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5.1. Gegen die Substantivierung des Übels

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Beginnen sollten wir mit der elementaren Bemerkung, die José Ferrater Mora am Anfang des Artikels über das „Übel“ (mal/malo) in seinem Philosophischen Wörterbuch macht:

„Das ‚Übel‘ und das ‚Üble‘ sind jeweils ein Substantiv bzw. ein substantiviertes Adjektiv, und es besteht hier eine gewisse Neigung, diese zu ‚verdinglichen‘, d.h. anzunehmen, es gebe etwas, das man ‚das ‚Üble‘ bzw. ‚das Schlechte‘ nennt. Viele metaphysische Auffassungen vom Übel beruhen explizit oder implizit auf einer solchen Verdinglichung.“106

Viele Diskussionen um Wirklichkeit oder Nicht-Wirklichkeit des Übels, also darum, ob es etwas rein Negatives oder eine positive Kraft sei, ließen sich vermeiden, wenn man diese Worte nur beherzigte. Denn das Übel (Schlechte oder Böse) ist keine Wirklichkeit an sich, sondern eine Qualifizierung einer Handlung, eines Ereignisses, einer Sache oder eines Sachverhalts, die primär mit Bezug auf das menschliche Leben vorgenommen wird, dem dies irgendwie schadet oder widerspricht und das wir darum „übel“, „schlecht“ oder „böse“ nennen:

„Das Übel erscheint stets als eine Eigenschaft und ist deshalb ein Prädikat. Es besteht nie an sich selbst… und lässt die Vorgänge in Katastrophen münden.“107

Vom Schlechten zu sprechen, impliziert also einen dynamischen Vorgang, der als Urerfahrung, die er ist, zwar nicht definierbar wird, dessen Struktur sich aber beschreiben lässt. Dies hat mit besonderem Tiefsinn Ingold U. Dalferth getan, wenn er eine klärende Unterscheidung einzelner Momente vornimmt (obwohl wir seine feinen und eingehenden Analysen hier doch ziemlich vereinfachen müssen)108. „Schlecht“ oder „übel“ nennen wir kein Ding, sondern ein Vorkommnis (Magenschmerzen, ein Trauma u.a.); primär etwas, das uns geschieht (ein „Widerfahrnis“), und darum aus der Sicht der ersten Person; aber auch, sekundär, in der dritten Person, etwas, das anderen geschieht (als „Ereignis“). Weil es jemandem geschieht, ist es eine Erfahrung, die wie jede Erfahrung eine Deutung einbegreift, ein Urteil über die Art und Weise, das menschliche Leben zu betreffen. Das Ereignis wird darum als „schlecht“ qualifiziert. Falls außerdem über diese Deutung nachgedacht und sie in den intersubjektiven Diskurs eingeführt wird, erscheint das Nachdenken über das Schlechte109.

Diese Struktur gestattet nun wichtige Aspekte zu klären, und zwar über die einzelnen Arten der Betrachtung. Denn das objektive Urteil über die konkreten Ursachen des Übels, das eigentlich in die Zuständigkeit der Einzelwissenschaften gehört, ist nicht dasselbe wie das Werturteil, mit dem wir die Ansicht äußern, ob etwas gut oder schlecht sei. Dalferth erklärt dies so:

„Kurz: „Böses“ und „Gutes“ sind keine Namen bestimmter empirischer oder historischer Phänomene oder Phänomenklassen, und ‚Das ist böse‘ bzw. ‚Das ist gut‘ sind keine deskriptiven Urteile über Wirklichkeitslagen, die unabhängig davon bestehen könnten, dass es jemand gibt, für den etwas gut oder böse ist, sondern normative Urteile darüber, dass etwas Bestimmtes für ihn gut oder böse ist.“110

Hieraus ergeben sich zwei Konsequenzen:

(1)Manche „schlechten“ Phänomene lassen sich objektiv, in ihrem Kausalablauf untersuchen, ohne dass man deswegen in Überlegungen zu deren Bosheit oder Güte eintreten müsste; man denke nur an einen Messerstich (Beispiel von uns), der ja medizinisch untersucht werden kann, ohne dass einer darauf achtet, ob der Stich erfolgte, um einen Unschuldigen zu ermorden oder um ein Opfer zu verteidigen; oder sogar an eine Vergewaltigung (Beispiel von Dalferth): „zu wissen, warum sie geschehen ist, begründet wiederum nicht, warum sie ein malum darstellt. Deshalb sind historische, empirische, ökonomische oder politische Erklärungen von Bösem nie hinreichend“111.

(2)Die wertenden Urteile über Schlechtigkeit oder Güte eines selben Geschehens können ganz verschieden ausfallen. Vor allem danach, ob die betroffene Person oder ein unbeteiligter Zeuge sie fällt. Das Urteil des Opfers stimmt dabei gewöhnlich nicht mit dem des Angreifers überein. Das jedoch bedeutet keine völlige Getrenntheit. Denn da wir alle auch Erfahrung mit dem Schlechten haben, können wir es erkennen und beurteilen, sofern es andere betrifft. Deshalb können Urteile aus der Sicht der ersten bzw. der dritten Person schon übereinstimmen. Und es kann sogar der Fall eintreten, nach dem das letztere eher zutrifft als das erstere. Viele Eltern wissen nämlich, wie schwer es ist, manche Kinder davon zu überzeugen, dass Drogenerfahrung für sie schlecht ist; und so mancher Arzt muss seine Patienten davon überzeugen, wie bösartig ein Symptom ist, das sie für harmlos halten. Notwendig wird natürlich der Dialog, der die Standpunkte annähern kann. Recht aufschlussreich wirkt hier das Beispiel der Sklaverei: (a) Jahrhunderte hindurch galt sie den anderen nicht als Übel, obwohl sie das für die Betroffenen schon war; (b) einige Betroffene sahen sie nicht mehr als ein Übel; (c) heute sind sich auch fast alle „anderen“ darin einig, dass sie als Übel zu gelten hat.

Dieses Beispiel erlaubt noch eine weitere wichtige Klärung. Im positiven wie im negativen Sinne belegen die Varianten und die Ausnahmen bei der Beurteilung der Sklaverei, wie schwer bisweilen das Werturteil fallen mag. Doch belegen sie ebenso, dass dies den Relativismus nicht unausweichlich macht. Es zeigt nämlich nur, dass es verfehlte oder unsichere Urteile geben kann, falls die Fragen komplex oder die Interessen stark sind. Jedoch dürfen die echten Zweifel nicht zum allgemeinen Zweifel führen, demzufolge man behauptet, alles Schlechte sei, wie neben anderen Hobbes meinte, einzig von dem abhängig, was dem Subjekt gefällt oder missfällt:

„[…] Auch wenn ‚das Böse‘ nicht etwas ist, ist kaum zu bestreiten, dass etwas böse ist. Das bestreiten zu wollen, hieße die Wirklichkeit von Bösem negieren. Aber das ist so unrealistisch, dass darüber hinaus kaum Unwahrscheinlicheres behauptet werden kann“.112

Besonders energisch bringt das José Gómez Caffarena zum Ausdruck; denn nachdem er darauf verweist, dass gut und schlecht „wertende Begriffe sind, die vor allem menschliche Erwartungen an das Wirkliche meinen“, kann er sagen:

„Wenn man das Vorhandensein des Subjekts unterstreicht, dann negiert dies nicht, was in ‚Gut und Böse‘ an Wirklichem steckt; denn wirklich ist das, was in jedem Fall ‚gut oder böse ist‘ (obgleich diese Bezeichnungen erst im Bezug auf die Erwartungen, besonders der Menschen, auftauchen); wie auch die Erwartungen selbst real sind, die danach streben, etwas Gutes, und nicht Schlechtes, zur Antwort zu bekommen; und real ist auch die Tatsache, dass sie es erreichen oder enttäuscht werden.“113

In der Tat „gibt es niemanden, von dem nicht wahrheitsgemäß gesagt werden könnte, dass es etwas Böses für ihn gibt“114. Und wenn man bis zum Äußersten ginge, gäbe es sogar in einer cartesianisch erträumten Welt noch Schlechtes; denn „zu träumen, daß man leidet, heißt auch zu leiden“115. Darum erweist eine nur minimal realistische Betrachtungsweise, dass trotz aller Verschiedenheit der Urteile über konkrete Leidensübel doch eine praktische Einhelligkeit in der Beurteilung der Grundübel besteht, welche die Menschheit plagen. Denn es ist wohl unmöglich, einen normalen Menschen zu finden, der sich über das Vorkommen der Krebskrankheiten, über den Hunger von Millionen Kindern oder den Mord an Unschuldigen freuen würde.

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