Читать книгу Das Neubedenken allen Übels - Andres Torres Queiruga - Страница 37
4.1 Die fehlbare Freiheit
ОглавлениеVor allem habe ich, das sei gesagt, diese Unterscheidung nicht um der einfachen Klarheit willen gemacht, also um den Diskurs nicht zu verkomplizieren. Eigentlich aber bin ich ganz berechtigt vorgegangen. Denn unsere Abhandlung trägt ja einen universellen Charakter und sollte nach der letztlichen Wurzel der Erscheinung des Übels suchen. Da diese Wurzel in der Endlichkeit liegt, wird auch alles Übel dort erscheinen, wo irgendein Modus endlicher Verwirklichung vorkommt. Das gilt darum ebenso für die Freiheit. Und es genügt, wenn man die grundlegendste Alltagserfahrung nicht vergisst, nach der – wie sogar schon die Bibel sagt – „selbst der Gerechte sieben Mal am Tag sündigt“48, um ihre Folgen zu begreifen: Auch die menschliche Freiheit kann nicht umgehen, dass sie Mangel und Verfehlung ausgesetzt ist.
Sie ist dies, nach aller Logik, in besonderer und spezifischer Weise, gemäß ihrem eigenen Seinsmodus, nämlich als dieses umgrenzte Wirkliche. Denn Verfehlungen und Konflikte erhalten, je nach der Art der daran beteiligten Wesen, unterschiedliche Gestaltung und Aussehen. Es bedeutet wohl nicht dasselbe, ob von kosmischen Katastrophen oder tierischer Gewalt oder von Kriegen der Menschen die Rede ist. Bei jeder neuen Erscheinung in der „Kette des Seins“ treten, zusammen mit neuen Ausdrucksformen des Wirklichen, auch neue Arten des „Übels“ auf: Die Krankheit entsteht mit dem Leben, und der Schmerz setzt die Empfindlichkeit voraus49. Mit der Freiheit entsteht in der Welt eine neue Weise des Wirklichen, sicherlich die höchstentwickelte innerhalb der bekannten Wirklichkeit; doch da sie ebenfalls begrenzt ist, zeigt auch sie ihren eigenen Typus des „Übels“, nämlich die Möglichkeit des verkehrten Gebrauchs, das „moralisch Schlechte“.
Die Begrenzung der Freiheit lässt sich wohl nicht leugnen: Den vielfältigen und nicht immer kontrollierbaren Einflüssen der Außenwelt unterworfen (was Kant hervorhob), gelangt sie auch nicht einmal zu voller Einsicht in ihre inneren Antriebe. Biologisch wird sie durch die körperlichen Abläufe eingeschränkt; psychologisch erstaunen uns seit Freud die Macht und die Tiefe, mit der sie die dunklen Kräfte des Unbewussten bedrängen; sozio-kulturell werden die Bedingtheiten immer deutlicher, die von allen Seiten auf sie zukommen, vom Spracherwerb in der frühen Kindheit bis zur ständigen Berieselung durch die Medien auf allen Lebensstufen. Da verwundert es nicht, wenn die gesamte Kulturtradition hindurch sogar eine starke Neigung besteht, sie überhaupt in Frage zu stellen, ja sie selbst zu leugnen. Denn die Freiheit wäre demnach eine bloße Illusion.
Auf die Diskussion darum möchte ich nicht weiter eingehen50. Ich glaube aber, dass die Erfahrung die Existenz der Freiheit hinreichend bestätigt, und ich bin davon überzeugt, dass, wer immer sie leugnet, schließlich in einen „pragmatischen Widerspruch“ gerät, sobald er seine Ansicht verteidigen möchte; denn eigentlich müsste die Rechtfertigung einer theoretischen Leugnung der Freiheit an sich diese schon im Akt ihrer Negation voraussetzen51. Doch was diese Zweifel für unser Anliegen letztlich bewirken, ist, dass sie die Endlichkeit der Freiheit als offenkundig und die unbequemen Folgen bestätigen, die sich daraus ergeben.
In der Freiheit gipfelt auch der dynamische Charakter der Endlichkeit. Denn die freie Wirklichkeit erscheint in ihrem innersten Wesen als Vorgang in der Herausbildung, so dass Hegel behaupten konnte, die Geschichte der Philosophie und selbst die der Menschheit seien die Geschichte einer Schaffung der Freiheit: „das letzte Ziel der Welt ist es, daß der Geist das Bewußtsein seiner Freiheit erhält und daß sich auf diese Weise seine Freiheit verwirklicht“52. Mithin ist die Freiheit nichts Fertiges, sondern ständig auf dem Wege der Überwindung, im Widerstreit mit den Hindernissen, welche sie vereinnahmen und bezwingen möchten. Denn nie ist sie ganz Herrin ihrer selbst und eben deshalb unvermeidlich der Verfehlung, der Verkehrung und der Schuld ausgesetzt.
Paul Ricœur, der dem Problem eine große Aufmerksamkeit gewidmet hat, die auch dessen einzelne Dimensionen genau bedenkt, spricht von ihrer konstitutiven „Fehlbarkeit“, einer Folge aus der Notwendigkeit, sich in einer unumgänglichen Dialektik zwischen „dem Willentlichen und dem Unwillentlichen“ zu verwirklichen, welche sie stets zwischen einem irgendwie schon Herrin ihrer selbst Sein und einem dies noch nicht ganz Sein ansiedelt. Hier entsteht eine ganze „Pathetik des Elends“ unter dem Zeichen der „Unverhältnismäßigkeit“, die menschliches Sein und dessen Verwirklichung charakterisiert53. Martha Nussbaum wiederum kann, wenn sie sich vor allem auf die heftigen Konflikte richtet, wie sie in der griechischen Tragödie sichtbar werden, ebenfalls von der „Brüchigkeit des Guten“ sprechen und von dessen konstitutiver „Verwundbarkeit“, indem sie scharfsinnig die Unmöglichkeit einer vollkommenen Harmonie bzw. Verwirklichung aufdeckt, einer „Eudämonie“, die nicht Zufälligkeiten und Fehlschlägen ausgesetzt wäre54. Und es sollte auch noch darauf verwiesen werden, wie Nietzsche und Dostojewskij richtig erkannt hatten, dass die menschliche Freiheit, wenn sie ihre Grenzen durchbrechen will, um schrankenlos zu werden, „in einem grenzenlosen Despotismus endet, d.h. in der eigenen Aufhebung“55.
Trotzdem lassen nicht alle diese Verbindung zwischen der Endlichkeit der Freiheit und der Unausweichlichkeit des moralisch Schlechten gelten. Selbst Juan Luis Segundo, mit dem mich wie immer ein tiefes Einvernehmen verbindet, vertritt in diesem Punkt eine äußerst nuancierte Ansicht. Ohne den unmittelbaren Zusammenhang endliche Freiheit/Fehlbarkeit zu leugnen, sowie in der Folge Schmerz und Übel, geht er dazu über, eine Art mittelbarer Verbindung zu explizieren, indem er die „Notwendigkeit“ des Schmerzes zeigt, damit die menschliche Freiheit als Verantwortliche der Welt und Gottes liebevolle Ansprechpartnerin ermöglicht wird. Dies hat seine Vorteile, insofern es mit allem Recht die Rolle der Freiheit im Kampf gegen das Böse sowie das Voranschreiten der Geschichte explizit macht. Es hat jedoch auch seine Nachteile:
(1) Dies schafft eine gewisse Neigung – gegen den tieferen Ductus seines eigenen Denkens –, auf eine Art göttlichen „Voluntarismus“ zu schließen, als wenn eine andere Lösung möglich wäre. Bemerkbar ist dies bei bestimmten Schwankungen im Gedankengang. So scheint er an einer Stelle, ohne es zu sagen, die Möglichkeit einer schon voll verwirklichten, geschaffenen endlichen Freiheit zuzulassen: „Dass Gott für die Schöpfung lieber [von mir hervorgehoben] einen Weg der Evolution wollte als den, welchen man ‚augenblicklich‘ nennen könnte, ist ein Umstand, den die Wissenschaft mit hinreichender Sicherheit begründet hat“56; „Ein Gott, der ein unvollständiges Universum erschaffen hat, um [von mir hervorgehoben] eine entscheidende menschliche Freiheit vor sich zu haben“57.
(2) Wie noch im Hinblick auf die „irenäischen Theodizeen“ (Kap. VI 4.2) zu sagen sein wird, führt er einen solchen Finalismus in die Schaffung der Freiheit ein, dass er geneigt ist, die nicht von ihr verschuldeten Übel unerklärt zu lassen, so dass er schließlich die Hypothese wagt, ihr könne es gelingen, die Übel völlig zu beseitigen und eine Welt ohne Schlechtes zu schaffen: „Man mag sagen, es gebe Übel, die aus der Verantwortung des Menschen herausfallen. Sicherlich, doch was heute Fatalität scheint, wird morgen Verantwortung sein […]. Was heute noch [hervorgehoben vom Autor] nicht unsere Verantwortung ist, das ist dieses vielleicht noch nicht unmittelbar. Doch wird es dies morgen sein, wie in unzähligen Bereichen der Existenz bereits geschehen.“58 Was als Bestätigung von Teilerfolgen sicher ist, nicht aber als Antwort auf die Schwierigkeit.
A. M. L. Soares59 würdigt Segundos Beitrag zwar zu Recht, doch unterlässt er es auch nicht, selbst einige Vorbehalte anzudeuten: „Bei manchen Phasen seiner Argumentation bleibt der Eindruck, alles Übel würde im größeren Vorhaben des Schöpfers ‚stillschweigend‘ eingesetzt, um uns zu veranlassen, zu wachsen und teilzuhaben.“ „Das Übel als ‚kreativen Stoff‘ zu betrachten, der einem freien, persönlichen Wesen zur Verfügung steht, kann zutreffen, solange wir an den Stein auf dem Weg denken, an die Natur, die dazu verwendet wird, um uns zu ernähren, zu beherbergen und zu schützen. Doch ist es schwierig, etwas Gutes in bestimmten skandalösen, völlig absurden und übermäßigen Übeln zu erkennen. Es gibt wohl keine Erklärung aus göttlicher Pädagogik, die gewisse Abweichungen rechtfertigen möchte, deren Opfer oder Nutznießer (oder beides) wir sein können.“ Und er weist mit Recht abmildernd darauf hin, dass Segundo „seine Einsichten hierzu nie systematisiert hat“ (er nennt auch noch zwei Arbeiten von E. Medina, die ich aber nicht einsehen konnte).
Manchen scheint meine These zu viel zu beweisen; denn sie würde den moralischen Grundzug beseitigen, wenn sie die Schuld in etwas Notwendiges verwandelt; und andere wiederum sind der Ansicht, sie beweise zu wenig, da sie die Möglichkeit einer endlichen Freiheit ohne Schlechtes ausschließen würde. Dazu wollen wir zunächst die erste Schwierigkeit erörtern.