Читать книгу Das Neubedenken allen Übels - Andres Torres Queiruga - Страница 21
3.2 Die wahre Bedeutung, jenseits des Topos
ОглавлениеEs fällt gewiss nicht leicht, den in einem reichhaltigen, umfassenden und repetitiven Werk dargestellten Gedankengang seinem wahren Sinne nach zu verstehen. Dies nicht allein, weil Leibniz seine Théodicée „par lambeaux“34 geschrieben hat und weil sich viele Erläuterungen dazu in Briefen verstreut finden. Der Hauptgrund dafür liegt vielmehr in dem Rauchvorhang aus Topoi, die seine Leitidee zu überdecken drohen. Zu ihrer Zeit so überaus gern gelesen, dass sie zum „Grundbuch der deutschen Aufklärung“ (Brunschwicg) und zum „Lesebuch des gebildeten Europa“ (Überweg) werden konnte35, fiel Leibniz’ Theodizee bald den Vereinfachungen und sogar der Lächerlichkeit anheim, die allen ungerechten und oberflächlichen Spott in Voltaires Candide36 nur allzu berechtigt erscheinen ließ.
Dies aber ist ein sicher unverdientes Schicksal für einen Autor mit empfindsamer Seele und nobler Geisteshaltung, der stets zum Gespräch bereit und zum Verständnis geneigt war37. Und dies, obgleich er sehr wohl wusste, dass oberflächliche Erklärungen nur allzu oft mehr Erfolg haben als tiefere Begründungen (§ 152); und er scheint sogar den „Voltaire-Effekt“ vorausgeahnt zu haben, als er im Hinblick auf eine holländische Schmähschrift bemerkte, dass die „Erwiderungen auf die Satiren nie so viel Anklang finden wie die Satiren selbst“ (§ 167). Aus bloßer Gerechtigkeit allerdings wäre es, bevor wir uns auf Pauschalurteile und Diagnosen nach dem Hörensagen einlassen, nur klug, sich an die unmittelbare Lektüre eines Werkes zu machen, das einen trotz seiner Mängel in der Abfassung durch Reichtum, Höhe und Weite seiner Ideen reichlich belohnt38.
Jean Pierre Jossua hat Leibniz’ historische Zwischenstellung sehr gut erfasst, wenn er ihn als „den Scholastikern am nächsten und zugleich moderner als alle seine Zeitgenossen“ schildert39. Etwas, das sich ganz eindeutig auf seinen Beitrag auswirkt. Um ihn zu verstehen, wird es darum notwendig, von einer richtungweisenden Unterscheidung auszugehen, nämlich der, welche zwischen der Grundeinsicht und den übrigen Erläuterungen bzw. Ansichten vermittelt, die sie umgeben und begleiten. In jener findet sich, es sei nochmals gesagt, der moderne Leibniz, mit seinem epochemachenden Beitrag; in den Erläuterungen sind die scholastischen und die traditionellen Ansichten versteckt, die zwar in manch anderer Hinsicht wichtig sein können, aber allgemein dazu führen, dass die Kernintuition verdeckt bleibt.
Wenn wir nun zum Wesentlichen kommen, dann müssen wir wiederholen, wie Leibniz – als bedeutendster und einflussreichster Autor – sich an die Spitze derer setzt, die sich zum ersten Mal in der Geschichte an die Aufgabe trauen, über das Schlechte aus einer Richtung nachzudenken, die allmählich schon tiefgehend von der säkularen Sicht der Welt geprägt ist. Und in der Weise können von hier aus auch die theologischen Motive dadurch ihren richtigen Platz finden, dass man sie auf der ihnen angemessenen Ebene einer spezifischen Antwort auf ein allgemein menschliches Problem anordnet.
Dies bedeutet aber nicht, wie gesagt, dass Leibniz seinen Beitrag ganz bewusst oder in völliger Kohärenz leistet. Denn daran hinderten ihn sowohl die Umgebung als auch die ausdrückliche Absicht; zumal er nicht umsonst versucht, eine „Theo-Dizee“ zu verfassen, d.h. eine Verteidigung oder Rechtfertigung Gottes. Jedoch darf man wohl behaupten: (1.) dass die Richtung seines Denkens und der innere Antrieb seines Diskurses in der Betrachtung der Struktur der wirklichen Welt an sich begründet liegen, und (2.) dass letztlich alles übrige hieraus zu verstehen ist (wobei betont sei, dass, auch wenn ihm dies noch verborgen bleiben mochte, es nicht notwendig für uns so sein muss).