Читать книгу Das Neubedenken allen Übels - Andres Torres Queiruga - Страница 40
4.4 Synthese: Die Endlichkeit als letzte Bedingung
ОглавлениеSo grundlegend ist der bestimmende Charakter der Endlichkeit für die Problematik des Übels, dass es der Mühe wert ist, am Ende noch einmal auf sie zurückzukommen, nunmehr schon gerüstet mit den Einzelheiten und dem Reichtum der Diskussion. Vielleicht mag jetzt auch leichter erkennbar sein, dass es letztlich für den Begriff selbst äußere Belange sind, welche die größten Widerstände und die dauerhaftesten Schwierigkeiten aufkommen lassen. Denn an sich hat die Endlichkeit als letzte Qualifizierung, als Grundbestimmung in der Weise des Seins und des Wirkens der von ihr gemeinten Realitäten einen umfassenden Charakter, der alle Eigenschaften durchzieht und sich deshalb selbst in der Negation bestätigt, die sie als letzte Bedingung der Möglichkeit im Erscheinen des Übels abweisen möchte. Der Grund liegt darin, dass, wenn man eine Bestimmung „hinzufügen“ will, die sie in irgendeiner Weise ergänzen soll, diese wiederum der Endlichkeit selbst entstammt und von ihr bereits erfasst ist.
Klären möchte ich dies anhand eines Textes von Wolfhart Pannenberg, einem für die Weite seiner Information und seine große spekulative Strenge gut bekannten Theologen. Es hat den zusätzlichen Vorteil, dass seine Überlegungen zu dieser Problematik den hier entwickelten sehr nahe kommen sowie Leibniz gegenüber sogar ein Verständnis zeigen, das ihm gerecht zu werden versucht, ohne den üblichsten und häufigsten Topoi nachzugeben.
Bei der kurzen, aber intensiven Erörterung der Theodizee im 2. Band seiner „Systematischen Theologie“102 hebt er zwar die entscheidende Bedeutung der Endlichkeit hervor; doch sobald er seine Reflexion auf das Böse richtet, gelangt er zu der Ansicht, es reiche nicht hin, auf die Begrenztheit der Kreatur als Grundlage von dessen Möglichkeit zu verweisen. Er argumentiert nämlich, dies würde das Böse auf einen „Irrtum“ bzw. einen „Mangel“, statt eines „Abfalls“, verkleinern. Dazu sagt er selbst:
„Die Zurückführung der Möglichkeit des Übels einschließlich des moralischen Übels der Sünde auf die mit der Geschöpflichkeit verbundenen Bedingungen des Daseins enthält etwas Wahres. Dennoch reicht die Hervorhebung der Beschränktheit des Geschöpfes als Grund der Möglichkeit des Bösen noch nicht zu. Die Schranke der Endlichkeit ist, wie auch Leibniz wußte, noch nicht das Böse, und wenn das Böse aus ihr entstünde, dann müßte sein Wesen als Irrtum statt als Abfall von Gott bestimmt werden. An dieser Stelle ist auch Leibniz noch befangen geblieben in der neuplatonischen Auffassung des Bösen als Mangel. Die Wurzel des Bösen ist eher im Aufstand gegen die Schranke der Endlichkeit zu suchen, in der Weigerung, die eigene Endlichkeit anzunehmen, und in der damit verbundenen Illusion der Gottgleichheit (vgl. Gen 3,5). Daher ist eine Umformung des Gedankens nötig, der im Wesen der Geschöpflichkeit selber die Möglichkeit des Bösen und der Übel begründet sieht: Nicht die Beschränktheit, sondern die Selbständigkeit, zu der das Geschöpf geschaffen wurde, bildet den Grund der Möglichkeit des Bösen. Damit wird der Zusammenhang von Geschöpflichkeit und Übel in ein noch schärferes Licht gerückt, als das bei Leibniz der Fall war. Die Selbständigkeit des Geschöpfes ist einerseits Ausdruck seiner Vollkommenheit als Geschöpf, die fundamental durch den Besitz eigenen Daseins bestimmt ist. Sie ist aber auch mit dem Risiko seiner Abwendung vom Schöpfer verbunden. Die Selbständigkeit des Geschöpfs enthält die Verführung, sich in der Selbstbehauptung des eigenen Daseins für absolut zu nehmen“.103
Die drei Hervorhebungen stammen von uns, weil sie allein schon genügen, um zu zeigen, dass man der Endlichkeit eigentlich gar nicht entkommt, sondern lediglich die Erörterung verschiebt. Denn es fällt nicht schwer, zu erkennen, wie die Schwierigkeit – auf die so viele Autoren zurückkommen, die sie als fast „offensichtlichen“ Abschluss der Diskussion auffassen – letztlich in sich zurückkehrt und dadurch die Endlichkeit bestätigt. Sogleich erhebt sich nämlich die Frage: Wo liegt die Bedingung zur Möglichkeit dieser Auflehnung gegen die Beschränkung durch die Endlichkeit, wenn nicht in der Endlichkeit selbst? D. h., dies verwirklicht sich in Realitäten, die, weil sie endlich sind, sich nicht vollkommen selbst besitzen, Mängel aufweisen, nicht zu voller Verwirklichung fähig sind und, im Fall der freien Wesen, nicht dazu gelangen, sich vollständig den Gesetzen ihres wahren Seins anzupassen. Deshalb wäre eine solche Rebellion in einer unendlichen oder absoluten Freiheit auch sinnlos (theologisch gesagt: Das moralisch Schlechte hat in Gott keinen Raum, da die unendliche göttliche Vollkommenheit schon die Bedingung der Möglichkeit dazu verhindert, zumal sie Selbstbesitz und volle Selbstverwirklichung ohne Einschränkung und Maß ist).
Bedeutsam ist dabei nur, dass, sobald Pannenbergs Gedankengang in der unmittelbaren Fortsetzung diesen Bereich der „Interferenz“ wegen externer Anliegen verlässt, das Motiv der Endlichkeit uneingeschränkt wieder erscheint:
„Wie Leiden und Schmerz, so gehört auch die Möglichkeit des Bösen zur Endlichkeit geschöpflichen Daseins, insbesondere zur Endlichkeit der Lebensformen, die sich in ihrer Selbständigkeit zu behaupten suchen und daher zu radikaler Verselbständigung neigen. Darin liegt der Ursprung des Leidens [also des physischen Übels] wie auch des Bösen [des moralisch Üblen].“104
Jedenfalls lenken diese Bemerkungen die Aufmerksamkeit auf einen Aspekt, den die Darstellung, die ja darauf gerichtet ist, die letzte Möglichkeitsbedingung aufzudecken, allzu sehr in einem Halbschatten belassen mag. Weil jene Bedingung die letzte wäre, ist ihr Abstraktionsgrad mit Notwendigkeit auch der höchste; und er könnte den Eindruck erwecken, alle Übel gleichzusetzen, ohne auf die enormen Unterschiede zu achten, die zwischen ihnen bestehen: z.B. den, der zwischen einem leichten Kopfschmerz und den „entsetzlichen Übeln“ existieren kann, welche die Menschheit heimsuchen105.
Doch wird schon verständlich, dass dies weder das Ergebnis ist noch sein darf. Eher gestattet die Erfassung der gemeinsamen Wurzel, die Proportionen zurechtzurücken und die Bedeutungen zu hierarchisieren. Gerade weil sie alle Bestimmungen durchzieht, veranlasst die Endlichkeit uns dazu, sie in ihrer fassbaren Wirklichkeit zu untersuchen, um damit die Art und Weise zu erfahren, in der sie sich jeweils verwirklichen. Dies wiederum eröffnet die Betrachtung über die Analyse der Unterschiede in Umfang und Stärke, mit denen die einzelnen Übel in den verschiedenen Sphären des Wirklichen erscheinen können. Später werden wir sehen, wie sich von hier aus die Diskussionen auch besser klären lassen, die sich um so stark erörterte Themen entwickeln konnten, wie etwa das, ob es nicht „zu viel Schlechtes“ in der Welt gebe, oder etwa auch um das Thema der begründbaren bzw. nicht begründbaren Übel.