Читать книгу Verfassungsgeschichte Europas - Anita Prettenthaler-Ziegerhofer - Страница 14
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Darunter versteht man die Schaffung eines Gesetzeswerkes, mit dem Ziel der grundsätzlich erschöpfend gedachten Zusammenfassung des gesamten Stoffes eines oder mehrerer Rechtsgebiete in einem einheitlichen Gesetzbuch. Im Sinne des Vernunftrechts versuchte man Rechtssätze und Institutionen des geltenden Rechts aus Postulaten abzuleiten, diese in eine logische Beziehung zueinander zu setzen und in einer (möglichst) lückenlosen Systematik zu erfassen.
Beim Verfassungsbegriff unterscheidet man Verfassungen im formellen Sinne und solche im materiellen Sinne. Im formellen Sinne bedeutet Verfassung das geschriebene Gesetz, das die Staatsgewalt legitimiert, organisiert und bindet. Der Verfassungsbegriff im formellen Sinne beschreibt in erster Linie die der Verfassung zugedachten Eigenschaften der Form nach anhand von drei Merkmalen: deklarierte (großteils einheitliche) Verfassungsurkunde, Vorrang vor einfachem Recht und erschwerte Abänderbarkeit.
Verfassungsbegriff im formellen Sinne
Das wesentliche äußere, formelle Kriterium einer Verfassung ist die schriftliche Beurkundung. Diese sollte in möglichst als solche deklarierten Verfassungsurkunden, idealerweise in einer einzigen Urkunde, erfolgen, da dies zu Stabilisierung, Rechtssicherheit und Rechtsklarheit beiträgt. Die meisten Verfassungen werden in einer Verfassungsurkunde festgeschrieben oder können auch als Staatsgrundgesetze (z.B. Österreich, Frankreich) bzw. Grundgesetze (etwa Schweden und Norwegen, BRD) oder Verfassungen mit dem Charakter einer Kompilation von Verfassungsgesetzen proklamiert werden, die bis ins Mittelalter zurückreichen (etwa Großbritannien). Letztere Form wird auch als „ungeschriebene“ Verfassung bezeichnet.
Ein weiteres formelles Kennzeichen der Verfassung ist ihr Vorrang gegenüber anderen Rechtsnormen: Die politischen Revolutionen, die den Konstitutionalisierungsprozess in den 13 amerikanischen Kolonien bzw. in Frankreich einleiteten, forderten eine rechtliche Beschränkung der Handlungsfreiheit der Staatsorgane. Daraus lässt sich der Vorrang der Verfassung vor anderen Normen schlussfolgern, was erstmals nach der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung 1776 umgesetzt wurde. Allerdings argumentierte bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts der englische Richter Sir Edward Coke (1552–1634) mit der Vorrangigkeit des common law – des richterlich aufgrund der Gleichheit entwickelten Rechts – vor dem Parlamentsgesetz Folgendes: „Und es ergibt sich aus unseren Büchern, dass das Common Law in vielen Fällen Gesetze beeinflusst und sie manchmal als gänzlich unwirksam beurteilt.“
Schließlich hat der Supreme Court in den USA in der bahnbrechenden Entscheidung Marbury versus Madison 1803 den Geltungsvorrang der Verfassung vor dem Gesetz festgelegt. Dieses Urteil erwies sich als richtungsweisend für zahlreiche europäische Staaten. Jedenfalls kann man den Vorrang der Verfassung vor anderen Normen als gemeineuropäisches formelles Element der Verfassung bezeichnen, mit Ausnahme etwa von Großbritannien und Malta.
Mit diesem Prinzip eng verwoben, sichert die erschwerte Abänderbarkeit von Verfassungen bzw. Verfassungsbestimmungen – etwa durch erhöhte, strengere Anwesenheits- und Abstimmungsregelungen bei Parlamentsbeschlüssen – eine Umgestaltung der Grundordnung des Staates ohne entsprechend breiter, demokratisch legitimierter Basis ab.
Verfassungsbegriff im materiellen Sinne
Verfassung im materiellen Sinne beschreibt die jeweilige inhaltliche Ausgestaltung der Verfassung als einer Staatsgrundordnung, vornehmlich in organisatorischer Hinsicht (z.B. Bundes- oder Einheitsstaat, konstitutionelle Monarchie, Republik, präsidiale oder parlamentarische Demokratie). Typisch sind liberale Grundrechte, Gewaltenteilung, d.h. Begrenzung der Macht des Monarchen und Teilhabe des Volkes am Staatshandeln, also an den drei Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative: „Die Verfassung des Staates umfasst demnach in der Regel die Rechtssätze, welche die obersten Organe des Staates bezeichnen, die Art ihrer Schöpfung, ihr gegenseitiges Verhältnis und ihren Wirkungskreis festsetzen, ferner die grundsätzliche Stellung des Einzelnen zur Staatsgewalt“ (Georg Jellinek).
Die Legislative übte der Herrscher gemeinsam mit dem Parlament aus, wobei Letzteres meist nicht dem Monarchen gleichrangig war; im Gegenteil – (nur) der Monarch besaß das Recht der Einberufung und Absetzung des Parlaments, das absolute Vetorecht und das Gesetzesinitiativrecht, was vor allem für die frühkonstitutionelle Phase galt. In der Gesetzgebung bleibt das Parlament auch späterhin an die Mitwirkung und Zustimmung des Monarchen gebunden, etwa in Form des aufschiebenden (suspensiven) Vetos. Das Parlament wurde und wird in Europa nach britischem Vorbild größtenteils in das Zweikammersystem geteilt: Oberhaus und Unterhaus, Senat und Abgeordnetenkammer, abgeleitet aus der Trennung von Adel und Volk. Die Wahl der Volksvertreter erfolgte durch Zensus- und Bildungssystem – also Wahlberechtigung nach Steuerleistung bzw. Bildung der (männlichen!) Wähler – und auf der Basis eines Dreiklassensystems. Durch dieses Wahlrecht, z.B. in Preußen praktiziert, werden die Wähler entsprechend ihrer Steuerleistung in Klassen eingeteilt. Dies steht im Widerspruch zum Grundsatz der Stimmengleichheit, da jener Wähler mit höherem Steueraufkommen mehr politischen Einfluss besaß.
Der Einfluss des Monarchen auf die Exekutive, die er bis zur Einführung von Verfassungen alleine ausübte, blieb zunächst im Frühkonstitutionalismus weiterhin groß. In dieser Staatsfunktion wurde der Monarch durch die Gegenzeichnungspflicht durch verantwortliche Minister begrenzt, aber auch durch die Selbstverwaltung, etwa im Bereich der Gemeindeautonomie.
Den größten Einfluss büßte der Monarch im Bereich der Judikative ein: Wenngleich er kraft Verfassung verpflichtet wurde, die Richter zu ernennen, übten diese ihr Amt in vollständiger Unabhängigkeit aus. In der Justiz – besonders im Bereich der Strafgerichtsbarkeit von allgemein kontrollierender Bedeutung – hatten die Verhandlungen nunmehr öffentlich und mündlich stattzufinden. Durch die Geschworenengerichtsbarkeit nahmen Volksvertreter an der dritten Gewalt teil und sicherten so auch deren Unabhängigkeit ab.
Verfassung als Begrenzung der staatlichen Macht des absolutistischen Souveräns
Die Frage, warum ein Staat eine Verfassung braucht, lässt sich in erster Linie mit dem Argument der Begrenzung der staatlichen Macht des Souveräns beantworten. Bis zur Einführung der modernen Verfassungen hatten sich zunächst die Ansichten über die Gesetzgebung in Europa verändert, etwa hinsichtlich der Frage der Souveränität: Verstand man diese während des Mittelalters als Gottesgnadentum (dies kommt in Urkunden mit Verwendung der Formel „Nos (…) Dei Gratia“ zum Ausdruck), so führte in England beispielsweise die Glorreiche Revolution (1688) zur Anerkennung der Souveränität des Parlaments durch den Monarchen, in Kontinentaleuropa zur Vereinheitlichung der durch das Gesetz gebundenen Rechtsprechung des Monarchen. Zur Frage der Souveränität genügte nicht mehr die Rückbesinnung und die Berufung auf das alte, unantastbare Recht, es reichte auch nicht das göttliche, natürliche und positive Recht aus, es musste eine andere „Norm“ geschaffen werden, durch die der Monarch gebunden werden konnte. Die Verfassung erfüllte diese Forderung, der Souverän ist an sie gebunden, durch sie in der Machtausübung beschränkt. Verfassung bedeutet demnach eine klare Absage an den absoluten Herrscher!
Trotz Verfassung blieb jedoch die Frage der Staatsräson ungeklärt: Es musste eine Instanz geben, die sich in Ausnahmefällen (Gefahr in Verzug) über Rechtsschranken hinwegsetzen konnte. Diese Funktion wurde dem Monarchen als Souverän zuerkannt. Er definierte, was für das Gemeinwohl erforderlich schien, und setzte sich damit politisch durch.
Eine Verfassung zielt weiters auf die Verrechtlichung und Organisation von Herrschaft hin und bekommt daher eine Ordnungsfunktion. Deren Garantien bilden Gewaltenteilung und rechtsstaatliche Sicherung einschließlich der, ja insbesondere durch die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit, wodurch die Verfassung zur inneren Friedenssicherung und Stabilisierung eines Staates beiträgt.
Eine weitere wesentliche Funktion von Verfassung bilden inhaltliche Weisungen, etwa durch Nennung von Staatszielbestimmungen (z.B. Sozialstaatlichkeit, Umweltschutz) und Grundrechten (wie Freiheit der Person und des Eigentums). Staatsbürgerschaft, Wahlrecht, die Nennung von spezifischen Staatssymbolen etc. haben auch eine Integrationsfunktion, im Sinne der (auch emotionalen) Bindung der Einzelperson an „ihren“ Staat.