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2.2.1 Der Traum der Phantasie

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Die Phantasie gibt die zustimmende Antwort als offenkundig aus: Unsere Welt könnte ohne Übel sein. Das behauptet und wiederholt eine lange und nachhaltige Tradition, die auch in der kulturellen Ideenwelt tief verwurzelt ist. Ihr zufolge bleibt das Paradies auf Erden möglich, und es hat sogar schon bestanden oder wird eines Tages bestehen. Dies bestätigen noch stets die religiösen Mythen, angefangen bei der Bibel, und es versprechen uns die utopischen Träume. Zudem treibt diese Art der Überzeugung noch weitreichende Wurzeln in unser tiefstes Seelenleben. Nicht nur, dass man uns diese von Kindesbeinen an durch Märchen und Bilder tausendfach eingeflüstert hat, sondern seit Freud wissen wir außerdem recht gut, dass sie auch ein beständiges Feedback in den Träumen kindlicher Allmacht erhält, die sich einer Heilung durch das gestrenge Prinzip Wirklichkeit so sehr widersetzen. Vielleicht hat niemand außer ihm, dem feinfühligen Erforscher der tiefen Abgründe in der menschlichen Seele, so stark die Notwendigkeit betont, die vom Realitätsprinzip gezogenen Grenzen zu beachten (obwohl es nicht nötig ist, seinen besonderen Pessimismus zu übernehmen, und noch weniger, das Wirkliche auf das von der psychologischen Wissenschaft Erfahrbare zu beschränken).

In der Erfahrung des Schlechten selbst kommt sogar etwas sehr Tiefes vor, das in die gleiche Richtung weist: Das Übel ist zwar da, doch besteht es immer in Form eines Gegensatzes, zumal da es als das erscheint, was nicht sein oder bestehen sollte und was wir darum beseitigen möchten. Der logische Kurzschluss liegt dann auf der Hand: Es sollte nicht sein, also hat es auch nicht sein können. In der Weise entsteht eine mythenerzeugende Kraft, die dann in konkreten Mythen verdichtet am Ende durch diese verstärkt wird und zu einem weiteren Schritt führt: Tatsächlich war es auch gar nicht; denn am Anfang, in illo tempore, bestand das Paradies. Schließlich kann die Phantasie sogar die utopische Sehnsucht heranziehen und die religiöse Hoffnung nutzen, indem sie in die Geschichte einfügt, was darin eigentlich nur ein eschatologisches Versprechen ist6, um danach zu schlussfolgern: In der Tat wird es kein Übel mehr geben; denn es kommt das Zeitalter der vollendeten Gesellschaft, wenn schließlich das Paradies auf Erden geschaffen ist: „morgens jagen, nachmittags angeln…“, wie das herrliche Ideal des jungen Marx lautete.

Es ist schon recht begreiflich, dass diese Vorstellung auch weiterhin die Tiefen der kollektiven Phantasiewelt besetzt hält und in fast allen Erörterungen der Problematik ganz unwillkürlich gegenwärtig bleibt. Für gewöhnlich kommt sie zum Vorschein, wenn man beobachtet, wie bei jeglicher Infragestellung ihrer „Evidenz“ mit der Lebhaftigkeit und der Sicherheit des Offensichtlichen gegenreagiert wird. Und natürlich fällt es nicht schwer, sie in so manchem Gedankengang zu entdecken, wo sie unkritisch versteckt ist.

Wohlgemerkt, rein methodisch und in diesem Stadium des Diskurses wollen diese Überlegungen nicht gleich behaupten, jene Annahme sei falsch. Fürs erste möchten sie allein nachweisen, dass es sich hier um ein Vor-Urteil, um ein vorausgehendes Urteil handelt, das als solches überprüft werden muss, bevor man es gelten lässt oder nicht. Es kann wahr, falsch oder sogar etwas zwischen beiden sein, wenn es ein Stück Wahrheit einschließt, das dann möglicherweise durch reflektierte Mediation zu ermitteln bliebe. Gegenwärtig, wo das Fieber eines eng gefassten Rationalismus vorüber ist, sind wir uns des Sinnreichtums bewusst, der in den Mythen steckt, vor allem in denen über Anfang und Ende (sowie darunter über das Übel). Bereits klassisch sind Paul Ricœurs Überlegungen zu dem Thema7. Er macht auf zwei wichtige Dinge aufmerksam: Er unterstreicht die Fruchtbarkeit der Mythen, solange eine angemessene philosophische Mediation bei ihnen vorgenommen wird; andererseits warnt er vor der Gefahr, eine solche Mediation zu versäumen, wenn man die Mythen nur wörtlich nimmt.

Es geht also darum, zu erkennen, ob das bloß Vorstellbare auch denkbar werden kann8. D. h., zu untersuchen, ob man, nachdem die Konstrukte der Phantasie begrifflich bearbeitet wurden, auch weiter behaupten darf, dass die Welt ohne Übel funktionieren könnte. Es mag nämlich geschehen, dass die Welt, wie sie sich darstellt, notwendigerweise zwar das Vorkommen des Schlechten impliziert, dass es aber nicht unmöglich wäre, sie sich auch mit anderen Merkmalen und derart angelegt zu denken, dass sie stets und unter allen Umständen vollkommen funktionieren würde, ohne Zusammenstöße oder Reibungen, ohne Leiden oder Verbrechen.

Das Neubedenken allen Übels

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