzen – und tut das auch –, der alle Ergebnisse unsicher macht. Dies erklärt auch, wie man Jahrhunderte hindurch, gerade weil man den Begriff „göttliche Allmacht“ unkritisch verwendete, ohne ihn mit den echten Möglichkeiten zu vergleichen, als möglich annahm, dass Josua mit deren Hilfe die Sonne anhalten könnte, ohne dass dies eine kosmische Katastrophe verursachen würde. Und gewiss ist es, wenn man die Begriffe nur mit hinreichender Abstraktion annimmt, dass zwischen „Sonne“ und „anhalten“ auf ihrer sichtbaren Bahn kein logischer Widerspruch erkennbar wird. Erst der Vergleich mit den Ergebnissen einer Analyse der wirklichen Abläufe zeigt dann, dass dies wirklich unmöglich war und im Grunde ein Widerspruch97.

Dieses Verfahren funktioniert auch heute noch, bisweilen mit recht hohen Ansprüchen. Norwood Russell Hanson etwa vertrat die Ansicht, nach der es, damit die Annahme einer Existenz Gottes rational begründbar werde, notwendig sei, dass er als riesige Gestalt erscheine – als eine Art „Juppiter tonans“ –, sowie dass sein Aussehen und seine Worte elektronisch gespeichert und von Zeugen überprüft werden könnten98. Leszek Kolakowski hingegen, der sich nicht auf Hanson bezieht, aber von einem konkreteren Kontrast zur Wirklichkeit ausgeht, behauptet entschieden, dass „Gott nicht dazu fähig ist, eine empirische Evidenz für sein Dasein zu schaffen, die unwiderlegbar oder wenigstens, in wissenschaftlichen Begriffen, äußerst glaubwürdig scheinen könnte; und dies zu behaupten, bedeutet keineswegs gleich, seine Allmacht zu begrenzen, weil er zur Überwindung der Schwierigkeit ein logisches Wunder vollbringen müsste [d.h. einen Widerspruch], statt eines physischen“99. (Man beachte jedoch, dass man eher als: „Gott ist nicht dazu fähig“ sagen sollte: „Gott ist es unmöglich“ bzw. noch besser: „es hat keinen Sinn“, zu behaupten, dass Gott eine solche Evidenz schaffen kann oder nicht.)

Liest man nun diese Diskussionen nach, deren logische Genauigkeit sich nicht bestreiten lässt, dann erhält man oft den Eindruck, der größere oder geringere Erfolg eines Arguments sei von dem Geschick abhängig, mit dem abstrakte „Möglichkeiten“ zugunsten der eigenen These gesucht werden, die stets mit anderen zu beantworten sind, wenn der Widersacher ein gleiches Geschick beweist100. Zum Glück aber gestattet auch innerhalb dieser Diskussion und ohne Beseitigung aller Missverständnisse der Verweis auf die Wirklichkeit eine Überwindung der Einwände. Armin Kreiner kann daher in einem Resümee der Antworten anderer analytischer Philosophen wie Richard Swinburne, Alvin Plantinga und Stephen T. Davis behaupten, dass, wenn Gott freie Wesen erschaffen würde, die selbst bei sich bietender Gelegenheit tatsächlich nie das Schlechte wählen könnten, die Folgerung daraus die Negation der Freiheit wäre: „Wer sich in einer solchen Situation nicht auch anders hätte entscheiden können, war in dieser Situation nicht frei. Anders formuliert: Willensfreiheit setzt notwendigerweise die Möglichkeit des moralischen Übels voraus.“101

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