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3.3 Die Macht des Schlechten: die unvermeidliche Konfliktträchtigkeit des Endlichen

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Diese Art der Überlegung ist unerlässlich, wenn man bei einem so komplexen Problem methodisch vorankommen möchte. Doch könnte der Eindruck entstehen, dass man sich in der abstrakten Welt der reinen Möglichkeit bewegt, die der konkreten und äußerst harten Wirklichkeit des echten Übels fremd bleibt. Gibt das Gesagte also wirklich eine Antwort auf die Frage, nach der das Schlechte die menschliche Existenz ständig beherrscht?

Auf dieser Frage zu bestehen, bedeutet keinen Verstoß gegen die Wahrheit des bisher Gesagten, sondern mag helfen, es zu ergänzen, wenn man der metaphysischen Abstraktion nicht übermäßig nachgibt und dazu einlädt, sich näher mit der konkreten Frage zu befassen, welche die Erfahrung des Übels nahelegt. Unsere Betrachtung hat bisher den statischen Aspekt hervorgehoben, der an dem Beispiel des Quadrat-Kreises auch recht deutlich wird. Um diese Betrachtung noch zu erweitern, sollte der dynamische Aspekt nun stärker herausgestellt werden. Denn die Wirklichkeit, von der unsere Überlegungen ausgehen, ist keine ruhig in sich ruhende Abstraktion, sondern kosmisches Geschehen und geschichtliches Werden, d.h. ein dramatisches Entstehen in einem stets erneuerten Anlauf zum Sein. Dies ist etwas so Innerliches und Grundlegendes, dass es der Richtung nach ebenfalls nicht nur auf einen Wesenszug der Endlichkeit dieser Welt verweist, sondern auf einen der Endlichkeit als solcher.

In der Tat verleiht das in unserer Kultur immer stärkere Bewusstsein vom dynamischen Charakter der Wirklichkeit dieser Auffassung eine große philosophische Tiefe. In der Frühphase erscheint sie schon ganz deutlich bei Spinoza, der ja nicht nur sagt, dass jede Bestimmung auch eine Negation sei, sondern ebenso das Wesen des Wirklichen im conatus essendi30 erblickt, in dem Bestreben jedes einzelnen Geschöpfes, sich im Dasein zu erhalten und zu behaupten. Später haben die Vorstellungen von Geschichte und Evolution diese Ansicht unumkehrbar werden lassen, d.h. die Wirklichkeit erscheint uns dynamisch im Fortgang begriffen, und sie ist erst, insofern sie wird und entsteht31. Das Statische bedeutet Lähmung und Tod, verhindert Fortschreiten und Wachsen, indem es das ausschließt, was wir als Größtes und Höchstes begreifen: Leben und Bewusstsein.

Deswegen ist Verwirklichung für das Endliche ein Werden, so dass die Grenze zugleich auch Schranke und Hindernis bildet; d.h., sie gestattet zwar die Verwirklichung, aber ist ebenso noch eine Quelle von Unzufriedenheit und Konflikt. Gibt es kein Werden, dann auch keine Verwirklichung, und vor allem kein Leben; was aber – außerhalb eines starken Pessimismus bzw. einer polemisch gesinnten Rhetorik – gewiss ein schlimmes Übel wäre: Denn es würde die Tollwut beseitigen, indem es den Hund umbrächte und mit den „Übeln“ gleich die höchste Wirklichkeit zunichtemachte32.

Man darf sogar behaupten, dass sich in dieser Sicht selbst die „Negation“, welche die Endlichkeit voraussetzt, in gewisser Weise zur „Privation“ wandelt33. Dies in folgendem Sinne: Da die Stellung im Dasein an sich schon die Neigung zur Fülle voraussetzt, erhält die Intensitätsgrenze ein gewisses Ansehen von Mangel, Ungenügen und in bestimmtem Maße sogar von Widerspruch34. Deshalb steckt auch ein Körnchen Wahrheit in dem, was Leibniz – uneigentlich – „metaphysisches Übel“ nannte, insofern der Zusammenprall mit der Endlichkeit der Grund dafür ist, dass letztlich auch echtes und spürbares Übel entstehen kann, d.h. starkes körperliches Leiden oder wirkliches moralisches Elend35.

All dieses erscheint mit größter Macht in der am weitesten gediehenen Verwirklichung des Endlichen, die wir zu erkennen vermögen: im Menschen. Und das bestärkt die Berechtigung der philosophischen These, welche in dieser Hinwendung gegen die Grenze einen konstitutiven Zug der Endlichkeit sieht. Denn als „Speerspitze der Schöpfung“ (Teilhard) erlebt sich der Einzelne selbst, in seiner innersten Ursprünglichkeit, immer als unbefriedigte Sehnsucht nach dem Sein in Fülle, als schmerzliches Missverhältnis zwischen seiner endlichen Wirklichkeit und seinem Streben nach dem Unendlichen. Es ist dies, was Blondel als konstitutive Dialektik von volonté voulante und volonté voulue erkennen konnte36. Pascal seinerseits hatte in einem großartigen Satz geschrieben: L’homme dépasse infiniment l’homme („Der Mensch übertrifft den Menschen unendlich“)37. Er hat dabei nichts erfunden, sondern nur eine längst bekannte Intuition aufgenommen, wie sie stark im Platonismus, später in der augustinischen Schule und sogar noch im Thomismus hervortritt. Als „endliche Unendlichkeit“ kann Bernard Welte38 daher die Intuition der Unendlichkeit in der kreatürlichen Dynamik bei Thomas bezeichnen. Diese Intuition hat dann der transzendentale Thomismus, vor allem seit Joseph Maréchal39, in fruchtbarer Weise sowohl im Hinblick auf das Erkennen wie den Willen fortgeführt. Auch Paul Ricœurs zitierter Satz von der „Traurigkeit des Endlichen“ war bereits darauf gerichtet.

Dass dies mit größter Deutlichkeit im Menschen hervortritt, lässt nur offensichtlich werden, was auf seine Weise ebenso in jedem einzelnen und in allen endlichen Dingen geschieht. Ein Blick auf die Welt, der nur ein klein wenig Ahnung von der Dynamik der modernen Physik hat und vor allem von der evolutiven Auffassung des Wirklichen, kann sofort erkennen, dass jedes endliche Wesen von der dramatischen Spannung zwischen dem, was es ist, und dem, was es zu sein bestrebt ist, erfasst wird40.

All dies aber, es sei wiederholt, ist nicht das Übel. Doch indem es letztlich auf die Endlichkeit verweist, legt es den Gedanken nahe, dass in dieser auch dessen grundlegende Voraussetzung liegt, die unumgängliche Bedingung zu dessen Möglichkeit. So manche Menschenwesen, die in ihrem conatus essendi, in ihrem Streben nach Verwirklichung, ständig und unvermeidlich an Grenzen stoßen, nach innen wie nach außen, sind darum solche, bei denen sämtliche Türen und Fenster für die innere Unzufriedenheit, den Streit mit den anderen und den Widerspruch mit sich selbst offen stehen. D. h., sie erleben zwar die Freude des Seins und sogar die des noch mehr Seins, vermögen aber die Trauer um das nicht Erreichte, den Zusammenprall mit dem, was sich ihnen entgegenstellt, und den Schaden für die anderen nicht auszuschließen.

Es kann daher nicht verwundern, wenn immer mehr Denker die Erscheinung des Übels in allen seinen Formen als ein unvermeidliches Kennzeichen einer Welt – jeglicher Welt – aus endlichen und begrenzten Wesen wahrnehmen. Besonderes Interesse erhält dies innerhalb der aristotelischen und thomistischen Tradition, etwa bei Franz Brentano41 und Antonin-Gilbert Sertillanges42, um zwei recht bedeutsame Denker zu nennen. Und vor allem erscheint das mit unwiderstehlicher Kraft in den Denkrichtungen, die für das Historische und Evolutive empfänglich sind. D. h., auf seine Weise deutlich bei den Idealisten, und schon voll definiert bei Denkern wie Henri Bergson und Pierre Teilhard de Chardin, mit einem Höhepunkt, wie bekannt, in der Prozessphilosophie, so dass Alfred North Whitehead nachdrücklich betonen kann, dass „schlecht“ nicht nur das Negative und Destruktive sei, sondern auch das „Triviale“, alles, was die dynamische und auf Vollendung gerichtete Verwirklichung des Seins verhindert43.

Selbst wenn es einen Vorgriff im Ablauf unseres Diskurses bedeutet, so ist es doch der Mühe wert, zu bemerken, wie man dies auch richtig spürt, sobald die Theologie aus einer dynamischen Sicht der Schöpfung heraus ansetzt. Denn dann vermag sie die Unvermeidbarkeit des Übels mit besonderer Deutlichkeit zu erkennen, in vollem Einklang mit dem hier eben Gesagten. Sie erkennt das für die physische Wirklichkeit:

„Lassen wir die Schöpfung zu, dann musste diese eine aus endlichen Wesen sein, und darum auch unvollkommenen. Es wäre also ein Widerspruch, wollte man behaupten, erschaffene Wesen mit absoluter Vollkommenheit seien möglich. Mithin sind auch die Begriffe der unendlichen Vollkommenheit und des grundlegenden Selbst-Ungenügens (der gesamten Kreatur) miteinander unvereinbar.“44

Sowie ebenso für die Freiheit:

„Setzt man die Erschaffung von Wesen mit geistiger Intelligenz voraus, so mussten diese zur Freiheit befähigt sein. Und zu deren Scheitern – das zweifelsohne die tiefste Wurzel des Leidens ist.“45

In der Tat fügt sich in diese Sichtweise schon die gesamte neue Argumentationslinie ein, die John Hick mit „irenäischer Theodizee“ benannt hatte, weil sie, wenn auch nicht ausschließlich, ihre Wurzeln im Denken des heiligen Irenäus finden kann. Im Gegensatz zur „augustinischen“, welche das Übel aus moralischen Erwägungen erklären möchte (als Sünde bzw. Sühne für diese), geht diese auf die strukturelle Notwendigkeit in der Anlage der endlichen Wirklichkeit ein. Wie noch weiter unten zu sagen bleibt, führt das Fehlen einer hinreichenden Unterscheidung bei den Ebenen des Diskurses zwar zu einigen Inkonsequenzen, doch die Grundachse seiner Argumentation deutet auf eine Übereinstimmung mit dem hier Dargelegten hin46.

Angebracht ist dennoch eine letzte Bemerkung. Denn trotz mehrfacher Hinweise könnte sich der Eindruck verfestigen, dass unsere Argumentation zurückgewichen und kaum merklich auf den im vorigen Abschnitt analysierten Passus abgeglitten ist; d.h., die Beispiele würden, wenn sie konkret werden, allein die Unmöglichkeit für diese Welt belegen. Es ist daher nötig, herauszustellen, dass die einzelnen Argumente sich nicht bloß auf die Vielfalt ihrer konkreten Entsprechungen abstützen sollen, sondern dass sie stets versuchen, auf das gemeinsame und transzendente Element der Endlichkeit zu verweisen. Sie beanspruchen dabei keine absolute Konstringenz. Doch soweit sie gültig sind, so sind sie dies für jede mögliche Welt; denn wenn es eine Welt ist, dann ist sie endlich (wobei wir die Endlichkeit, wohlgemerkt, in ihrem streng philosophischen Sinne nehmen, der alle „unendlichen Übel“ einschließt, von denen bei Hegel die Rede ist).

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