Читать книгу Das Neubedenken allen Übels - Andres Torres Queiruga - Страница 33
3.1 Die Endlichkeit als letzte und allgemeine Wurzel
ОглавлениеZunächst sollte eines klar sein: Wenn die Erscheinung des Übels von einer besonderen Eigenschaft dieser Welt abhinge, dann ließe sich immer noch an die Möglichkeit einer ganz anderen Welt ohne diese Eigenschaft und deshalb auch ohne Übel denken. Die eventuelle Realisierung dieser Möglichkeit bliebe darum der weiteren Forschung sowie der empirischen Bestätigung überlassen, und die Untersuchung allen Übels könnte jedenfalls nicht darauf verzichten. Entscheidend wird es also sein, darauf zu achten, ob unser Denkvermögen in der Lage ist, eine Eigenschaft bzw. eine Bedingung zu ermitteln, die nicht auf die faktische Besonderheit unserer Welt eingeengt bleibt, sondern bei jeder möglichen Welt deren Konstitution selbst beträfe.
Dies ist eine wegen ihres Anspruchs auf uneingeschränkte Allgemeingeltung so scharfsinnige und äußerst schwierige Frage, wie das die zahllosen Diskussionen belegen. Doch braucht sie deshalb nicht verzweifelt zu sein18. In erster Linie, weil von vornherein schon Tiefe, Vielfalt und Allgemeinheit des Übels, sowie dessen ununterbrochenes Vorhandensein durch die Zeit hindurch, einen Ursprung in der Besonderheit auszuschließen scheinen und eher an etwas denken lassen, das die Weltwirklichkeit als solche angeht.
Tatsächlich ist es von Belang, sich daran zu erinnern, wie es seit den frühesten Phasen des Kulturwandels immer schon jemanden gab, der sagen konnte, dass dieser universelle Ursprung wirklich besteht, welcher sowohl jeder einzelnen Realität der Welt wie der Welt insgesamt innewohnt. Wie im vorigen Kapitel bereits erörtert, vermochten es William King und G. W. Leibniz, auf zwar unterschiedliche Weise, aber in grundlegender Übereinstimmung – die umso bedeutsamer ist, weil sie sich ohne wechselseitige Beeinflussung ergab19 –, dieser Überzeugung Stimme und Inhalt zu verleihen, als sie diesen Ursprung in der Endlichkeit ansetzten. William King gibt ihr Ausdruck, wenn er darauf verweist, dass die Welt – jegliche Welt –, „zumal sie dem Nichts entstammt, mit Notwendigkeit unvollkommen“ ist und daher jedes physische wie moralische Übel in ihr „unvermeidbar“ sei20. Leibniz führte sie in die philosophische Öffentlichkeit ein, als er von „der ursprünglichen Unvollkommenheit des Geschöpfs“ sprach. D. h., bewusst säkular gesagt, beide verwiesen auf Begrenztheit und Endlichkeit der weltlichen Gegebenheiten als solcher.
Obwohl sich diese Überzeugung nicht in ihrer vollen Konsequenz durchsetzen konnte, stellte sie doch lange noch keine Ausnahme oder kulturelle Seltenheit dar. Vielmehr entsprach sie der neu entdeckten Ansicht von Beschaffenheit und Eigengesetzlichkeit der Welt. Demzufolge wurde es, wie ein guter Kenner bemerkt, auch wenn es hier um das im Zeichen des „Optimismus“ stehende und von der Güte des Schöpfers überzeugte 18. Jahrhundert geht, schon nötig, anzuerkennen, dass die Wirklichkeit des Übels von „Notwendigkeiten in der Natur der Dinge“21 bedingt würde. Und es dürfte nicht schwerfallen, so manche Spuren eines gewissen Bewusstseins davon innerhalb der früheren Tradition zu entdecken, da der menschliche Geist diese Notwendigkeiten nie ganz übersehen konnte. Das Neue und Originelle an der späteren Etappe besteht nun darin, dass ihre Wahrnehmung – auch ohne Ausgrenzung der theologischen Einflüsse – nunmehr zur Kategorie eines allgemeinen Prinzips erhoben und in eine methodische Grundlage der Betrachtung verwandelt erscheint.
Diese merkwürdige Dialektik aus einer gewissen Grundkontinuität sowie einer entschiedenen kulturellen Differenz erscheint mit überraschender Klarheit bereits in einer Textpassage der Summa theologica des Thomas von Aquin. Dort führt er in der Form eines Einwandes – im videtur quod non – folgendes aus:
„Was sich mit wenigen Prinzipien erklären läßt, geschieht nicht durch viele davon. Nun scheint es, daß alles in der Welt Vorkommende sich mit anderen Prinzipien erklären läßt, wenn man annimmt, daß es Gott nicht gebe. Denn die natürlichen Dinge haben die Natur zum Prinzip; und die, welche einer Absicht entsprechen, haben den menschlichen Verstand oder Willen zum Prinzip.“22
Unbestreitbar ergibt sich hier – übrigens in einem logischen Einklang mit dem „thomasischen Realismus“ – das Bewusstsein einer Autonomie des Weltlichen, mit einer gewissen fortgeschrittenen Verlockung des etsi Deus non daretur. Aber die Antwort zeigt, dass Thomas ihr kein größeres Interesse widmet, ohne das dort Nahegelegte zu leugnen. Dies erklärt sich zu einem guten Teil daraus, dass es ihm um den Beweis von Gottes Existenz geht und er deshalb hervorhebt, wie die Betriebsamkeit der Welt in beiden Fällen trotz allem auf eine „erste Ursache“ verweist. Doch ganz offensichtlich fehlt ihm das deutliche Bewusstsein des kulturellen Wandels, den erst die Erfassung der weltlichen Eigengesetzlichkeit auslöste.)
Jedenfalls ist gewiss, dass dieses neue Bewusstsein die Möglichkeit eines gangbaren Weges eröffnet, um unsere Frage zu beantworten. Denn wenn es von dem aus, was in dieser Welt geschieht, zu zeigen gelingt, dass die Wurzel des Übels in der Endlichkeit steckt, dann wird es sich, zumal jegliche Welt, die es geben mag, mit Notwendigkeit endlich sein wird23, als unmöglich erweisen, eine Welt ohne Übel anzunehmen. In jeder Welt, die man sich denken möchte, werden zwar die sie konstituierenden Elemente und die Art ihrer Anordnung verschieden sein; doch in ihrer Begrenztheit werden sie ebenfalls dem Mangel und dem gegenseitigen Ausschluss, dem Zusammenprall und der Verwerfung, dem Versagen und dem Leiden ausgesetzt sein. Diese werden in ihrer Form und ihrer Eigenart sicherlich anders sein als wir sie kennen, aber sie werden gleichwohl das Merkmal dessen tragen, was „nicht sein sollte“, d.h. sie werden auf ihre Weise auch „schlecht“ sein.
Natürlich steckt die Herausforderung in dem Nachweis, dass diese Ansicht auch richtig ist. Während meiner Darlegungen habe ich in keinem Augenblick meine Überzeugung verheimlicht, dass eine Welt ohne Übel unmöglich ist. Eigentlich habe ich auch schon die Gründe angegeben, auf die ich sie stütze. Doch obwohl manche Aussagen den gegenteiligen Eindruck vermitteln könnten, möchte ich gleich klarstellen, dass allem bisher Gesagten streng genommen nur hypothetischer Charakter zukommen soll. Deswegen mag es nunmehr angemessen sein, selbst um den Preis unvermeidlicher Wiederholungen, daran zu denken, es in einer unmittelbareren und positiven Weise zu „zeigen“.