Читать книгу Das Neubedenken allen Übels - Andres Torres Queiruga - Страница 19
2.2 Die historische Bedeutung der bayleschen Thesen
ОглавлениеSo sieht am Ende also Bayles Lösung aus. Darin wird das calvinistische Paradoxon bis zu seiner äußersten Konsequenz geführt. Doch gerade dies deutet mit aller Klarheit auf eine Haltung des Übergangs auf dem Gipfel einer historischen Wende: Sie entwertet ein nicht mehr gültiges Vergangenes und kündigt eine Zukunft an, die noch nicht ganz angekommen ist.
Es würde sich lohnen, auf das spannende Thema einzugehen, inwieweit hier eine Vorausnahme kantischen Denkens in dem Sinne geschieht, dass sich bei Bayle etwas ankündigt, das Kant später zu ausdrücklicher und systematischer Reflexion führen wird. Ernst Cassirer macht darauf aufmerksam, wie sich in Bayles Argumentation, wo stets das Pro und Kontra der Gründe bei einem selben Thema ins Spiel kommt, schon die „Dialektik“ der Kritik der reinen Vernunft ankündigt25. Noch beeindruckender wird aber die Struktur des gesamten Vorhabens selbst. Denn auch Bayle könnte – auf seine Weise und auf seinem Gebiet – wie Kant sagen: „ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen“26. Es geht hier wohl nicht um dasselbe „Wissen“ oder um denselben „Glauben“; doch sagt uns etwas, dass unter der Verschiedenheit gleiche, sehr tiefe und antriebsstarke Wasser fließen. Erwähnenswert bliebe noch eine weitere Annäherung an die kantische Unterscheidung zwischen „gelehrter Theodizee“ (die auf der Vernunft beruht und darum scheitert) und „ursprünglicher Theodizee“ (die vom Gesetzgeber selbst stammt und in den heiligen Schriften oder im moralischen Bewusstsein als deren Reflex spürbar wird)27.
Doch halten wir uns enger an unser Thema. Und hier zeichnet sich deutlich die Vorreiter-Rolle ab, die Bayle – zumindest symptomatisch – wahrnehmen kann. Auf der Ebene des Glaubens entwertet das durch die Auswirkungen der Reformation erreichte neue Stadium die hinfälligen theologischen Spekulationen, indem es jede logische Ausflucht versagt, und verlangt nach einem Neuansatz. Auf der Ebene des Denkens meldet sich mit aller Macht das sapere aude der Aufklärung zu Wort und fordert eine erneute Untersuchung des Problems. Beide Instanzen aber finden nicht zueinander. In Bayles Entwurf wird daher ein „unglückliches Bewusstsein“ spürbar, das – mit Hegel gesagt – nach einer Art Versöhnung auf einer weiteren Ebene strebt. Genau dies sollte nun Leibniz versuchen.