Читать книгу Die Klippen von Bridwell - Anke Bütow - Страница 12

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Am frühen Nachmittag war sie schon wieder in Glenton. Die Stadt hatte sie nur eine halbe Stunde lang ausgehalten. Die vielen Menschen, die sich durch die Fußgängerzone schoben! Überall wurden Pommes frites, Würstchen mit Ketchup gegessen, es roch nach schlechtem Fett, in jedem Geschäft laute, dröhnende Popmusik, überall dieselben Dinge auf den Kleiderständern der Kettengeschäfte. Kleider gab es gar nicht, hauptsächlich Glitzersachen und schlechte synthetische Stoffe. Vielleicht war sie nur in der falschen Straße, aber sie wollte einfach wieder weg aus diesem Gedränge.

In Glenton hatte sie noch eine halbe Stunde Zeit, bevor sie Harry abholen konnte. Eigentlich waren die kleinen Geschäfte doch ganz hübsch hier. Sie ging in eine einladend aussehende Boutique. Ein angenehmer Duft von aromatischem Tee kam ihr entgegen, und leise klassische Musik war im Hintergrund. Vivaldis Jahreszeiten? Er kann nichts dafür, dachte sie. – Es gab nicht viele, aber hübsche, feine Sachen. Ein Pullover in Smaragdgrün fiel ihr auf. Sie probierte ihn an und drehte sich vor dem Spiegel, leider nicht in der Kabine, sondern in dem kleinen Verkaufsraum, der von der Straße einsichtig war.

Jemand klopfte an die Scheibe. Es war Edward. Und schon war er im Laden.

„Darf ich, Kate?“, fragte er, aber er ließ ihr kaum Zeit zu antworten. Er lächelte sie an, musterte sie, nahm eine maigrüne Wolljacke aus dem offenen Regal und gab sie ihr. Sie war einfach, hatte aber besondere Akzente: Jeder der auffälligen kleinen Knöpfe hatte eine andere Farbe.

Kate zog sie an, es war ganz weiches, der Haut schmeichelndes Material.

„Das ist es!“, sagte Edward.

Die Verkäuferin sagte: „Edward hat völlig recht. Die ist wie für Sie gemacht.“

Kate wunderte sich, dass Edward und die Verkäuferin sich zu kennen schienen. Aber in einem so kleinen Ort war das ja anzunehmen. Sie nahm die Jacke, ohne lange zu überlegen, behielt sie gleich an, und sie freute sich über Edwards Einmischung.

Zusammen holten sie Harry von der Segelschule ab. Harry entschied sich dafür, in Edwards Auto nach Dale House zurückzufahren.

In ihrem Zimmer betrachtete Kate sich im Spiegel – die Jacke stand ihr wirklich, und sie fühlte sich wohl darin. Von der Weichheit ging fast Zärtlichkeit aus. Das Grün hatte die Farbe junger Birkenblätter, und sie fand – vielleicht zum ersten Mal – das Rot ihres Haars eigentlich ganz passend zu ihrer Haut, ihren Augen und zu dieser Jacke. Freilich nichts für die Arbeit im Gewächshaus, aber das musste ja nicht sein.

Ihr Blick fiel auf ihren Nachttisch. Hatte sie nicht ihr Amulett dort hingelegt? In diesem Augenblick rief Harry sie nach unten und sagte, er würde Edward noch bei einer Arbeit helfen.

„Kate, ehrlich gesagt, könnte ich gerade ein bisschen männliche Hilfe bei einer Arbeit brauchen. Aber ich frage Sie natürlich.“

„Kann ich vielleicht auch helfen?“

„Tut mir leid“, sagte Edward, „reine Männersache. Zäune für die Schafe.“

„Gibt es hier denn wirklich noch so viele Wölfe?“

„Die Autos von heute sind die Wölfe von gestern.“

„O ja, das stimmt wohl, jedenfalls für die Schafe“, sagte Kate, aber sie dachte, als sie wieder durch das geräumige Treppenhaus nach oben ging: Man kann auch mit dem Auto vorm Wolf flüchten. Aber war sie hier eigentlich sicher? Das Treppenhaus kam ihr wieder dunkler und kälter vor als einige Minuten zuvor. Da war doch ein großes Fenster zum Garten auf dem Treppenabsatz. Warum nur bestand es aus kleinen dunkelfarbigen Scheiben, anstatt jedem den Ausblick zum Garten zu gönnen und der Halle Sonnenlicht zu geben?

Was hatte die Kälte am Nachmittag auf sich? Und warum hatte Jane so eigenartig, fast unhöflich reagiert?

Sie wollte gleich das Amulett suchen, vielleicht war es ja nur heruntergefallen. Es lag jetzt da – auf dem Nachttisch wie immer, nur auf einem frischen Leinendeckchen, das Jane dort in der Zwischenzeit hingelegt haben musste. Vielleicht hatte sie sich ja geirrt.

Harry war mit Sir Gordon und Edward zu den Schafen unterhalb von Dale House gelaufen. Edward hatte ihm Gummistiefel gegeben und eine braune Wachsjacke, und sie hatten Fellow, den Border Collie, mitgenommen und suchten in der Herde nach Mutterschafen. Die Zwillingsmütter mussten nämlich samt ihren Lämmern in ein gesondertes Gehege gebracht werden, wo sie Zufütterung erhielten.

Harry erzählte seiner Mutter am Abend mit leuchtenden Augen, wie er die Aufgabe bekommen hatte, eines der winzigen Zwillinge zum neuen Gehege zu tragen. Edward hatte mithilfe von Fellow das Mutterschaf geführt, und Sir Gordon hatte das andere Lämmchen genommen.

„Und wie ist es, so ein Lämmchen zu tragen?“, fragte Kate.

„Sehr ungewohnt. Erst hat es sehr gezappelt, und ich musste aufpassen, dass es mir nicht vom Arm springt, aber dann war es ganz ruhig, aber natürlich hat es unentwegt gem… – wie nennt man das?“

„Oh, das weiß ich auch nicht, Harry, ich glaube, ‚blöken‘, aber das passt eigentlich nicht für winzige Lämmer, jedenfalls rufen sie wohl nach ihrer Mutter, und die erkennt ihr Lämmchen an der Stimme.“

„Ich glaube, ich sehe jetzt jeden Tag mal nach den Schafen und auch nach den Zäunen, das muss eigentlich täglich gemacht werden.“

Und er erzählte von Fellow, der im offenen Gatter streng aufpasste, dass kein Schaf aus dem Gehege lief.

„Wir haben nur noch drei Tage“, sagte Harry. „Am liebsten würde ich in den nächsten Ferien wiederkommen, hierher, und dann mit dem Segeln weitermachen.“

„Ich denke, dein Vater wird für die Ferien Pläne machen, die dir gefallen.“

„Kann sein, aber vielleicht kommt ihm dann wieder was dazwischen, und hier finde ich’s auch gut“, sagte Harry. „Bestimmt könnten wir dann richtig segeln, über den ganzen See – wir machen immer nur Übungen und müssen die immer wiederholen.“

„Ich könnte mir vorstellen, dass Edward das am letzten Tag mit euch unternimmt“, sagte Kate, „das wird ihm bestimmt selbst Spaß machen. Frag ihn doch! – Wenn du das wirklich willst, bin ich auch dafür, ich bin hier gern. Wir beide sind zwar so plötzlich irgendwohin gefahren, aber es war richtig so“, sagte Kate.

„Wusstest du, dass er auch Flugunterricht gibt? Er ist ein richtiger Fluglehrer und macht für Touristen Rundflüge über die Lakes hier.“

„Wie ich dich kenne, hast du dich schon angemeldet, Harry?“

„Ich hab mich erkundigt: Man kann mit siebzehn schon Flugstunden nehmen, das ist in zweieinhalb Jahren. Und am liebsten würde ich das hier in Glenton bei ihm tun.“

„Harry, das kostet ein Vermögen. – Und außerdem hätte ich Angst um dich.“

„Also, um das gleich zu beantworten: Ein Flugschein kostet um die 8 000 Pfund, das ist sehr viel. Aber wenn ich aufs Surfen verzichte …? Und von wegen Angst: Auf der Straße passieren mehr Unfälle als in der Luft.“

„Zuallererst ist deine Schule wichtig. Und deine Großeltern erwarten einen ausgezeichneten Abschluss, Harry.“

„Ach, die Schule! Diese Freiheit hier kommt mir so vor, als wäre ich normalerweise im Gefängnis. – Aber ich weiß schon, ich muss …“

„Nein, Harry, du musst nicht. Es gibt viele Wege, auf denen man ein vernünftiger Mensch werden kann. Das muss nicht unbedingt St. George sein.“

„Wirklich nicht, Mum?“

Kate überlegte. Ist „vernünftig sein“ das Ziel? Nein, eigentlich nicht. Vielmehr an einem Ort zu sein, bei dem man das Gefühl hat, dass man genau da an der richtigen Stelle ist, mit den Menschen zusammen zu sein, die zu einem gehören, und die Arbeit zu tun, für die man geschaffen ist …

„Nein – wir werden schon herausfinden, was für dich gut ist. Ich helfe dir dabei. Aber man muss sich natürlich auch manchmal schwierigen Herausforderungen stellen. Vielleicht gehört St. George dazu, vielleicht aber auch nicht.“

Es war schon spät, und Kate lag im Bett und dachte an Ron. Wo mochte er sein? Dachte er liebevoll an sie? Wie würde er Dale House finden? Sie konnte ihn sich hier nicht vorstellen, nein, er passte nicht gut hierhin. Ihr Handy lag in Reichweite. Wenn Ron anrief, wollte sie es schnell finden können. Sie wünschte sich seinen Anruf, und sie zögerte noch, die Nachttischlampe auszuknipsen.

Als das Telefon klingelte und auf dem Display „Ron“ stand – aber wer sollte es auch sonst sein? –, meldete sie sich sofort. „Darling, schön, dass du anrufst. Bei dir alles gut?“

„Ja, alles in Ordnung, wie immer. – Aber ich habe gehört, dass ihr nicht zu Hause seid?“

„Ja, wir sind in den Lake District gefahren. Harry wäre enttäuscht gewesen, wenn wir überhaupt nichts unternommen hätten. – Und die Landschaft ist wunderschön!“

„Cliff Cottage liegt ja nun auch nicht gerade im Industriegebiet!“

„Natürlich, Ron. Aber für Harry – für uns beide – ist es doch eine schöne Abwechslung.“

„Wenn ihr gewartet hättet, wäre ich vielleicht mitgekommen.“

„Aber du hattest doch keine Zeit, und Harrys Ferien sind doch nur eine Woche.“

„Ich finde, du hättest nicht so einfach wegfahren sollen“, sagte Ron. „Schließlich besprechen wir doch sonst solche Pläne.“

„Darling, du hattest so plötzlich abgesagt, da blieb doch keine Zeit! – Mach dir keine Sorgen, Ron, Harry und mir geht es gut hier. Du sorgst dich immer so um uns. Aber Harry segelt, und ich bin faul und lese und kaufe überflüssige Dinge.“

„Wie bitte? Das tust du doch sonst nicht!“

„Nur eine Wolljacke, Ron.“

„Na ja, das ist völlig in Ordnung. – Wie geht es Harry?“

„Gut – er freut sich, dass er Segeln lernt, und er hat viel Spaß.“

„Schlaf gut, Darling. Ruf mich an, wenn du wieder zu Hause bist.“

„Wann kommst du wieder nach Bridwell?“

„Wenn es nach mir ginge, nächstes Wochenende, aber du weißt ja … es geht ja nicht. Aber wir verabreden, wann du zu mir kommst, und wir gehen in London zusammen aus!“

„Darauf freue ich mich. Aber wir müssen auch nicht ausgehen. Hauptsache, wir sind zusammen, Ron!“

„Ja, natürlich, Kate. Gute Nacht.“

Sie schlief mit einem Lächeln ein.

Mitten in der Nacht wachte sie auf. Sie hatte etwas gehört. Das Geräusch kam vom Fenster. Sie konnte im Mondlicht sehen, dass das große Erkerfenster aufgesprungen war. Ein kalter Wind wehte durch das Zimmer bis an ihr Bett. Es war wie eine einzige kräftige Böe. Sie tastete nach der Nachttischlampe und knipste sie an. Dann zog sie ihren am Fußende des Bettes liegenden Morgenmantel an und ging langsam zum Fenster. Sie bemühte sich, nicht hinauszusehen, sondern es einfach wieder zu schließen. Das Fenster war jetzt fest verschlossen, aber es war noch kalt in ihrem Zimmer. Sie band den Gürtel fester um ihre Taille.

Wieso konnte es aufspringen? Vielleicht hatte sie den Griff am Abend nur flüchtig und nicht richtig hinter den Zapfen geführt. Sie mochte sich die Mechanik jetzt nicht ansehen. Sollte sie die Tür zu Harrys Zimmer öffnen? Aber dann würde sie ihn vielleicht in Gefahr bringen. – Wovor eigentlich? Und doch – sie musste einfach nach ihm sehen. Sie öffnete seine Tür, und ein fahler Lichtschein aus ihrem Zimmer fiel auf sein Bett. Sein Fenster mochte sie nicht kontrollieren, davor hatte sie plötzlich Angst. Er schlief ruhig. Sie schloss seine Tür und ging wieder zu sich hinüber und legte sich hin. Dann stand sie noch einmal auf und ließ Harrys Tür leicht geöffnet, wie früher, als Harry klein war.

Sie war hellwach. An Schlafen war nicht zu denken. Sie war zu beunruhigt, wusste aber nicht, weswegen. Sollte sie Edward wecken? Aber sie wusste nicht, wo er schlief. Und Jane? Sie schlief ja gar nicht hier im Haus. Gab es hier eigentlich so etwas wie die Frau des Hauses?

Die Begebenheit in den Stables kam ihr wieder in den Sinn. Beim Frühstück wollte sie die Familie, die dort jetzt wohnte, gleich fragen, ob ihnen etwas aufgefallen war. Sie wollte es auf keinen Fall vergessen.

Kate blieb aufrecht im Bett sitzen. Es war immer noch kalt im Zimmer. Sie stand noch einmal auf und fasste den Heizkörper an. Er war warm. Sonderbar, dass das Zimmer so schnell kalt wurde, denn so lange war das Fenster ja nicht offen gewesen. Ins Treppenhaus wagte sie nicht zu gehen. Sie versuchte, sich durch Lesen abzulenken, es war ja ein Regal mit vielen Büchern da, und sie griff irgendeins heraus: Es waren Lord Byrons Gedichte, die ihr sehr vertraut waren. Einige hatte sie abgeschrieben und zu Hause an die Wände ihrer Küche geheftet.

Ihre Augen blieben bei zwei Zeilen haften, die sie immer wieder las:

Es leuchteten die stillen Fluten

Und die träumenden Winde ruhten.

Kate behielt ihren Morgenmantel im Bett an und wurde langsam wieder wärmer. Die beiden Gedichtzeilen machten sie innerlich ruhiger, aber nicht ganz. Die Morgendämmerung kam. Kate nahm die Silhouetten der Bäume durch einen Schleier wahr, und die Vögel fingen an zu singen. Eigentlich war es kein Singen, sann sie, es war eigentlich eine Art leiser, vielfältiger Vogellärm. Kate drängte es, nach draußen an die Luft, in den Garten zu gehen. Um diese Zeit konnte sie es sicher in ihrem warmen Morgenmantel tun, es würde noch niemand aufgestanden sein und sie sehen. Sie öffnete die Tür, aber da war ein Hindernis, die Tür ging nur einen Spalt auf. Kate war beklommen. Was war das? Erst schloss sie die Tür wieder, stand in ihrem Zimmer und wusste nicht, was sie tun sollte. Aber sie hatte nicht mehr solche Angst wie in der Nacht, denn es war ja schon fast hell.

Sie drückte die Klinke noch einmal herunter. Vielleicht hatte die Tür sich nur verzogen und klemmte. Tun das aber zweihundert Jahre alte Türen? Die Tür ließ sich zwei Handbreit öffnen. Sie gab sich Mühe, ruhig zu bleiben und keine Angst aufkommen zu lassen. Das Treppenhaus war dunkler als ihr Zimmer. Sie drückte die Tür nicht gegen den Widerstand, sondern ließ ihre Augen sich erst an das Halbdunkel gewöhnen.

Durch den Türspalt sah sie nach unten. Auf dem Fußboden lag Fellow. Seinetwegen hatte sie die Tür also nicht öffnen können. Er sah zu ihr hoch, senkte den Kopf wieder, rührte sich nicht von der Stelle und schlief weiter.

Kate war beruhigt und legte sich wieder hin. Aber warum lag Fellow hier – wollte er auf sie aufpassen? Gehörte sie jetzt zu der Herde, für die er sich verantwortlich fühlte?

Die Klippen von Bridwell

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