Читать книгу Das Neubedenken allen Übels - Andres Torres Queiruga - Страница 14
5.2. Chronographie und Topographie des Problems
ОглавлениеWenn zu dieser Beachtung der besonderen hermeneutischen Verhältnisse noch ein deutliches Bewusstsein von der Bedeutung des Kulturwandels hinzukommt, dann klärt sich die Komplexität des Problems in überraschender Weise, sowohl in all dem, was man seine „Chronographie“ nennen darf, d.h. die Beschreibung seiner Hauptetappen, wie auch in seiner „Topographie“, mit der man die einzelnen Fragen unterscheidet und an ihrem rechten Ort einsetzt.
Im Hinblick auf die Chronographie hat sich, vor allem seit der Nachwirkung des Holocaust, fast wie offensichtlich eine Abfolge durchgesetzt, die zwar ihren Wahrheitsgehalt hat, mir aber nicht genau zu sein scheint, und die vor allem den Kern des Problems verlagern kann. Ich meine die Ansicht, nach der die Theodizee in der Neuzeit zwei entscheidende turning points hat, zwei Wendepunkte, die einen radikalen Wandel in deren Grundansatz bedingen. Der erste habe sich mit dem Erdbeben von Lissabon 1755 ereignet und der leibnizschen Phase ein Ende gesetzt, die ihren Schwerpunkt im natürlichen Übel hatte; der zweite mit dem Holocaust, der diesen Wandel zu seiner vollen Konsequenz führte und seinen Schwerpunkt im moralisch Schlechten und in der ethischen Verantwortlichkeit fand.
Susan Neiman verändert diese Ansicht schließlich zum Prinzip einer „alternativen Geschichte der Philosophie“48. Und deren Lektüre erweist sich an nicht wenigen Punkten als recht aufschlussreich. Doch eigentlich, so meine ich, gründet sie sich gar nicht auf den wirklich radikalen Wandel, sondern analysiert die mehr oder minder auffallenden Veränderungen im vorher schon eingetretenen Wandel: d.h. in dem grundlegenden, von der Aufklärung bewirkten Wandel, welche mit dem neuen Bewusstsein der Eigengesetzlichkeit ein neues Kulturparadigma schuf und auch die „Theodizee“ in der konkreten Gestalt begründete, die sie heute bietet.
Dass diese Gliederung – Lissabon/Auschwitz – nicht grundlegend ist, beweist die unleugbare Tatsache, dass Leibniz seine Theodizee als eine Antwort auf die Herausforderung Pierre Bayles verfasst, dessen Grundkrise nicht vom natürlichen Übel, sondern vom moralisch Schlechten ausgeht; denn Bayles Grunderfahrung bildet der Mord an seinem Bruder und an seiner Familie, die dadurch zu Opfern religiöser Intoleranz nach der Widerrufung des Edikts von Nantes wurden (und im Hintergrund stand noch der Dreißigjährige Krieg!). In der Tat, und wie schon mehrfach bemängelt, setzt Leibniz selbst die Hauptschwierigkeit nicht beim naturgegebenen, sondern im moralischen Übel an. In dem Sinne verschärft der Holocaust, wenn er das Grauen auf die Spitze treibt, zwar das Problem, aber verändert nicht dessen Struktur.
Dies nicht zu beachten hat zur Folge, dass der gedankliche Kern – wie sowohl Bayles Fideismus als auch die nicht enden wollende theologische Debatte um Auschwitz beweisen – weiter von der alten Voraussetzung des „Warum hat Gott es nicht verhindert?“ bestimmt wird und man so hinter die echte Neuerung zurückfällt, nämlich zu untersuchen, ob diese Frage einen Sinn hat. Dagegen haben Leibniz, trotz all seiner Inkonsequenzen, und vor ihm William King die wirklich weiterführende Tür geöffnet, als sie die Ebene des Problems wechselten und von der Autonomie des Weltlichen ausgingen; denn – es sei wiederholt – genau dies ist es, was ihre Einsicht im Grunde bedeutete, die Analyse der endlichen Konstitution des Geschöpfs zur Grundlage zu nehmen und von ihr aus die überkommene Frage, woher das Übel stamme, zu beantworten. Dass sie sich ihres Beitrags nicht voll haben bewusst sein können, bedeutet einzig, dass es dank der durch ihr Werk eröffneten „Welt“ an uns liegt, „sie besser zu verstehen als sie sich selbst verstanden haben“.
Dennoch kann die zugegebene Unschärfe der üblichen Diagnose keineswegs die Erkenntnis verhindern, dass die neueren Darstellungen auch zutreffende Elemente enthalten und bedeutende Fortschritte ahnen lassen, die genutzt werden sollten. Denn gerade weil die Diskussion trotz allem innerhalb der neuen, sich der weltlichen Autonomie bewussten Kultur abläuft, ist auch vieles von dem, was ich sagen möchte, schon in einem Großteil der gegenwärtigen Reflexion vorhanden. Was nach meiner Ansicht die Korrektur der Diagnose erreichen kann, ist eine Eröffnung des Zugangs zur Nutzung dieser Fortschritte in vollem Umfang, bei ihrer gleichzeitigen richtigen Einordnung in die historische Perspektive.
Dies erscheint mit besonderer Deutlichkeit in der neuen Topographie des Problems, die sich so ergibt. Denn sie gestattet – ja zwingt sogar dazu –, mit aller Klarheit den neuen globalen Rahmen zu umgrenzen und danach die grundlegenden Schritte zu unterscheiden, die durch eine ganz deutliche Abgrenzung der einzelnen Ebenen eine Verwirrung vermeiden und einen gleichrangigen Dialog zwischen Vernunftgründen und Schwierigkeiten einleiten können.
Als globaler Rahmen erscheint vor allem der nicht unmittelbar religiöse, sondern einfache und zutiefst menschliche Charakter der Problematik des Übels, die sich daher in ihrer elementaren Deutlichkeit zeigt: als ein Problem, das als solches den Menschen in seiner bloßen Menschlichkeit angeht. Wir alle, Männer und Frauen, gleich welcher Rasse oder Nationalität, welcher Epoche oder welcher Gegend, welcher Religion, Glaubensform oder Ideologie, sind seinem Biss ausgesetzt: Wir kommen weinend zur Welt, am Ende erwartet uns der Tod, und unterwegs entgeht niemand seinen Schlägen, in der Form von Schuld oder Leiden, begangenem oder erlittenem Unrecht, von Naturkatastrophen oder menschlichem Verbrechen. Es handelt sich hier also um ein gemeinsames Problem; was sich dabei ändert, sind die Antworten, d.h. die vorgebrachten Lösungen und die jeweils eingenommenen Haltungen. Und noch konkreter, was für unseren Diskurs entscheidend wird, ist der Umstand, dass dieses in einer Kultur, welche die Eigengesetzlichkeit der Welt entdeckt hat, dazu veranlasst, es für sich zu behandeln, mit logischem Vorrang gegenüber jeder religiösen oder nicht-religiösen Grundannahme.
Deswegen darf man, wie schon angedeutet, heutzutage auch nicht mehr übersehen, dass die Religion, angesichts der Problematik des Übels, strukturell nur eine Antwort ist. Wenn dieser Wesenszug in einer umfassend vom Religiösen geprägten Kultur auch verborgen bleiben konnte, dann sollte dies die offenbare Tatsache nicht verdecken, dass die religiöse Antwort in einer säkularisierten und unumkehrbar pluralistischen Kultur nur eine unter den verschiedenen Antworten ist. Deshalb kann sie einerseits in ihrer Gültigkeit bzw. Kohärenz untersucht werden und andererseits sich alternativen Antworten oder sogar der Behauptung gegenübersehen, jegliche Antwort sei unmöglich.
Und wir sollten noch konkreter werden. Denn da es nicht nur eine einzige Religion gibt, wird es notwendig sein, von religiösen Antworten im Plural zu reden, wobei wir zugleich bemerken, dass diese gegenüber den nicht-religiösen Antworten keine Welt für sich bilden. Zunächst einmal sind sie ebenso Antworten wie die übrigen, und im Grundsatz sind sie all diesen bei Herausforderungen und Möglichkeiten gleich. Sie können also nicht für sich beanspruchen, a priori anerkannt zu werden, weder aufgrund ihres Alters noch, wie Kant sagte, aus Ehrfurcht vor ihrer Heiligkeit. Doch eben darum haben sie auch, gleich den anderen, ein Recht darauf, in ihren Gründen angehört zu werden, sowie die Pflicht, sich kritisch mit den Einwänden zu befassen. Unter ihnen erscheint die christliche oder, wenn man so will, die biblische Antwort – welche schlechthin als „Theodizee“ bekannt geworden ist – mithin als eine einzelne Antwort innerhalb der Reihe der religiösen Antworten.
Demzufolge muss das Problem der Theodizee, wenn es eine wahrhaft aktuelle Behandlung erfahren möchte, den Schritt verkürzen und eine unmittelbare Auseinandersetzung zwischen dem Übel der Welt und dem Gottesglauben vermeiden, d.h. eine Auseinandersetzung, die nicht kritisch durch eine Betrachtung des Phänomens „Übel“ als universell Vorkommendes und gemeinsame Herausforderung vermittelt wäre. Das erfordert die Eröffnung eines Weges, den ich – in Anlehnung an eine von Paul Ricœur vorgenommene Klassifizierung der Hermeneutik – als „langen Weg“ bezeichnen möchte und der, bei Aufnahme des Problems vom Anfang her, d.h. von seiner Verwurzelung im menschlich Allgemeinen, danach sowohl die guten Gründe wie die besonderen Schwierigkeiten der übernommenen Antwort auf der entsprechenden Ebene anordnen sollte. Um der Reflexion eine Hilfe zu leisten, damit sie die Unterscheidungen aufrecht erhalten und die einzelnen Ebenen beachten kann, habe ich es schon vor einiger Zeit für angemessen gehalten – selbst um den Preis der Einführung von Neologismen –, jedem einzelnen dieser von mir als grundlegend betrachteten drei Schritte einen eigenen Namen zuzuweisen.