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1. Der Dialog Leibniz – Bayle und die Entstehung der „Theodizee“

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Leibniz – und vielleicht auch Bayle – besser zu verstehen als er selbst es tat, stellt, wie gesagt, die Grundabsicht dieses Kapitels dar. Denn es geht hier nicht um Geschichte im engeren Sinne, sondern darum, die Bedeutung seines Beitrags zu klären, um den wahren Sinn heutiger Theodizee zu begreifen.

Das ist dank ihm möglich, weil im innersten Kern seines Vorhabens schon das Grundprinzip des Wandels wirksam ist und, wie ich denke, das der eigentlichen Problemstellung in unserer Kultur. Es wird daher nötig, sich ihm anzunähern, weil dieser Kern dem allgemeinen Bewusstsein allzu stark verborgen geblieben ist, so dass es ihm weder gelingen konnte, seine wahrhafte Logik spüren zu lassen, noch die Fruchtbarkeit seiner Neuheit zu entfalten. Dieser blieb sogar ihm selbst verborgen (oder wurde ihm gar nicht recht bewusst); denn Leibniz überdeckte ihn – und erstickte ihn zuweilen auch – mit nachrangigen Motiven, die ihn daran hinderten, mit aller Eindeutigkeit die Macht der überkommenen Voraussetzungen zu überwinden. Demzufolge ist dieser Kern vor allem der üblichen Historiographie verborgen geblieben, die ihre Kritik auf jene Motive konzentrierte, ohne dabei zu bemerken, was sich in seinem Werk an wirklich Kreativem ankündigte.

Um nun dieses dichte historische Dunkel aufzuhellen, ist wohl nichts besser geeignet, als der Entstehung der Theodizee selbst in dem intensiven Dialog beizuwohnen, den er nach Pierre Bayles leidenschaftlicher Anklage begann. Denn dort reiften die Ideen heran, die er seit seiner Jugend in sich trug. Angekündigt hatte er sie schon „um das Jahr 1673“ in seiner Confessio philosophi, dann ausgebaut in umfänglicher Lektüre und intensiven Gesprächen, wie er selbst in der Vorrede zu seinen Essais de Théodicée bekennt2.

Exkurs: William Kings Entwurf

Wie bereits angedeutet, müssten wir – und ich halte das aus schlichter historischer Gerechtigkeit für dringlich – etwas Entsprechendes mit William Kings Werk De origine mali (1702)3 machen, der darin einen ganz ähnlichen Ansatz begründet. Auch er besteht – und ich würde zu behaupten wagen, dass er dies, dank seiner intensiven Auseinandersetzung mit der englischen Empirismus-Tradition, auch kohärenter durchführt, weil weniger rationalistisch – auf der konstitutiven Begrenztheit des Geschöpfs. Arthur O. Lovejoy sagte einmal über dieses Werk: „Wenn man dessen direkten wie indirekten Einfluss betrachtet, dann ist es unter den Theodizeen des 18. Jahrhunderts vielleicht am einflussreichsten“4. Doch wurde dieser Beitrag von Leibniz’ erdrückender Wirkung überdeckt, wobei Leibniz „dieses schöne Werk“ aber ausführlich würdigt, dessen „vorzügliche Gedanken“ er auch verwerten möchte und dem er einen umfänglichen Anhang widmet5. Er sieht hier eine grundlegende Übereinstimmung, obwohl er sie „auf die Hälfte des Werkes“ eingrenzt, die in der Tat die bedeutsamere sei, weil sie sich auf die konstitutive Begrenztheit als Wurzel des Übels bezieht, und gibt danach zu, beim moralisch Schlechten von ihm abzuweichen6. Leider führt ihn dies dazu, den Großteil seiner Darlegungen auf wortreiche Erörterungen über die Freiheit zu verwenden, welche die Aufmerksamkeit von dem wirklich neuartigen Problem ablenken, das uns hier mehr interessiert.

John Hick hat ihm verhältnismäßig viel Aufmerksamkeit gewidmet. Dies hätte er nutzen können, um dadurch seine eigene „irenäische Theodizee“ zu bestärken und noch kritisch zu verfeinern. Aber sowohl er wie Lovejoy haben, aus Gründen der Systematik, Kings echten Beitrag verwischt; Lovejoy wegen seines Bestrebens, vor allem die Allgegenwart der Prinzipien Vervollkommnung und Fülle zu erklären. Bei Hick hat er eine echte verlorene Gelegenheit vermutet, zumal der den wahren und originellen Kern in Kings Entwurf gar nicht erfasst (der dessen „irenäischer“ Theodizee recht nahe kommt) und eine Fehldiagnose vornimmt, wenn er behauptet, dass seine Ansichten „die augustinischthomistische Theodizee in ihrer voll entwickelten Form darstellen“7.

Selbst wenn ich nunmehr das Risiko eingehe, zu dieser Ungerechtigkeit beizutragen, so führt doch jedenfalls die Geschichte des Problems dazu, dass es sich lohnt, sich auf Leibniz’ Werk auszurichten, zumal da das Problem in der langen Auseinandersetzung mit Pierre Bayle sein schärfstes und bedeutsamstes Profil erkennen lässt. Die unvermeidliche Verwirrung, welche stets die epochalen Veränderungen begleitet, erhält hier ein besonders helles Licht aus der Diskussion zwischen den wichtigsten Protagonisten. Zwar erscheinen die Begriffe oft wirr und unscharf, doch zeigen sie lebhaft die Krise der Vergangenheit und das unaufhaltsame Aufkeimen des Neuen.

Hier treffen sich zwei Denker ganz unterschiedlicher Ausrichtung, die aber gerade deshalb eine umfassende Ansicht vom Übergang zur neuen Lage ermöglichen. Die Vielfalt der Argumente wie auch die dialektische und spekulative Fähigkeit der beiden bieten zudem ein einzigartiges Schauspiel. Recht besehen, stellt ihre Diskussion ein echtes Laboratorium dar, in dem das Problem mit all seinen grundlegenden Möglichkeiten untersucht wird. Von diesen wird dann in hohem Maße die nachfolgende Reflexion zehren, und auf sie wird jegliche Betrachtung eingehen müssen, die aus der Geschichte lernen möchte, um zu versuchen, sie verantwortlich und kreativ fortzusetzen.

Der Umstand, dass Leibniz’ Werk als Antwort auf das von Bayle entsteht8, bezeichnet eine Einheit in dialektischem Übergang. Und ich denke, dass sich vom einen zum anderen ein radikaler Fortschritt vollzieht, wenn auch nicht einfach linear, sondern mit tiefen Überlagerungen, welche die Perspektiven verfeinern, ergänzen und bereichern. Man darf wohl sagen, dass Bayle mit seiner eher „existentiellen“ Ausrichtung vor allem die Unmöglichkeit reflektiert, in der durch die Reformation in Europa geschaffenen neuen Lage der Religionen das Altgewohnte beizubehalten. Leibniz, ebenfalls reformiert, aber eher „Metaphysiker“, antwortet auf diese Situation, indem er die Mittel der neuen Kultur einsetzt. Aus einer Verbindung beider Bereiche wird es möglich und notwendig, den gegenwärtigen Stand der Frage genau zu bestimmen und sich ihr mit neu gewonnener Klarheit zuzuwenden.

Das Neubedenken allen Übels

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