Читать книгу Das Neubedenken allen Übels - Andres Torres Queiruga - Страница 13
5. Die notwendige Neufassung der Problematik des Übels 5.1. Anerkennung eines unvermeidlichen hermeneutischen Zirkels
ОглавлениеDie letztere Bemerkung ist wichtig; denn ich bin mir sehr bewusst, dass in allem bisher Gesagten unleugbar eine gewisse Kreisbewegung steckt. Damit die Darstellung klarer wird und die meinen Diskurs anleitende Arbeitshypothese recht durchschaubar bleibt, habe ich so argumentiert, als ob immer schon feststünde, was eigentlich erst eine Schlussfolgerung der ganzen Studie ist: die Unmöglichkeit einer Welt ohne Übel.
Jedoch ist das Ziel des Gedankengangs in diesem einführenden Kapitel nicht der Nachweis dieser Unmöglichkeit, deren Erörterung ausdrücklicher Gegenstand eines der Kernkapitel sein soll. Die erklärte Absicht – was immer der Ausgang der Erörterung sein mag – besteht in einer Betonung der unumgänglichen Notwendigkeit, die Stellung des Problems zu aktualisieren und dessen Grundstruktur offenzulegen. Und zwar so sehr, dass ich zu denken wage, der Nachweis der Notwendigkeit eines Neubedenkens der Problematik in der neuen kulturellen Situation sowie das ganz konsequente Durchhalten der sich daraus ergebenden Folgen könnten wohl den neuartigsten Beitrag dieser Abhandlung darstellen.
Selbst in dem Fall, es sei wiederholt, wo die darin vorgebrachte Lösung sich als nicht haltbar erweisen sollte, kann deren These doch zu einer unerlässlichen Klärung beitragen, die sich natürlich schon in vielen Bearbeitungen des Problems anbahnt. Doch wird dieser, nach meiner Ansicht, durch den Umstand, dass man ihr keinen eigentlichen Namen verleiht, nicht immer die Aufmerksamkeit zuteil, die sie verdient und welche die Zuspitzung der Lage erfordert. Dies soll mein Beharren auf einer zweifachen Notwendigkeit unterstreichen, nämlich (a) der ausdrücklichen Untersuchung der Vor-Urteile, welche hinter vielen Gedankengängen stehen, sowie (b) der Überwindung einer Doppeldeutigkeit im Ansatz auf zwei Ebenen, wo Altes und Neues, unkritische Voraussetzungen samt ihren dazugehörigen Gründen, Religiöses und Philosophisches sich vermengen und überlagern und dadurch jene unauflösliche Verwirrung schaffen, welche die Diskussion nur allzu oft bestimmt.
Dies macht uns einen Punkt von entscheidender Bedeutung für unseren Diskurs begreiflich. Die gegenwärtige Hermeneutik hat nämlich bis zum Überdruss erwiesen, dass unsere Vernunft, bei ihrem stets situierten Charakter, mit dem Auftreten von Vor- Urteilen rechnen muss, welche sie bedingen und zugleich ermöglichen46. Das geschieht unvermeidlich auf allen Gebieten des Wissens; und es geschieht mit umso größerer Intensität dort, wo subjektive Interessen sich stärker bemerkbar machen und dadurch dem Einfluss der Freiheit die Tore weit öffnen. Das Gebiet der Religion erweist sich, zusammen mit dem der Ethik und gewiss noch mehr als dieses, als in der Hinsicht besonders anfällig.
Zum Glück jedoch sind, wenn schon das Vorkommen der Vor-Urteile unvermeidlich wird, deren Auswirkungen keine reine und schlichte Fatalität. Denn den „geschlossenen“ Vor-Urteilen, welche eine Öffnung auf die Vernunftgründe hin verhindern und jegliche Revision unterbinden, stehen die „offenen“ Vor-Urteile gegenüber, die für Kritik empfänglich, für die Dialoggründe aufmerksam und ebenso der Korrektur wie der Bereicherung, der Bestätigung wie einer Widerlegung zugänglich sind. Dies zu erreichen ist nicht leicht, und eigentlich bildet diese stets weitere Öffnung auf die Vernunftgründe und die größere Bereitschaft zum Wandel bzw. zur Korrektur die nicht zu vollendende Aufgabe der endlichen Vernunft. Aber, nochmals, selbst wenn eine Vollendung nicht erreichbar sein wird, so ist doch auch eine Bestimmung nicht die totale Niederlage.
Das bisher Gesagte lässt wohl überdeutlich werden, dass die Abfassung dieses Buches nach zwei entscheidenden Voraussetzungen erfolgt: (a), dass die Existenz einer Welt ohne Übel unmöglich ist, sowie (b), dass dies ein Neubedenken der Theodizee gestattet, das uns dazu befähigt, die innere Kohärenz des Gottesglaubens zu belegen und in einen kritischen Dialog um die Gründe einzutreten, auf die er sich abstützt. Doch damit die Bedeutung dieser Tatsachen in ihrem ganzen Umfang auch verstanden wird, sind zwei Bemerkungen angebracht.
Die erste lautet, dass dieses anfängliche Vorhandensein von Voraussetzungen oder Vor-Urteilen eine allgemeine, weil unvermeidliche Erscheinung ist. Es geht also nicht um etwas, das einzig meine These betrifft, noch allgemein um etwas, das uns von den Thesen abhebt, die angesichts des Übels den religiösen Glauben beibehalten wollen. Denn sie betrifft gleichermaßen alle anderen Thesen, auch die nicht-religiösen bzw. agnostischen. Wie Karl Jaspers von den Grenzsituationen sagt, bestehen in Bezug auf die Tatsache des Vorkommens der Vor-Urteile weder Ausnahmen noch Privilegien; die Unterschiede erscheinen erst in der Haltung, die man zu ihnen einnimmt: offen, wie gesagt, für Dialog und Kritik, oder aber verschlossen in dogmatischer Starrheit.
Nötig ist eine Unterscheidung in der Zeitenfolge: Das Vor-Urteil, in seinem neutralen Sinne genommen, wie ich es hier mache (deshalb bin ich bestrebt, es fast immer mit Bindestrich zu schreiben), meint nämlich nur einen Ist-Zustand, keinen Rechtsgrund. D. h., es hat einzig den zeitlichen Vorrang eines tatsächlichen Ausgangspunktes, nicht den logischen Vorrang eines rationalen Prinzips, das rechtliche Folgerungen zuließe. Darum erfordert es Untersuchung und Erörterung, so dass es erst am Ende angenommen, abgeändert oder abgelehnt werden und somit in ein berechtigtes Urteil bzw. in eine kritisch anerkannte Schlussfolgerung umgewandelt werden kann. Das aber hindert nicht, dass es seinerseits wieder zu einem Vor-Urteil für einen weiterführenden Gedankengang werden kann, falls das Problem eine weitere Klärung oder Ergänzung verlangt.
Es geschieht aber – zweite Bemerkung –, dass dies im Fall der religiösen Thematik leichter verdeckt bleiben mag. Denn unbestreitbar ergibt sich, dass das Problem, dank seiner Einbettung in die Ursprünge der Kultur selbst, wie fast alle wirklich entscheidenden Probleme innerhalb des religiösen Bewusstseins entstanden ist. Demnach ist es, wie ich unermüdlich wiederholen möchte, in Formulierungen auf uns gekommen, die von kulturellen Vor-Urteilen vorsäkularer Art geprägt sind. Andererseits ist es offenbar so, dass der gläubige Mensch angesichts des Übels seine Glaubenssätze nicht aufgibt, sondern es von ihnen her deutet und angeht. Das aber ist in der Spontaneität des gewohnten Lebens, das ja im Einklang mit seinen Überzeugungen stehen will, durchaus normal und berechtigt. Und genau hier entsteht das Problem, weil das Besondere einer reflektierten und methodischen Behandlung gerade darin liegt, den spontanen Ablauf zu bremsen, um ihn dann kritisch zu untersuchen und festzustellen, ob die Grundlagen oder die Gründe, auf die er sich stützt, auch gültig sind oder nicht.
Da jedoch beide Ebenen nicht sorgfältig unterschieden wurden, hat dies bewirkt, dass sich der Eindruck verallgemeinern konnte, nach dem die religiöse Sicht eine logische Voraussetzung sei, von welcher der Gläubige nicht allein im Alltag ausgeht, sondern auch dann, wenn das Problem auf der systematischen und grundsätzlichen Ebene angegangen wird. In der Weise schwindet das Bewusstsein davon, dass auf dieser zweiten Ebene, wo ja der philosophisch-theologische Dialog stattfindet, die religiöse Überzeugung entweder nur als rein zeitliche Voraussetzung dienen mag, die erst in dem Maße Geltung erlangen kann, wie ihre Gründe sie nach Dialog und Erörterung kritisch gelten lassen, oder als Schlussfolgerung, deren Geltung man beweisen oder verteidigen möchte, weil man zu ihr gelangt ist, nachdem man die Gründe, auf die sie sich beruft, und die dagegen erhobenen Einwände untersucht hat; d.h. weil man sie nach kritischer Prüfung des Problems als korrekteste und stimmigste Antwort betrachtet.
Man beachte dabei, wie dies genau auch bei jemandem geschieht, der spontan von einer atheistischen Sicht ausgeht, darum einen Dialog führt bzw. darin bestätigt wird, sobald er die Frage in kritischer und systematischer Weise untersucht hat. Zum Glück konnte nicht allein die Hermeneutik die innere Struktur dieses Vorgangs klären. Denn auch die Phänomenologie hat uns zu verstehen gelehrt, dass die „Reduktion“ bzw. Epoché der Glaubensinhalte und spontanen Annahmen ein notwendiger Vorgang ist, um damit zu verifizieren, ob diese wirklich einer ursprünglichen Evidenz entsprechen, welche sie begründet und rechtfertigt. Auf diese Weise kann, was man zunächst als etwas erfahren mag, das man ohne vorherige Kritik für gesichert und wahr hält, sich dank einem Prozess der Reflexion in eine begründete und verifizierte Schlussfolgerung verwandeln (bzw., im gegenteiligen Fall, verändert und verworfen werden)47.