Читать книгу Das Neubedenken allen Übels - Andres Torres Queiruga - Страница 22
3.3 Die Grundeinsicht
ОглавлениеDiese Intuition wird von der Kategorie des „mal métaphysique“ dargestellt (hier ist noch nicht von Interesse, wie später aber doch, dass wir auch untersuchen, ob es richtig sei, auf jener Ebene von „Übel“ zu sprechen; ich denke zwar, dass dem nicht so ist, doch vorerst ist die Betonung der Endlichkeit von Gewicht). Diese Kategorie hat Leibniz wohl nicht erfunden, aber dauerhaft in die Geschichte des Denkens eingeführt. Sie erscheint mit aller Deutlichkeit in der ersten formalen Darlegung seiner Lösung. Denn als er die entscheidende Frage stellt (d.h.: „Woher kommt das Übel?“), da lautet die Antwort: aus der Wesensbeschränkung der Kreatur (§ 20).
Zwar erscheint die Formulierung noch in traditionelle Motive verpackt, welche die wahre Absicht verhüllen können. Recht besehen aber verstärken sie ganz eindeutig deren Originalität. Man lese nur den ausdrücklichen Wortlaut:
„Die Alten teilten die Ursache des Übels der Materie zu, die sie als ungeschaffen und von Gott unabhängig annahmen; wir aber, die wir alles Sein aus Gott herleiten, wo könnten wir den Ursprung alles Schlechten finden? Die Antwort darauf ist, daß er in der Idealnatur des Geschöpfs gesucht werden muß, insoweit diese in die ewigen Wahrheiten eingeschlossen bleibt, die sich in Gottes Verstand, unabhängig von seinem Willen befinden. Daher wird es notwendig, daran zu denken, daß schon vor der Sünde eine ursprüngliche Unvollkommenheit der Kreatur besteht, weil diese ihrem Wesen nach beschränkt ist; woraus sich ergibt, daß sie nicht alles zu wissen vermag, daß sie sich täuschen und noch andere Fehler begehen kann“ (§ 20, Hervorhebungen von uns).
Liest man diesen Abschnitt aus dem Gedankengang des Autors und der Kultur seiner Zeit heraus, dann ist er von einer enormen Aussagekraft. Und der mögliche theologische Kurzschluss wird durch die Unterscheidung zwischen göttlichem Verstand und Willen vermieden. Ohne ihm in dem folgen zu müssen, was seine Betrachtungsweise an übertriebenem theologischen Rationalismus enthält, ist aber das, was wir heute zu lesen in der Lage sind, der Umstand, dass er, wenn er die „Wesenheiten“ vom göttlichen Willen unabhängig macht, indem er sie auf der objektiven Notwendigkeit des Verstandes beruhen lässt, das Problem auf die Untersuchung der Dinge an sich verlegt, d.h. auf die weltliche Autonomie ihrer inneren Berechtigung.
Dies wird nun durch zwei zusätzliche Motive kraftvoll hervorgehoben. Denn indem er das Problem „vor dem Sündenfall“ ansetzt, umgeht er die gefährliche Hypothek einer objektivierenden theologischen Tradition, welche den Ursprung des Schlechten in Adams Sünde hineinverlegt. Die logische Untauglichkeit dieses Verfahrens hatte schon Bayle – als er, wie gesehen, Epikurs Dilemma darauf anwandte – mit aller Heftigkeit beklagt; doch belastete und belastet es die Problematik erheblich. Leibniz konnte dies vermeiden, indem er direkt bei der „ursprünglichen Unvollkommenheit der Kreatur“ ansetzte. Andererseits führt die Ablehnung der Erklärung durch Rückgriff auf den metaphysischen Begriff der „Materie“ zu einer streng philosophischen Betrachtungsweise, bei der die Überlegungen auf die Konstitution der Dinge selbst, in ihrer Endlichkeit, gelenkt werden. Dies verstärkt er übrigens noch ausdrücklich; denn im unmittelbaren Anschluss verleiht er der platonischen Lehre „einen richtigen Sinn“ und gelangt schließlich zu der Behauptung, dass das „Reich der ewigen Wahrheiten“ gerade der „Materie“ gleichkommt, „wenn es gilt, den Ursprung der Dinge zu finden“ (ibidem).
Es lässt sich verstehen, wenn diese wesenhafte Beschränkung bzw. das metaphysische Übel zu einem Grundmotiv wird. Aus diesem erklären sich danach sowohl das moralisch Schlechte (2. Teil, §§ 107–240), als auch das physisch Schlechte (3. Teil, §§ 241–417). Wenn man nun alles in Betracht zieht und dabei von Zusätzen und Abschweifungen absieht, so bestimmt diese Grundlegung auch die Struktur des Werkes selbst.
Er beginnt beim moralischen Übel und argumentiert logisch zutreffend, dass eine endliche Freiheit nicht vollkommen sein kann; denn in ihr werden unvermeidlich auch Verfehlung und Absturz erscheinen. Mehr aber als seine – sicher weitschweifigen – Untersuchungen zur Freiheit, die stets zu einer intellektualistischen, den „moralischen Determinismus“ streifenden Auffassung neigen, interessiert das Grundmotiv, d.h. die Endlichkeit als Wurzel. Deswegen wird Leibniz, sobald er nach der Ursache des Übels forscht, sich nicht mit einem Rückgriff auf Teufel oder Sündenfall begnügen und einige Male sogar ausdrücklich von Augustinus Abstand nehmen40. Zwar könnten diese Begründungen manches erklären, doch seien sie nie die letztliche Erklärung:
„Im Hinblick auf die Ursache des Schlechten stimmt es wohl, daß der Dämon Urheber der Sünde ist; doch der Ursprung der Sünde reicht noch tiefer; deren Quelle liegt in der ursprünglichen Unvollkommenheit der Geschöpfe, und dies macht sie zur Sünde fähig; und in der Verkettung der Dinge ergeben sich Umstände, die bewirken können, daß diese Fähigkeit in die Tat umgesetzt wird“ (§ 156)41.
Was nun das physische Übel angeht, so neigt Leibniz dazu, es zu verkleinern, indem er ihm einiges an Bedeutung abspricht. Insofern widersetzt er sich buchstäblich dem Pessimismus eines Bayle, wenn er zu ihm sagt, dass es eigentlich „unvergleichlich viel mehr Häuser als Gefängnisse gibt“ (§ 148); und er verweist darauf, dass eine umfassende Betrachtung – vor allem, wenn man sie auf das Universum ausdehnt42 – stets viel mehr Gutes als Schlechtes vorfindet (vgl. §§ 12–13, § 148; §§ 251–253; § 257–258; § 263; Anhang 378). Er verniedlicht das Leiden der Tiere (§ 251); und im Hinblick auf das der Menschen offenbart er eine gewisse moralisierende Tendenz, d.h. entweder möchte er es mit Augustinus als Sühne für die eigene Schuld ansehen (§ 106; §§ 264–265), oder, falls es auferlegt wird, so behauptet er, „darf man gewiß annehmen, daß diese Leiden uns nur auf eine umso größere Glückseligkeit vorbereiten“ (§ 106). Und er huldigt sogar dem Geist seiner Zeit, wenn er das traditionelle Motiv nicht hinterfragt, das die Ungleichheit als etwas Normales ansieht, da „es nicht angehen kann, daß die Pfeifen einer Orgel alle gleich sind“ (§ 246)43.
Offenkundig können solche Erwägungen der Kerneinsicht einige Kraft nehmen und deren Klarheit mindern. Doch recht besehen bildet sie auch hier weiterhin die Grundlage seines Denkens. Denn einerseits gelangt im Gesamtverlauf des Werkes sogar die Neigung zu einer Rückführung des physischen Übels auf das moralische schließlich zur wesenhaften Begrenzung. Und über allem steht das fortdauernde Grundmotiv: Die Beschränktheit aller Geschöpfe macht eigentlich die „Mitmöglichkeit“ der Vollkommenheiten unmöglich und verursacht dadurch Entbehrung und Leiden. Darum lehnt er den Rückgriff auf das Wunder ab, was keine Lösung brächte (§§ 204–205; §§ 248–249). Und gegebenenfalls verweist er mit allem Nachdruck auf die wesenhafte und konstitutive Unmöglichkeit, weil „Gott seinen Geschöpfen soviel Vollkommenheit verleiht, wie sie das Universum aufnehmen kann“ (§ 335); bzw. noch eindringlicher spricht er von „ursprünglicher Beschränkung, welche die Kreatur von Anbeginn ihres Seins an unweigerlich erhalten mußte“; sodass „Gott ihr nicht alles geben konnte, ohne einen Gott zu erschaffen“ (§ 31)44.