Читать книгу Verfassungsgeschichte Europas - Anita Prettenthaler-Ziegerhofer - Страница 9
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ОглавлениеVerfassung Quelle: Niklas Luhmann, Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, in: Rechtshistorisches Journal 9, Frankfurt/Main 1990, 176, 193
Kaum eine der vielen Errungenschaften moderner Zivilisation ist so sehr das Ergebnis absichtlicher Planung wie die Verfassungen, mit denen sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts die modernen Staaten ausstatten. (…) Juristen werden Verfassungen eher als Gegenstand planmäßiger Gestaltung ansehen, auch wenn sie heute gerne zugeben, dass dies nicht ein einmaliger Vorgang sein kann, sondern durch Interpretation und gegebenenfalls durch Verfassungsänderung nachgeplant werden muss.
Im europäischen Bewusstsein gelten Verfassungen nicht nur als Einrichtungen des Rechtssystems, sondern auch, ja vor allem, als Einrichtungen des politischen Systems. Auch das hat seine Berechtigung. Rechtssystem und politisches System sind und bleiben jedoch verschiedene Systeme. Sie folgen verschiedenen Codes, nämlich dem von Recht/Unrecht auf der einen Seite und dem von Macht/Ohnmacht auf der anderen.
Europäistik
Der vorliegende Band ist nicht im Verständnis einer nationalen Geschichtsschreibung zu lesen, sondern im Verständnis der „Europäistik“ (Wolfgang Schmale). Dieser terminus technicus aus der Linguistik wird seit der Mitte der 1970er verwendet. Damit versucht man jenen Vorgang zu benennen, der seit dem europäischen Integrationsprozess eingesetzt hat, nämlich den „European turn“ in den Geistes- und Kulturwissenschaften. Europäistik schafft somit einen neuen Wissenschaftszweig: Es geht darum, das gemeinsame Europäische multidisziplinär darzustellen – ohne den Schwerpunkt auf die Entwicklung von und in Nationalstaaten zu legen. Wenngleich die jeweiligen Staatstheoretiker nicht das genuin Europäische vor Augen hatten, sondern ihre Staatstheorien immer aufgrund der Kenntnisse der Rechtsverhältnisse und des Rechtsverständnisses ihres Landes formulierten, entwickelte sich daraus ein europäisches Gemeingut – wurden doch ihre Staatstheorien in allen Verfassungsstaaten Europas rezipiert. Die Aufklärung etwa stellt eine typisch europäische Signatur dar. Die Feststellung von Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) aus den Considérations sur le gouvernement de Pologne (1770/71) bestätigt dies anschaulich und eindrucksvoll: „Es gibt heute keine Franzosen, Deutschen, Spanier und selbst keine Engländer mehr, was man auch sagen möge, sondern nur noch Europäer.“ Damit bringt Rousseau nicht nur die europäische Dimension der Aufklärung zum Ausdruck, sondern verweist auch auf die europäischen, transnationalen Netzwerke der Aufklärer.
Aufklärerisches Gedankengut wird als europäisches Gemeingut verstanden. Ausgehend von den Niederlanden, über England und Frankreich überzog es Gesamteuropa und wurde im Zuge bzw. als Folge der Französischen Revolution in die entstehenden (National-)Staaten implementiert. So muss vom Europäischen auf das Nationale geschlossen werden, um dann das gemeinsame Europäische darzustellen. Diese Vorgangsweise funktioniert nur unter Berücksichtigung der politischen Nationalgeschichten, durch Verknüpfung der politischen Staatengeschichte mit dem Konstitutionalisierungsprozess.
Eine europäische Staaten- und Verfassungsgeschichte zu schreiben, stellt ein komplexes Unterfangen und eine Herausforderung an die Wissenschaft dar. Dies umso mehr, um mit Peter Cornelius Mayer-Tasch zu sprechen, als eine vergleichende Darstellung durch den weitgehend divergierenden Formalcharakter der europäischen Verfassungen erschwert wird.
Allgemeine Darstellung der gesamteuropäischen Verfassungsentwicklung, des Verfassungsvergleichs
Nationale Rechtsgeschichten beinhalten meist nur die Entwicklungsgeschichte des Konstitutionalismus des jeweiligen Landes – großteils äußerst detailliert aufbereitet oder auf einen bestimmten Schwerpunkt konzentriert, wie etwa Staatsform, Grundrechtsentwicklung, Wahlrecht und/oder basisdemokratische Mitbestimmung etc. Eine allgemeine Darstellung der gesamteuropäischen Verfassungsentwicklung in einer konzisen Form ist bisher noch nicht erfolgt.
Der oftmals konstatierte Mangel eines Vergleiches europäischer Verfassungen wird durch die jüngst erschienenen Publikationen allmählich behoben. Hier sei etwa auf das Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte verwiesen, das im Auftrag des Archivs der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung und des Dimitris-Tsatsos-Instituts für Europäische Verfassungswissenschaften der Fern-Universität in Hagen unter der Federführung von Werner Daum herausgegeben wird. Mittlerweile liegen zwei Bände vor, in denen eingehend die Verfassungsentwicklung im Europa des 18. Jahrhunderts bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts aufbereitet wird. Darüber hinaus seien auch die wesentlichen Quellensammlungen genannt: Etwa das Standardwerk von Dieter Gosewinkel/Johannes Masing mit einer prägnanten Einleitung über die europäische Verfassungsentwicklung. Die dort abgedruckten Verfassungen dienten als Vorlage sämtlicher in diesem Band zitierten Verfassungen. Die Europäische Verfassungsgeschichte von Dietmar Willoweit/Ulrike Seift enthält nach einer konzisen Einleitung eine Sammlung von Verfassungsdokumenten in chronologischer Epochisierung. Weitere Vorarbeiten leisteten etwa Fritz Hartung oder Otto Hintze mit einigen Beiträgen; Peter Mayer-Tasch oder Adolf Kimmel/Christiane Kimmel liefern einen Überblick über die europäischen Verfassungen, gehen aber auf die jeweilige Landesgeschichte nicht explizit und tiefgehend ein. Bei Albrecht Weber findet man einen rechtshistorischen Überblick sowie den Fokus der Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Entwicklung im Vergleich mit der Europäischen Union.
Politische Staatengeschichte und Verfassungsentwicklung
Eine kurze und prägnante Darstellung des europäischen Konstitutionalisierungsprozesses liegt bislang noch nicht vor. Ein Grund dafür könnte in der Auffassung liegen, dass die Verfassungsentwicklung nur unter Berücksichtigung der jeweiligen Staatengeschichte sinnvoll erscheint. Dies verlangt aber, die Verfassungsentwicklung um die jeweilige Staatengeschichte zu erweitern. Bereits Georg Jellinek hat darauf hingewiesen, dass eine komparatistische Verfassungsgeschichte nur dann Sinn macht, wenn man Staaten mit geschichtlich gemeinsamem Boden miteinander vergleicht: